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  Eine Nummer Gegen DAS Vergessen

Frankfurter Allgemeine
December 27, 2010

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Seit dem Fruhjahr konnen Opfer sexueller Gewalt in der Kirche uber ihr Leid der Lebensberatung im Bistum Trier berichten. Ihre Geschichten zeugen nicht nur von den lebenslangen Folgen des Missbrauchs. Sie erzahlen auch viel uber die Tater.

Vor sieben Monaten stellte der Bischof von Trier, Stephan Ackermann, die Telefon-Hotline der katholischen Kirche vor

Im Marz ging alles ganz schnell. Annahernd vier Wochen hatten die deutschen Bischofe gebraucht, ehe sie Ende Februar angesichts einer Kaskade von Berichten uber sexuelle Ubergriffe von Geistlichen auf Kinder und Jugendliche ihre Sprache wiederfanden. Nur vier Wochen spater sa?en schon Dutzende Mitarbeiter der Lebensberatung im Bistum Trier am Telefon. Im Auftrag der Bischofe hielten sie sich bereit, in zwei Schichten an jeweils drei Tagen der Woche Opfern sexueller Gewalt in der Kirche zuzuhoren und sie in ihrer Not zu beraten.

Die Resonanz der telefonischen „Hotline“ und der parallel angebotenen Beratung uber Internet war im eigentlichen Sinn des Wortes uberwaltigend. Alleine in der ersten Woche wurden mehr als 18 500 Anrufversuche registriert, so dass es trotz des Einsatzes von bis zu zwanzig Beratern am Telefon und acht im Internet zunachst kaum moglich war, im ersten Anlauf einen Kontakt herzustellen. „Niemand hat damit gerechnet, dass sich so viele Opfer in so kurzer Zeit an die Hotline wenden wurden“, sagt Andreas Zimmer, der Leiter der Lebensberatung. Warum auch? Schon im Jahr 2002 war sexueller Missbrauch in der Kirche uber Monate hinweg in vielen Medien ausfuhrlich thematisiert worden. Doch so wenig die erstmaligen Enthullungen sexueller Ubergriffe von Lehrern der Odenwaldschule im Jahr 1999 die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit auf das jahrelange Treiben von Paderasten an einer reformpadagogischen Vorzeigeschule lenkten, so schnell erstarben im Herbst 2002 Mutma?ungen uber Art und Ausma? uber Vergehen katholischer Geistlicher an Kindern und Jugendlichen. Die Bischofe fragten nicht, die Opfer schwiegen.

Immer noch suchen Opfer Hilfe

Wie und warum sich die gesellschaftlichen Dispositive im Winter des Jahres 2010 von denen im Herbst 2002 unterschieden, durfte Soziologen noch lange beschaftigen. Gewiss ist nur, dass nach dem Appell des Jesuitenpaters Mertes an Opfer sexueller Ubergriffe am Berliner Canisius-Kolleg ein „setting“ entstand, in dem sich ein offentlicher Diskurs uber sexuellen Missbrauch in der Kirche und bald darauf auch in der Odenwaldschule entwickelte. Gewiss ist aber auch, dass die Hotline der Bischofskonferenz, die Ende Marz ihre Arbeit aufnahm, das erste Angebot war, das sich an Opfer und deren Angehorigen richtete. Bis heute ist das Interesse an dieser Form der Erstberatung und der Vermittlung weiterfuhrender Hilfen nicht erloschen. Zimmer berichtet von funfzig bis siebzig Anrufen in der Woche.

Die Beratungen selbst sind anonym und vertraulich. Sie werden lediglich nach fachlichen Standards statistisch erfasst. Dadurch sind sie geeignet, Licht in eines der gro?ten Dunkelfelder der Kriminologie zu bringen. Denn in der kriminologischen Literatur gibt es bisher nur wenige Untersuchungen uber Tater und Opfer auf dem Gebiet sexueller Gewalt. „Die Anhaltspunkte fur die Pravention sexueller Gewalt wie die Betreuung von Opfern sind entsprechend durftig“, sagt Zimmer. Auch wei? er zu berichten, dass sich viele Opfer den Beratern in der Hoffnung anvertrauen, dass sie mit ihren Berichten dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt besser als bisher verhindert werden kann. Und nicht zuletzt entspricht die Dokumentation der Beratungen dem Auftrag der Bischofskonferenz, Hinweise zur Frage der Pravention und zu dem, was bei der Betreuung von Opfern notig ist, zu erhalten.

Aussagen uber die unterschiedliche Gefahrdung der Madchen und Jungen

Mehr als 1100 Statistikbogen sind mittlerweile ausgewertet. Schon jetzt scheint es, dass manche Vermutung uber sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche der Wirklichkeit nicht standhalt. Zu korrigieren ist wohl die verbreitete Annahme, dass Madchen einem gro?eren Risiko als Jungen ausgesetzt sind, Opfer sexueller Ubergriffe zu werden. Jedenfalls war die Halfte derer, die sich per Telefon oder Internet beraten lie?en wie auch die Halfte derer, die angaben, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, mannlichen Geschlechts. Dieses Verhaltnis andert sich zuungunsten der Madchen nur, wenn der Tatort berucksichtigt wird: Im familiaren Umfeld scheinen sich Manner eher an Madchen als an Jungen zu vergreifen. In kirchlichen Raumen einschlie?lich des Beichtstuhls waren indes Jungen und Madchen gleicherma?en gefahrdet. Fast doppelt so hoch war das Risiko fur Jungen in Internaten, gleich ob in staatlicher oder kirchlicher Tragerschaft.

„In bisherigen epidemiologischen Dunkelfelduntersuchungen wurde eine durchschnittliche Geschlechterverteilung von 25 Prozent Manner zu 75 Prozent Frauen bei Opfern dokumentiert“, hei?t es in einer ersten, vorlaufigen Auswertung.

Meist mehrfache und systematische Ubergriffe

Die Opfer und deren Angehorige, die sich der Hotline anvertraut haben, widerlegen diese Proportion. Mehr noch: Sie zeichnen auch ein signifikant anderes Bild der nahezu ausschlie?lich mannlichen Tater. Denn von der hohen Zahl mannlicher Opfer aus betrachtet sind die Tater wohl mehr als bisher im Kreis der Manner mit homosexuellen Neigungen zu suchen. Ihnen scheinen Einrichtungen, in denen sie in dauernder Nahe zu anderen Homosexuellen leben und Kindern und Jugendlichen aus einer uberlegenen Position heraus begegnen, einen nahezu idealen Raum zu bieten, um sich als Paderast zu betatigen.

Unter den Tatern dominieren indes nicht Personen, die infolge von Kontrollverlust ubergriffig wurden. In vielen Berichten erscheinen Tater als Akteure, die langfristig denken und strategisch vorgehen. Nicht selten haben sie sich als Geistlicher absichtsvoll das Vertrauen der Minderjahrigen und auch der Eltern erschlichen. Entsprechend wurden Kinder oder Jugendliche im Kontext der Kirche selten zufallig oder ein einziges Mal Opfer sexueller Ubergriffe, sondern planvoll und mehrfach. „Nur 16 Prozent der Opfer berichten von einmaligen Ubergriffen. Alle andere wurden mehrfach Opfer“, sagt Zimmer.

Gewalt und Macht

Fur falsch halt der Leiter der Lebensberatung im Bistum Trier auch die Fixierung eines betrachtlichen Teils der Offentlichkeit auf die zolibatare Lebensform der Diozesanpriester. Der typische Tater, wie er in den Berichten der Opfer erscheint, ist nicht der junge Priester, der im Affekt oder aus Frustration handelt, sondern ein angesehener Mann in fortgeschrittenem Alter. Zimmer zieht daraus den Schluss, dass Pravention sich nicht darin erschopfen kann, bei der Auswahl von Priesterkandidaten auf krankhafte Dispositionen wie Padophilie zu achten. „Das Schlusselthema ist meines Erachtens nicht Sexualitat oder Zolibat, sondern Gewalt und Macht“, sagt Zimmer.

Freilich konnten Geistliche ihre Macht und mitunter auch ihr Charisma dort umso eher missbrauchen, wo Kinder und Jugendliche schutzlos waren – auch oder gerade in Familien. Immer wieder horen die Berater, dass die Opfer als Kinder oder Jugendliche nicht fahig waren, die Gewalt, der sie ausgesetzt waren, in Worte zu fassen; und wenn sie doch sprachen, dass die Eltern sich nicht auf ihre Seite stellten. „Kinder stark machen“ zu wollen reiche nicht aus, sagt Zimmer. Wenn Opfer viele Anlaufe nehmen mussten, um sich Gehor zu verschaffen, versage die Erwachsenenwelt.

Fehlende Therapieangebote

Nicht uberraschen kann indes der Umstand, dass sie meisten Delikte vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten verubt wurden. Die meisten Opfer, die sich der Hotline oder dem Internet anvertrauten, waren zwischen 1950 und 1980 missbraucht worden. Straf- wie zivilrechtlich sind Missbrauchsdelikte aus dieser Zeit langst verjahrt. Viele seelische Verletzungen sind jedoch nie verheilt, bis heute. Viele Opfer berichteten von Problemen in der Partnerschaft, die sie auch mit Hilfe von Therapeuten bislang nicht losen konnten. Dieser Befund wirft nicht nur Fragen hinsichtlich der Kompetenz von Therapeuten und des Vermogens von Therapieformen auf, traumatisierten Personen gerecht zu werden. Angesichts des hohen Anteils mannlicher Opfer und der oft fatalen Folgen sexuellen Missbrauchs fur die Entwicklung der eigenen Sexualitat und die Fahigkeit zur Partnerschaft gibt Zimmer daher zu bedenken, dass es an Therapieangeboten fur Manner wie fur Paare fehle.

Dass es nicht nur, aber nicht zuletzt eine Erwartung von Opfern an Kirche ist, diesem Mangel abzuhelfen, zeigt sich fur Zimmer ebenfalls in den bisher vorliegenden Daten. Neun von zehn Anrufern waren katholisch, und nur wenige haben die Kirche verlassen. Und: „Ein Drittel der Delikte, wegen denen sich Menschen meldeten, wurden au?erhalb der Kirche begangen. Diese Menschen riefen an, weil sie von ihrer Kirche endlich eine Hilfe angeboten sahen“, sagt der Berater und fugt hinzu: „Nicht nur Tater waren vielfach Mitglieder der Kirche, sondern auch gerade die Opfer waren und sind es.“

 
 

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