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  "Der Sexualtrieb Ist Ein Machtiger Trieb"

The Taz
January 26, 2011

http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/der-sexualtrieb-ist-ein-maechtiger-trieb/

Vor einem Jahr wurde der sexuelle Missbrauch von Schulern an Jesuiten-Gymnasien bekannt. Richter Uwe Notzel kritisiert, dass die Missbrauchsdebatte undifferenziert gefuhrt wird.

Unter dem Kreuz wird nicht nur Gutes getan - wie auch der Skandal um das Berliner Canisius-Kolleg zeigte.

taz: Herr Notzel, als Vorsitzender einer Gro?en Strafkammer sitzen Sie uber Sexualstraftater zu Gericht. Gibt es Taten, die Sie noch erschuttern?

Uwe Notzel: Ja, immer wieder. Man erhalt tiefe Einblicke in die Psyche. Und das betrifft nicht nur die Tater, sondern auch die Opfer

Vor einem Jahr sind die Missbrauchsfalle an katholischen Jesuiten-Gymnasien bekannt geworden, betroffen war auch das Berliner Canisius-Kolleg. Ist die Welle schon in Form von Anklagen auf Ihrem Richtertisch angekommen?

Nein. Ich denke, das wird noch eine gewisse Zeit dauern.

Seither wird breit uber sexuellen Missbrauch diskutiert. Hat die Debatte Ihrer Meinung nach etwas bewegt?

Da ist einiges in Gang geraten. Der Blick auf die katholische Kirche und padagogische Einrichtungen hat sich verandert. Es gibt den runden Tisch fur Vertreter von Opfergruppen, Kirche und Bundesregierung. Meine Empfehlung ware, die Dinge etwas ruhiger anzugehen und keine vorschnellen gesetzgeberischen Losungsangebote zu offerieren. Das geht bisweilen nach hinten los.

Worauf wollen Sie hinaus?

Die Verjahrungsfrist bei sexuellem Missbrauch beginnt erst mit Volljahrigkeit der Opfer - also dem 18. Lebensjahr - zu laufen. Es gibt ja die Forderung, die Fristen auszuweiten. Doch das wurde vermutlich wenig andern, weil die Aufklarungsmoglichkeiten im Laufe der Zeit immer schlechter werden. Die Dinge werden nicht leichter dadurch, dass sie jahrzehntelang verschuttet gelegen haben. Dazu kommt, dass die Diskussion zum Teil sehr undifferenziert gefuhrt wird.

Konnen Sie ein Beispiel dafur nennen?

Man muss unterscheiden, ob ein Lehrer oder ein Geistlicher einem 13-Jahrigen oberhalb der Kleidung an den Schritt gefasst hat. Oder ob schwere sexuelle Handlungen, Penetrationen oder dergleichen stattgefunden haben. In der Diskussion wird sehr haufig vieles vermengt.

Konnten Sie mal die Bandbreite der Missbrauchstaten skizzieren, mit denen Sie als Richter konfrontiert sind?

Es gibt schwere und weniger schwere Taten. Alles, was mit Penetration zusammenhangt, ist ein viel gravierenderer Eingriff in das Rechtsgut des Opfers, als beispielsweise Beruhrungen im Vorbeigehen. Auch auf die Lange des Tatzeitraums kommt es an. Handelt es sich um eine fluchtige Tat oder um einen Missbrauch von mehreren Jahren? Ist das Opfer tagtaglich oder in einem regelma?igen Rhythmus missbraucht worden - zum Bespiel immer am Wochenende, wenn die Mutter Spatschicht hatte? Hatte es keine Chance zu entrinnen oder sich zu offenbaren? Manche Tater drohen ihrem Opfer ja: "Sagst du es der Mama, kommst du ins Heim." Oder: "Dann bringe ich deine Mutter um." Zum Teil sind die Opfer so jung, dass sie uberhaupt nicht einordnen konnen, wenn es hei?t: Das machen alle, die sich lieb haben.

Sie haben selbst Kinder. Spielt das in Ihrem Unterbewusstsein bei den Prozessen eine Rolle?

Ich kann ziemlich gut trennen. Das muss man als Richter auch. Andernfalls lauft man Gefahr, die Sachlichkeit und Unparteilichkeit zu verlieren. Allerdings ist ein Richter ein Mensch wie jeder andere. Dass sich durch die Hintertur vielleicht doch gewisse Gefuhle einschleichen, kann niemand kategorisch ausschlie?en.

Darf ein Richter fur den Angeklagten oder das Opfer Empathie empfinden?

Man sollte an den Fall so herangehen, dass man sich nicht festlegt, ob man uberhaupt ein Opfer oder einen Tater vor sich hat. Das herauszufinden ist ja die Aufgabe. Dass jemand falsch belastet wird, kommt durchaus vor. Bei Kindern wurde ich das weniger vermuten als bei alteren Personen. Eine Aussage ist ein scharfes Schwert. Bei Sexualstraftaten gibt es meistens keine unabhangigen Zeugen. Es ist also eine spezifische "Aussage gegen Aussage"-Konstellation. Der Bundesgerichtshof stellt sehr hohe Anforderungen an die Prufungsdichte des Urteils. Das muss man als Strafrichter schon sehr gut begrunden.

Wie kriegt man raus, ob jemand lugt?

Im Laufe der Zeit entwickelt man ein Gespur. Darauf allein kann man sich aber nicht verlassen. Wir stutzen uns auf Methoden der Aussagepsychologie. Das ist wissenschaftlich verifiziert, es gibt dazu unzahlige Veroffentlichungen und Fortbildungen. Naturlich muss man auf der Richterbank immer die eigene Fehlbarkeit und Unzulanglichkeit in Betracht ziehen. Man konnte sich einfach irren und damit das gro?te Unheil anrichten.

Hatten Sie schon mal das Gefuhl, ein Fehlurteil gefallt zu haben?

Ich hatte schon ofters das Gefuhl, wenn ich jemanden freigesprochen habe, dass der Angeklagte eigentlich schuldig ist. Aber entweder die Fakten reichen - oder sie reichen nicht. Das sind die Spielregeln: im Zweifel fur den Angeklagten. Das sind die Errungenschaften des Rechtsstaats.

Also lieber zehn Schuldige freisprechen als einen Unschuldigen verurteilen?

Ich kenne keinen Kollegen, der dem widersprechen wurde.

Ist es ein Strafmilderungsgrund, wenn der Angeklagte auf die Vernehmung des Opfers verzichtet und die Taten gesteht?

Das kann im Strafma? unter Umstanden einen erheblichen Unterschied bedeuten.

Bis zum Beginn des Prozesses haben Sie viel uber den Angeklagten gelesen. Worauf achten Sie bei der ersten Begegnung im Gerichtssaal?

Das ist mit das Spannendste, wie sich eine Person, die man nur aus den Akten kennt, prasentiert. Wie der Angeklagte auftritt. Ob er einem in die Augen guckt. Wie er etwas erzahlt. Wo er einen kleinen Haken schlagt, etwas auslasst oder mauert. Viele Angeklagten reagieren gar nicht. Das sind zum Teil sehr traurige Menschen, die ein Randdasein und ein Leben ohne Erfolge gefuhrt haben. Ungeliebt und ausgesto?en. Manchmal verhandelt man tagelang, ohne den Angeklagten zu sehen: Er sitzt mit dem Kopf nach unten auf der Bank. Andere hingegen kommentieren verbal, mimisch und gestisch alles, was gesagt wird.

Gibt es eine bestimmte wiederkehrende Art, wie Angeklagte leugnen und bagatellisieren?

Es kommt durchaus vor, dass jemand eine Lebensbeichte ankundigt. Ob es wirklich eine ist, ist meist nicht so klar. Die gro?e Linie ist, dass Angeklagte versuchen, Verstandnis zu erwecken fur eine doch hassliche Tat. Das ist menschlich.

Konnen Sie ein Beispiel dafur nennen?

Sexualtater verschieben die Schuldanteile gern ein wenig auf die Opferseite. Etwa in der Art: "Das Kind hat sich immer zu mir auf die Couch gesetzt und wollte kuscheln. Dabei ist es dann aber nicht geblieben." Das ist keine seltene Verteidigungsstrategie. Es mag stimmen, dass es solche Situationen gab. Aber ein Erwachsener hat die Entscheidung zu treffen: Geht man darauf ein oder nicht.

Erleben Sie so was wie Reue?

Das Wort Reue hore ich im Gerichtssaal sehr oft. Es ist schwer, das zu gewichten. Und nach 20 Jahren forensischer Erfahrung neigt man ein bisschen zur Skepsis. Aber auch da muss man versuchen, als Richter innerlich gegenzuarbeiten. Vielleicht kann man es dem einen oder anderen doch abnehmen. Und das tue ich auch.

Suchen Sie nach Erklarungen fur die Taten?

Die Hintergrunde und Motive sind ein ganz wichtiger Punkt. Viele Angeklagte sind intellektuell gar nicht in der Lage, sich zu erklaren. Teilweise handelt es sich um Manner, die gro?e Schwierigkeiten haben, unter erwachsenen Frauen eine Sexualpartnerin zu finden. Sie sind dann auf Kinder ausgewichen, um ihre Sexualitat auszuleben. Der Sexualtrieb ist ein machtiger Trieb. Oder es handelt sich um Manner, die sich in der Welt der Kinder einfach besser zurechtfinden. Auch das ist nicht selten.

Und dann gibt es noch die klassischen Padophilen, die im psychiatrischen Sinne krank sind.

Auch Padophile sind grundsatzlich fur ihre Taten verantwortlich. Aber viele Sexualtater, uber die wir verhandeln, sind keine Padophilen im klassischen Sinne.

Bei der Urteilsverkundung im Fall des Sexualstraftaters Uwe K. haben Sie im September vergangenen Jahres gesagt: Der Angeklagte sei nicht als Monster aufgetreten. Gehen Ihnen solche Vergleiche auch in anderen Verfahren durch den Kopf?

Eigentlich nicht. Ich habe aber durchaus schon Angeklagte erlebt, die im Gerichtssaal uberhaupt keine Gefuhle erkennen lie?en. Sie erschienen mir kalt und ohne jede Empathie. Teilweise stand das im Einklang mit ihren Taten.

Der Fall Uwe K. war in den Medien ein Dauerbrenner. Jetzt ereifert sich halb Berlin uber eine kleine Gruppe von Sexualstraftatern, die nach jahrzehntelanger Haft aus der Sicherungsverwahrung freikommen soll. Inwieweit kann man sich als Richter davon denn noch freimachen?

Das ist eine Personlichkeitsfrage, dafur gibt es kein Patentrezept. Die Medien durchdringen alles, auch das Privatleben eines Richters. Wir lesen Zeitung, horen Radio, sehen fern. Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Thema, das sich gut vermarkten lasst, weil es die Gefuhlsseite der Menschen beruhrt. Mich argert die Berichterstattung haufig eher. Zu bedenken ist auch: Alle Statistiken sagen, dass die Zahl der Sexualdelikte seit Jahren zuruckgeht. In derselben Zeit - seit 1997 - hat der Gesetzgeber den Strafrahmen mehrfach verscharft.

Konnen Sie nachvollziehen, dass sich Opfer - wie im Zuge der aktuellen Missbrauchsdebatte geschehen - erst Jahrzehnte nach den Taten offenbaren?

Zu entscheiden hatte ich als Richter solch einen Fall noch nicht. Ein restloses Vergessen und Verdrangen durfte kaum gelingen. Zuruck bleibt eine Narbe, die durch au?ere Anlasse aufbrechen kann. Die Art und Weise, wie exponierte Vertreter betroffener Einrichtungen Anschuldigungen lassig vom Tisch wischen, mag auch ein Ansto? sein, sich zu Wort zu melden.

Daten und Fakten

Uwe Notzel, 49, ist Vorsitzender der 39. Gro?en Strafkammer am Landgericht Berlin. Nach seinem Jurastudium hat er 1990 ein halbes Jahr in der Rechtsabteilung der Treuhandanstalt gearbeitet. Seit 1991 ist er Richter.

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40 Prozent der Taten, die vor der 39. Gro?en Strafkammer von Richter Notzel verhandelt werden, sind Sexualdelikte. Die Angeklagten sind uberwiegend Manner. In der Regel kommen die Tater aus dem familiaren Bereich oder zumindest aus dem sozialen Nahfeld und haben eine gewisse Beziehung zu dem spateren Opfer gehabt. Die Opfer sind meist zwischen 5 und 13 Jahre alt. Manche Verfahren ziehen sich uber Monate hin.

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Gro?er Medienandrang herrschte im Prozess gegen den 46-jahrigen Uwe K. Der Fall hatte Wellen geschlagen, weil es dem einschlagig vorbestraften Mann nach seiner Haftentlassung 2007 trotz Polizeiaufsicht gelungen war, sich wieder Kindern zu nahern. K. hat nach Uberzeugung des Gerichts in seiner Wohnung in Spandau zwei zehn- und elfjahrige Madchen vergewaltigt und eine 18-Jahrige sexuell genotigt. Im September wurde K. von der Strafkammer unter Vorsitz von Notzel zu zehn Jahren Haft und anschlie?ender Sicherungsverwahrung verurteilt.

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Vor einem Jahr hatte Pater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, mit einem Brief an ehemalige Schulerinnen und Schuler einen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche Deutschlands ausgelost. Seitdem erfuhr der Jesuitenorden namentlich von 205 Schulern in ganz Deutschland, die Opfer von Missbrauch an Einrichtungen des Ordens geworden waren. Der Skandal erschutterte nicht nur die hiesige Kirche bis ins Mark, auch au?erhalb der katholischen Kirche wurde eine umfassende Debatte uber den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch diese Aufklarung angeregt. (taz)

 
 

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