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  DAS Lange Schweigen Der Opfer

The Deutschlandfunk
January 25, 2011

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[mit Audio]

Immer neue Falle "sexuellen Missbrauchs" beschaftigen die Medien, die Politik, die Institutionen. (Bild: AP)

Dass sexueller Missbrauch an Schulen und Erziehungseinrichtungen nicht aus "heiterem Himmel" geschieht, davon ist Manfred Kappeler uberzeugt. In seinem neuen Buch zeigt er die Strukturen, die solche Verbrechen an Kindern ermoglichen oder sogar hervorbringen.

Wer "Missbrauch" sagt, setzt "Gebrauch" sprachlogisch voraus, auch wenn er im Moment des Sprachakts nicht daran denkt.

Immer neue Falle und Enthullungen sogenannten "sexuellen Missbrauchs" beschaftigen die Medien, die Politik, die Institutionen. Der Sexualpadagoge, Psychotherapeut und Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler hat eine systematische Studie dazu vorgelegt. Er beginnt mit Sprachkritik:

"Es handelt sich um sexuelle Gewalt. In dieser Formulierung 'Missbrauch', 'missbrauchlich', verschwindet dieser Gewaltcharakter dieses Handelns. Es wird dann von Ubergriffen gesprochen, und das sind alles Strategien der Neutralisierung und letztendlich auch der Verharmlosung."

Es darf keinen Weg der Annaherung eines Erwachsenen an ein Kind oder einen Jugendlichen geben, der von sexueller Erregung bestimmt ist und sexuelle Befriedigung zum Ziel hat.

Die Offentlichkeit ist alarmiert. Denn solche Annaherungen hat es gegeben: unter Obhut und Aufsicht des Staates und der Kirchen, in Erziehungsheimen und in Internatsschulen. In der allgemeinen Erregung uber einen allgegenwartig scheinenden "sexuellen Missbrauch" und der schnellen Fokussierung auf einzelne, "schwach gewordene" Tater geht jedoch eines allzu leicht verloren: eine differenzierte Analyse des Geschehens und der Strukturen, die es ermoglichen oder sogar hervorbringen. Genau darum geht es dem emeritierten Professor der TU Berlin in seiner Studie "Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt und padagogische Einrichtungen".

Vergewaltigung in der Heimerziehung, Sex im Jesuitenkollegium oder in der Reformschule - ist das alles dasselbe? Kappeler sagt Nein und analysiert zunachst, was unter sexueller Gewalt zu verstehen ist. Das sind demnach nicht nur Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehoren auch Dinge wie ein mit korperlicher und psychischer Gewalt durchgesetztes Onanieverbot, eine ideologisch verbramte "Liebe zum Kind", die eine Gleichberechtigung, gleiche Wunsche und Interessen vorgaukelt, um die eigenen am Ende durchzusetzen. Die Auswirkungen seien nicht dieselben, das lange Schweigen der Opfer habe verschiedene Ursachen, schreibt der Autor. So seien Heimkinder in den Sechzigerjahren dem System bedingungslos ausgeliefert gewesen, an niemanden hatten sie sich wenden konnen, niemand habe ihnen geglaubt. Katholische Internatsschuler hatten immerhin noch Kontakte nach drau?en, zu den Eltern, haben sich aber der Sunde schuldig und selbst oft auch noch verantwortlich gefuhlt. Schulerinnen und Schuler in reformpadagogischen Einrichtungen wie der Odenwaldschule sind meist stolz auf ihre Schule und verehren manche ihrer Lehrer. Sie wollen der Schule nicht mit einer Anzeige schaden oder haben manchmal auch einfach Angst, der Schule verwiesen zu werden. Manfred Kappeler:

"Das hei?t, bei den ehemaligen Heimkindern sind samtliche Lebensbezuge von dem Gewaltverhaltnis, in dem sie stecken, betroffen und die sexuelle Gewalt ist nur eine Spielform davon. Die haben ihre Tater von Anfang an gehasst, konnten sich innerlich mit Wut und Aggression abgrenzen - ich haue ab, ich fliehe, aber ich bin nicht identifiziert mit dir, du bist fur mich kein Vorbild. Bei den Internatsschulern ist das in der Regel so, dass die sexuelle Gewalt ein ganz bestimmter Punkt ist und drum herum funktioniert das Ganze ubrige tolle Leben an dieser Schule, in diesem Internat, die kriegen ihre Qualifikation, die machen ihr tolles Abitur."

Gut verstandlich, in einem fast erzahlerischen Tonfall, faktenreich und engagiert unterzieht er jede einzelne der betroffenen Institutionen einer konkreten Analyse. Katholische Bildungseinrichtungen sind demnach Teile einer klar durchorganisierten Hierarchie mit einer verbindlichen Sexualmoral, der restriktiven Wirkung des Zolibats und mit Padagoginnen und Padagogen, die selbst mit dieser Sexualmoral sozialisiert worden sind. Dort, so Kappelers These, agiert eine unterdruckte Sexualitat von Erwachsenen gegen die sexuellen Bedurfnisse von Kindern und Jugendlichen und schlagt in bestimmten Situationen um in eigene, sexuelle Gewalt. Die evangelische Kirche habe mit ihrer "Denkschrift zu Fragen der Sexualethik" 1971 ein freieres Verhaltnis zur Sexualitat entwickelt. Freiheit, so analysiert der Autor, gibt es aber auch hier kaum.

Als Teil der Emanzipationsbewegung von 1968 hat Manfred Kappeler sich starkgemacht fur das sexuelle Selbstbestimmungsrecht auch von Kindern und Jugendlichen. Theoretiker der Reformpadagogik wie Hartmut von Hentig gehorten zu seinen Vorbildern. Hier uberpruft er das eigene padagogische Credo, sucht in Theorie und Praxis nach den Ursachen dafur, dass potenzielle Tater die Gelegenheiten fur ihre Taten finden und dass die Institutionen die Tater anschlie?end decken. Kappeler spricht sich in der Konsequenz nicht gegen die dort bewusst eingegangene Nahe von Erzieher und Erziehendem aus. Doch er fordert eine notige Distanz zwischen Erwachsenem und Kind sowie die Reflexion uber das Machtgefalle zwischen ihnen. Denn wer das sexuelle Selbstbestimmungsrecht starken und sexuelle Gewalt verhindern will, betont Kappeler, durfe nicht in Zeiten der Tabus und der Restriktion zuruckfallen. Aber auch schnell hervorgezauberte Rezepte zur Pravention wie die Parole "Kinder starkmachen!" finden in diesem Zusammenhang nicht seine ungeteilte Zustimmung:

"Kinder konnen nie so stark sein, dass sie einem erwachsenen Gewalttater, der sie sexuell ausbeuten will, entkommen konnen, wenn der es wirklich drauf anlegt. Es ist gut, Kinder starkzumachen, sie kritisch zu machen, sie selbstbewusst zu machen, das sind aber ganz selbstverstandliche Forderungen, die man nicht extra gewaltpraventiv begrunden muss, die gehoren zum Credo einer offenen, liberalen, fortschrittlichen Erziehung."

Wer Pravention sagt, muss Gefahr denken.

Kappeler warnt auch am Ende seiner fundierten und erhellenden Studie vor der allzu leichtfertigen Verwendung von Begriffen. Denn wenn Padagogen nur noch Gefahrenquellen und Gefahrdete sahen, konne ihnen der "offene Blick" auf die zu Erziehenden leicht verloren gehen. Wenn sexuelle Gewalt ihre "Gelegenheitsstrukturen" in Institutionen vorfindet, musse Pravention deshalb vor allem dort ansetzen, betont der Autor. Seine Vorschlage sind nicht neu, aber aktuell. Sie setzen an bei der Ausbildung und regelma?igen Supervision des Personals und enden nicht bei Ombudsstellen und einer tatsachlich funktionieren behordlichen Aufsicht:

"Es kommt darauf an, die strukturellen Bedingungen in den Einrichtungen, in denen Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, zu verandern. Das ist der entscheidende Ausgangspunkt, und der ist auch deshalb so wichtig ist, weil er die Verantwortung der Institutionen betrifft und der Trager dieser Einrichtungen. An dem Punkt mussen die etwas tun!"

Wenn man verstehen will, aus welchen strukturellen Grunden padagogische Institutionen beim Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen versagen und auf welche Weise Pravention Erfolg versprechen kann, sollte man dieses Buch auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen.

Detlef Grumbach las fur uns Manfred Kappeler: "Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in padagogischen Einrichtungen", erschienen in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung. 272 Seiten kosten 19 Euro 95, ISBN 978-3-894-79626-6.

 
 

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