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  Missbrauch: Ihre Glaubensfragen

Der Tagesspiegel
March 15, 2010

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/Kirche-Missbrauch;art1117,3058003

In Gottes Namen. Was tun mit den immer neuen Informationen? Die Hande zum Gebet falten? In den Scho? legen? Die Probleme anpacken? - Foto: Caro / Kaiser

Er hat sie getauft, getraut, ihre Toten beerdigt, ihre Beichten gehort. 21 Jahre lang war Peter H. Pfarrer in ihrem Ort, in Garching, Bayern. Und nun diese Vorwurfe. H. soll Kinder missbraucht haben. Eine Gemeinde sucht Antworten.

Die nuchterne Hallenkirche aus den 50er Jahren ist voll. Nicht nur die Kirchenbanke sind besetzt, auch die Stuhle am Rande und die Empore. Mehr als 300 Menschen sind gekommen. Hier in Oberbayern, in Garching an der Alz, in der Nahe von Altotting, hier, wo Papst Benedikt XVI. gro? geworden ist, „Traumland meiner Kindheit“, nennt er die Gegend. Katholische Feste und der sonntagliche Kirchgang gehoren hier zum Leben wie Schweinebraten und Starkbier.

Doch nun verandert sich etwas. Seit sieben Wochen werden fast taglich neue Falle von Missbrauch in der katholischen Kirche bekannt, es gab sie im bayerischen Internat Ettal und bei den Regensburger Domspatzen und nun auch in Garching, es geht um Pfarrer H., und das tangiert auch die Munchner Bischofszeit von Joseph Ratzinger. Und spatestens jetzt ist klar: Die gro?te Krise der katholischen Kirche ist angekommen im Kernland des Katholischen.

Der Mann, der heute Papst ist, hat 1980 mitentschieden, dass ein gewisser Kaplan H. aus Essen nach Munchen kommen darf, um eine Psychotherapie zu absolvieren, nachdem er sich im Ruhrgebiet an Kindern vergangen hatte.

„Uber unsere Kirche ist eine gro?e Dunkelheit gekommen und gro?e Schuld“, predigt der junge Pfarrer Georg Eckl vorne am Altar in der Herz Jesu Kirche in Garching an der Alz. Es ist Sonntag, kurz nach zehn Uhr. Ein paar Tage zuvor hatte ihn das Ordinariat in Munchen vorgewarnt, dass wohl die Medien in Kurze uber die Geschichte seines Vorgangers schreiben wurden.

Welche Geschichte?

Schon kurz nachdem Pfarrer H. seine Therapie in Munchen angefangen hatte, wurde er auch wieder in einer Gemeinde als Seelsorger eingesetzt. Der damalige Munchner Generalvikar hatte dies so verfugt und dafur jetzt die „volle Verantwortung“ ubernommen. H. verging sich erneut an Kindern und wurde 1986 zu einer Bewahrungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Ein Jahr spater versetzte ihn das Bistum nach Garching, wo er 21 Jahre lang blieb. Er taufte die Menschen in der Gemeinde, er traute sie, er beerdigte ihre Toten und horte ihre Beichten. Er war beliebt. Dann lie? 2008 der heutige Munchner Bischof Reinhard Marx erneut ein forensisches Gutachten uber H. erstellen, Inhalt geheim naturlich, aber als es vorlag, wurde H. versetzt – nach Bad Tolz in die Tourismusseelsorge.

Auch hier kam er gut an. Seine Gottesdienste seien so gut besucht gewesen wie kaum andere, sagen sie in Bad Tolz. Und dass nun wegen der Berichte viele nachfragen. Einheimische vor allem. „Sie bringen die Berichte nicht mit der Person zusammen, die sie kennengelernt haben“, sagt ein Mitarbeiter.

Wieder dieses Wie-kann-das-sein. Diese Risse, dieses Wanken. Gewissheiten, auch dafur stehen Glaube und Kirche. Doch die Zeit der Gewissheiten scheint vorbei. Uberall nur noch Fragen.

Morgen findet in Bad Tolz eine Konferenz der Seelsorger statt, zu der auch jemand aus Munchen kommt. Es soll beschlossen werden, wie mit dem Fall Peter H. umgegangen wird.

Wie umgehen mit dem Unglaublichen, das fragte sich in Garching auch Pfarrer Georg Eckl, 37, der Nachfolger von H. „Was soll ich tun? Wie mit den Gemeindemitgliedern sprechen?“ Trosten? Warnen? Verurteilen?

Im Abendgottesdienst am Samstag dann hat er die Pressemitteilung verlesen, die seit Freitag auf der Internetseite des Bistums steht und alle bislang bekannten Details zum Fall auflistet und die Entscheidung, den Pfarrer wieder in der Seelsorge einzusetzen, als „schweren Fehler“ verurteilt. Alle horten stumm und entsetzt zu. „Wie eine Kreuzigung“ sei das gewesen, sagt Eckl. Ihm war unwohl danach. Am Sonntag entscheidet er sich fur einen anderen Weg. „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, predigt er nun und erzahlt die Geschichte vom verlorenen Sohn. Es ist der fur den Sonntag vorgegebene Predigttext. Er passt. Pfarrer Eckl entschuldigt sich „bei allen Opfern von Missbrauch und Gewalt“. Stille. Die gro?e Glocke lautet.

Eckl ist verunsichert: „Darf ich einem Kind uberhaupt noch uber den Kopf streichen? Was ist, wenn sich ein Kind im Kindergarten auf meinen Scho? setzt?“

Der ganze Pfarrersstand steht nun unter Verdacht. Und sind nicht an diesem Sonntag schon viel weniger Glaubige in die Kirche gekommen als sonst?

Nach dem Gottesdienst gibt es im Gemeindesaal „Fastensuppe“. Vielleicht hundert Menschen loffeln selbstgekochte Suppe und reden uber Pfarrer H. Als er vor eineinhalb Jahren gehen musste, hatten sie ans Bistum geschrieben und gebeten, dass er bleiben durfe. Nach seinem Abschiedsgottesdienst gab es Tranen. H. war ein „Pfarrer zum Anfassen“, einer mit Ausstrahlung, der gut mit Jugendlichen konnte. Im Flur im Gemeindehaus hangen zwei Fotos, die den rundlichen Pfarrer inmitten von dutzenden Ministranten zeigen.

„Unser Herr Pfarrer ein Kinderschander?“ Eine Frau in den Funfzigern, seit vielen Jahren im Pfarrgemeinderat, will es nicht glauben. Ihre beiden Sohne seien zehn Jahre Messdiener bei ihm gewesen. „Soll ich die jetzt fragen, ob da was war?“, sagt sie. Andererseits: Will sie mit der Ungewissheit leben? Es musse nun alles aufgeklart werden, klar. Aber was bedeutet das fur die eigene Geschichte? Wie umgehen mit der neuen Unsicherheit?

„Hatte man den H. nicht einfach noch drei Jahre in Ruhe lassen konnen?“, fragt dagegen ein alterer Mann. Dann ware H. in den Ruhestand gegangen. Diese ganze Geschichte macht ihn wutend. Sein Gesicht ist gerotet. „Seine Verfehlungen liegen uber 20 Jahre zuruck, er ist verurteilt worden, damit ist es doch gut.“ Der Pfarrverband Garching stehe heute super da, 5000 Mitglieder. Das hatten sie nicht geschafft ohne den Pfarrer H. Die Presse bausche auf, schreibe nur Negatives, wolle die Kirche kaputt machen. „Das Vertrauen, das jetzt kaputtgeht“, sagt er noch, „das lasst sich nicht mehr so schnell wiederherstellen, das wird auch die sakulare Gesellschaft noch bereuen.“

Eine andere Frau sagt, dass es ja nicht so gewesen sei, dass keiner was gewusst habe. Dass Pfarrer H. 1986 zu ihnen strafversetzt wurde, sei bekannt gewesen. Auch gab es immer Geruchte, dass das mit Missbrauch zu tun hatte. An der Kirche habe es Schmierereien gegeben, die darauf angespielt hatten. Eine Frau habe den Pfarrer H. ganz konkret gefragt, ob er was mit Kindern gehabt habe, ob er verurteilt worden sei. Das habe H. abgestritten. Sie lebe schon lange mit der Ambivalenz, dass sie gerne in die Gottesdienste gehe, der Glaube ihr viel bedeutet und dass es trotzdem Pfarrer gibt, die sich an die Dinge nicht halten, die sie predigen.

Wahrend in Garching Suppe gegessen wurde, kam es 150 Kilometer weiter in Bad Tolz zu Tumulten im Gottesdienst. Als dort ein Pfarrer H.s Verfehlungen ansprach sprang ein Mann auf, sagte, dass er das nicht horen konne, andere riefen „Halt den Mund“, einige gingen.

Am Montag ist von den katholischen Pfarrern in Bad Tolz keiner zu erreichen. Selbst die Notrufnummer fur Sterbefalle ist abgeschaltet. Das Bistum erklart, dass Pfarrer H. vom Dienst suspendiert wurde, weil er sich in Bad Tolz nicht an die Auflage gehalten hat, keine Kinder- und Jugendarbeit mehr zu machen. Hinweise auf Missbrauch nach 1986 wurden weiterhin nicht vorliegen.

In Munchen tritt am Montagnachmittag der Personalchef des Bistums zuruck. Pralat Josef Obermaier gesteht „gravierende Fehler in der Wahrnehmung seiner Dienstaufsicht“ ein.

Der Papst kundigt an, er werde sich „bald“ au?ern zu den Missbrauchsfallen und „klare Ma?nahmen zur Aufarbeitung vorgeben. In einem Brief an die irischen Bischofe, die Anfang des Jahres tausendfachen Missbrauch in ihren Diozesen eingestehen mussten. Die Nachrichten aus Deutschland sollen in das Schreiben „einflie?en“, hei?t es im Vatikan.

Die Zeit der Unsicherheit wird so schnell nicht vorubergehen.

[summary]

He has married them, buried their dead and heard their confessions. For 21 years, Peter H. was a minister in Garching in Bavaria. And now it is alleged that H. abused children. This is a community seeking answers.

The sober hall from the 1950s is full. The pews are not only filled but the chairs on the edge and in the gallery are also full. More than 300 people came. Here in Bavaria, in Garching an der Alz, in the vicinity of Altoetting. Here is where Pope Benedict XVI grew up. He called it his childhood dream land. Catholic church here on Sunday and the celebrations are part of life, such as roast pork and stout.

But then something changed. For seven weeks and on an almost daily basis new cases of abuse in the Catholic Church are made known. Abuse existed at Bavarian Ettal, the Regensburg cathedral choir and now in Garching. It's about Peter H. and also has touched on the time of then-Munich Bishop Joseph Ratzinger. By now it is clear. The greatest crisis in the Catholic Church has arrived in the Catholic heartland.

The man who is now pope co-decided in 1980 that a certain chaplain from Essen must come to Munich to undergo psychotherapy after he abused children in the Ruhr region. George Eckl, a young pastor, stood at the front of the altar in Sacred Heart Church in Garching an der Alz and said a great darkness has come to the church along with a large debt.

A few days earlier he had been warned from the Munich diocese that the town would draw media shortly about the history of his predecessor.

What story?

Shortly after Pastor H. began his therapy in Munich, he was used again as a church pastor. The then-vicar-general of Munich said it was his full responsiblity. H. in 1986 abused again and was given a suspended sentence of 18 months. A year later, the diocese transferred him to Garching where he remained for 21 years. He baptized people in the community, he had their trust, he buried their dead and heard their confessions. He was popular. Then in 2008 the present Munich bishop, Reinhard Marx, once again had a forensic report on H. in which contents are secret. He was then transferred to Bad Tolz to serve in tourism industry.

Here too he was well-received. His services were well-attended.

A conference of pastors will be held tomorrow in Bad Tolz, which will also include someone from Munich. It is to be decided how to deal with the case of Peter H. They want to know how to deal with the issues, what to say and how to talk to members of the community.

 
 

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