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  "Wir Wissen, Dass Wir Bluten Mussen"

By Matthias Drobinski
The Sueddeutche
September 16, 2010

http://www.sueddeutsche.de/politik/katholische-kirche-missbrauch-und-entschaedigungen-wir-wissen-dass-wir-bluten-muessen-1.1000648

Stefan Kiechle, der neue Provinzial der Jesuiten, spricht uber sexuellen Missbrauch, Schuld und Suhne - und erklart, warum seine Ordensbruder nun selbst fur Entschadigungen der Opfer bezahlen wollen.

Er hat ein schweres Amt ubernommen. Seit dem 1. September ist Stefan Kiechle Provinzial der deutschen Jesuiten. Sein Orden ist Trager des Berliner Canisiuskollegs; dort war im Januar bekannt geworden, dass Patres in den achtziger Jahren Schulern systematisch sexuelle Gewalt antaten. Nun wollen die Jesuiten als erste Ordensbruder den Opfern eine Entschadigungsregelung anbieten.

"Der 'liebe' Gott ist uns lieber, der Boses einfach wegwischt. Aber es ist ja Boses geschehen - Tater haben Opfern schweres Leid zugefugt": Stefan Kiechle ist neuer Provinzial der Jesuiten. (© KNA)

SZ: Ein Missbrauchsopfer hat einmal uber die Jesuiten gesagt: "Sie mussen bluten". Denn auch Ihrem Orden gehorten Tater an. Wollen Sie nun "bluten"?

Kiechle: Wenn Sie so wollen: Ja, wir wissen, dass wir bluten mussen. Wir wollen die Opfer entschadigen. Es ist fur sie ganz wichtig, dass wir uns nicht nur entschuldigen, dass wir nicht nur endlich ihren Geschichten glauben, sondern dass wir auch materiell ein Zeichen setzen. Das wird uns weh tun, aber wir mussen nicht nur Schuld bekennen, sondern auch Genugtuung leisten.

SZ: Denn ohne Suhne kann die Schuld nicht vergeben werden.

Kiechle: Wir haben in der Kirche nicht mehr gerne von der Suhne gesprochen, zu sehr hat man fruher damit einen rachsuchtigen Gott verbunden, der ein blutiges Opfer verlangt. Der "liebe" Gott ist uns lieber, der Boses einfach wegwischt. Aber es ist ja Boses geschehen - Tater haben Opfern schweres Leid zugefugt, und die Opfer haben uber Jahrzehnte gelitten. Eine Theologie, die Schuld und Suhne ausklammert, nimmt die Freiheit und die Verantwortung des Menschen nicht ernst. Vielleicht war dieses falsche Verstandnis vom "lieben" Gott einer der Grunde, weshalb die Ubergriffe so lange zugedeckt blieben.

SZ: Man tut sich in der Kirche nicht weh, auch wenn es notig ware.

Kiechle: Das ist eine bittere Ironie an der Geschichte: Die Opfer, von denen sich viele von der Kirche abgewendet haben, erinnern uns an unser eigenes Thema, an Schuld und Suhne. Das Bose schlagt auf seinen Urheber zuruck, und dessen Reue ist nur wirkungsvoll, wenn er mit dem Leidenden mitleidet. Das ist der tiefere Sinn der Zahlungen.

SZ: Wer soll wie viel Geld bekommen?

Kiechle: Zunachst sind die Tater in der Pflicht. Aber die sind manchmal uneinsichtig, abgetaucht, krank, tot - und dann mussen wir als Orden dort stellvertretend Verantwortung ubernehmen, wo Ubergriffe glaubhaft gemacht werden, aber nicht mehr justiziabel sind. Der Orden ist ja selber auch schuldig geworden. Eine unabhangige Stelle soll entscheiden, wer Geld bekommen kann. Die osterreichische Bischofskonferenz hat ein Stufenmodell entwickelt, bei dem Opfer zwischen 5000 und 25.000 Euro erhalten sollen. Wir werden uns wohl gegen ein solches Modell entscheiden, weil wir nicht die Verletzungen, die entstanden sind, graduell bewerten wollen. Wir denken an eine Summe im vierstelligen Bereich.

SZ: Das klingt nach den 5000 Euro, die die osterreichischen Bischofe als Mindest-Entschadigung angeboten haben.

Kiechle: Das wird diskutiert, aber wir haben uns noch nicht entschieden.

SZ: Vielen Opfern ist das zu wenig.

Kiechle: Da wird es Enttauschungen geben, aber ich furchte, das konnen wir nicht vermeiden. Ich finde es aber auch richtig, dass wir einen eher symbolischen Betrag zahlen. Wir durfen nicht den Eindruck erwecken, Geld konnte ungeschehen machen, was den Opfern der sexuellen Gewalt widerfahren ist. So gesehen konnte ein gro?er Batzen Geld auch sehr billig sein: Wir kaufen uns frei, und alles ist wieder gut. Symbolisch hei?t: Die Geste, die wir anbieten, ist fur uns schmerzhaft. Aber sie bleibt klein und bruchstuckhaft, ist ein Zeichen unserer Ohnmacht angesichts des Leids.

SZ: Hei?t das nicht doch wieder: Mammon ist schnode, deshalb ist auch eine finanzielle Entschadigung schnode?

Kiechle: Nein. Geld ist auch eine Moglichkeit, Anerkennung und Respekt auszudrucken. Die symbolische Entschadigung, die wir anstreben, ist zugleich weniger und mehr als ein Schmerzensgeld: Die Summe ist geringer, das Zeichen moglicherweise aber nachhaltiger. Deswegen wollen wir auch nicht, dass die Summe aus einem anonymen Topf gezahlt wird. Es soll klar sein, dass das Geld von uns kommt.

SZ: Wie viele Opfer werden Sie entschadigen?

Kiechle: 200 ehemalige Schuler haben sich bei uns gemeldet und gesagt, dass ihnen sexuelle Gewalt angetan wurde, dass Grenzen verletzt wurden. Wie viele von ihnen auch eine Entschadigung wollen, wissen wir nicht.

SZ: Wenn nur jeder Zweite dieser Opfer jeweils 5000 Euro bekommt, zahlen Sie eine halbe Million Euro. Woher soll das Geld kommen?

Kiechle: Ja, das ist viel Geld fur uns. Wir wollen es nicht aus der Spendenkasse nehmen, wir wollen auch keines unserer Sozial- und Seelsorgeprojekte belasten. Wir werden uns in unserem Lebensstil einschranken mussen. Das ist mit der Gemeinschaft abgesprochen, die Bruder sind zum Verzicht bereit. Ja, Suhne tut weh, das muss sie auch, sonst verraten wir unseren Auftrag, an der Seite der Opfer zu sein.

SZ: Auch bei manchen Bischofen wird der Vorsto? der Jesuiten nicht gut ankommen. Dort werden Sie den Vorwurf horen, dass Sie die Verhandlungsposition der katholischen Kirche beim Runden Tisch gegen Missbrauch und gegenuber den Opferorganisationen schwachen.

Kiechle: Es mag sein, dass es solche Stimmen geben wird. Ob sie von Bischofen kommen, wei? ich nicht. Wir reden ja miteinander uber die Entschadigungsfrage, wir tun ja auch nichts an der Bischofskonferenz vorbei oder gar gegen die Bischofe. Aber wir sehen, dass wir Jesuiten jetzt ein Zeichen setzen mussen, damit es um der Opfer willen voran geht. Da darf es nicht um Taktik oder Kosten gehen. Es ist eine Frage unserer Wahrhaftigkeit und unseres Selbstverstandnisses.

 
 

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