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  Nach Missbrauchsaffare: Ruf Nach Kirchlicher Neuausrichtung

The Evangelisch
December 4, 2010

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Der Sprecher der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner. Foto: dpa / Tobias HaseDer Sprecher der Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche", Christian Weisner.

Das spektakulare Munchner Gutachten zur systematischen Vertuschung von Missbrauchsfallen in katholischen Einrichtungen zeigt nach Ansicht der Reformbewegung "Wir sind Kirche", dass eine umfassende Neuausrichtung der Amtskirche notwendig ist.

Es reiche nicht aus, die Pravention zu starken und mit verbesserten Strukturen kunftig eine Vertuschung zu verhindern, sagte "Wir sind Kirche"-Sprecher Christian Weisner in Munchen. Denn naturlich musse man von einem Zusammenhang zwischen der Missbrauchsaffare einerseits und der Priesterverpflichtung zur Ehelosigkeit sowie der problematischen kirchlichen Sexualmoral andererseits ausgehen.

Zolibatsfrage weiter ungeklart

So sei in der Kirchenlehre die brennende Frage zum Zolibat weiter ungeklart, ob ein Mensch seine Sexualitat vollig negieren konne, sagte Weisner. Die Kirche musse auch erkennen, dass sie in ihrer festgefahrenen Sexuallehre den Kontakt nicht nur zur Jugend langst verloren habe. Die Kirchenspitze und damit in erster Linie Papst Benedikt XVI. mussten hier einen Paradigmenwechsel einleiten, ahnlich wie sich die Kirche in fruheren Jahrhunderten auch von der Hexenverbrennung habe verabschieden mussen.

Der "Wir sind Kirche"-Sprecher lobte aber ausdrucklich den Beschluss des Erzbischoflichen Ordinariats in Munchen, neben der Berufung eines Missbrauchsbeauftragten auch eine unabhangige Studie zu der Frage zu bestellen, welche strukturellen Ursachen uberhaupt die ganze Missbrauchsaffare ermoglicht hatten. "Das ist ein richtiger Ansatz", sagte Weisner. "Der Erkenntnisgrad des Gutachtens ist hoch, aber auch sehr schockierend." Die aufgedeckten Vertuschungsmechanismen mussten jedoch nicht nur in Munchen, sondern in ahnlicher Form bundesweit aufgearbeitet werden.

Systematische Vertuschung festgestellt

Das Erzbischofliche Ordinariat in Munchen hatte die Rechtsanwaltin Marion Westpfahl als unabhangige Gutachterin beauftragt, in einer bundesweit bisher einzigartigen Studie die strukturellen Hintergrunde der Missbrauchsaffare zu untersuchen. Dazu lie? die fruhere Staatsanwaltin und Richterin rund 13.200 Akten des Erzbistums Munchen und Freising aus den Jahren 1945 bis 2009 durchforsten. Ergebnis: Sie stellte eine systematische Vertuschung und Aktenvernichtung durch Kirchenmitarbeiter fest, ebenso ein falsch verstandenes "bruderliches Miteinander" in der Kirche und eine vollige Missachtung der Opfer.

"Die Ergebnisse des Gutachtens sind starker Tobak", sagte Weisner. Man musse davon ausgehen, dass es in den sonstigen Bistumern nichts anders aussehe. "Die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsaffare ist noch lange nicht vorbei." Uberfallig sei ein Gesamtbericht fur alle Bistumer in Deutschland. "Denn man kann es ja wohl schlecht weiter nur den ortlichen Bischofen uberlassen, welchen Weg der Aufklarung sie gehen wollen", betonte Weisner. Uberfallig sei auch der Brief an die Gemeinden vom Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Robert Zollitsch, zur Missbrauchsaffare, der bereits fur Ende November angekundigt worden und offenbar am Widerstand einzelner Bischofe gescheitert sei.

Ratzingers Amtszeit "blinder Fleck"?

Weisner nannte es bedauerlich, dass die Amtszeit des fruheren Munchner Erzbischofs Joseph Ratzinger - des heutigen Papstes - in Westpfahls Untersuchung "ein blinder Fleck geblieben ist". Offenbar hange es mit der Aktenvernichtung ubereifriger Kirchenmitarbeiter zusammen, dass die Gutachter aus Westpfahls Kanzlei nur ein einziges Dokument gefunden hatten, in dem Ratzinger selbst in einen Missbrauchsfall eingeschaltet war. Nach Angaben von Westpfahl hatte Ratzinger darin einem wegen Missbrauchs aufgefallenen Priester klargemacht, dass er aus seiner Pfarrei entfernt werden musse. "Nur dabei trat Ratzinger greifbar in Erscheinung."

Aus dem am Freitag in der bayerischen Landeshauptstadt vorgelegten Bericht geht hervor, dass mindestens 159 Priester, von denen 26 wegen Sexualdelikten verurteilt wurden, und 96 katholische Religionslehrer in Falle sexuellen Missbrauchs verstrickt gewesen sind. Alle Personen seien bereits verstorben, so Westpfahl. Es sei jedoch von einer sehr viel hoheren Zahl von Fallen auszugehen, da Akten vernichtet worden seien und "der Ungeist der Vertuschung erfolgreich war", sagte die Juristin, die gemeinsam mit weiteren Gutachtern mit der Sichtung der Akten beauftragt worden war.



"Wir bitten als Kirche um Vergebung"

Der Munchner Erzbischof Reinhard Marx (Foto: dpa), der das 250 Seiten starke Gutachten in Auftrag gegeben hatte, bat die Opfer im Namen der Kirche um Vergebung. "Es waren die sicher schlimmsten Monate meines Lebens", so Marx, der seit 2008 das Erzbistum Munchen und Freising leitet und vor kurzem zum Kardinal ernannt worden war. Er empfinde Scham, Traurigkeit und Betroffenheit. "Wir bitten als Kirche um Vergebung fur das, was Mitarbeiter der Kirche getan haben." Die Glaubwurdigkeit der Kirche habe schweren Schaden genommen.

Bei der Untersuchung sei sie oft an Grenzen gesto?en, nicht wegen mangelnden Aufklarungswillens, sondern wegen einer Aktenvernichtung im gro?en Stil, sagte die Anwaltin. Wichtige Schriftstucke, die mogliche weitere Falle von Sexualmissbrauch belegen konnten, seien unvollstandig gewesen, einen Teil der Akten habe man nach dem Tod von Klerikern in Privatwohnungen gefunden. Eine Zentralerfassung des Aktenbestandes, wie sie bei jeder Verwaltung ublich sei, existiere nicht. Viele untersuchte Schriftstucke hatten einen "euphemistischen, verharmlosenden Sprachgebrauch", so die Juristin. Die Auswirkungen auf das Opfer seien nur zu erahnen. Die betroffenen Kinder seien einer Vereinsamung ausgesetzt gewesen und gar nicht wahrgenommen worden.

Die Wehleidigkeit der Tater

Uber die Tater fanden die Gutachter heraus, dass sie in vielen Fallen psychisch und physisch gering belastbar gewesen seien. Westpfahl sprach von "Wehleidigkeit und Selbstmitleid". Viele hatten sich hinter Krankheiten verschanzt. Bei der uberwiegenden Zahl der Tater handle es sich um Manner zwischen 45 und 65 Jahren. Auffallig sei haufiger Alkoholmissbrauch gewesen. Ein Missbrauchsbeauftragter, wie ihn die katholische Deutsche Bischofskonferenz einsetzen will, musse jahrlich einen Bericht abliefern und weitestgehende Entscheidungskompetenzen erhalten, forderte die Juristin. Zudem mussten die berechtigten Opferinteressen noch besser berucksichtigt werden.

 
 

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