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  Strukturen Der Sunde

Frankfurter Rundschau
January 27, 2011

http://www.fr-online.de/politik/meinung/strukturen-der-suende/-/1472602/7129422/-/index.html

Professor Stephan Goertz lehrt Moraltheologie an der Johannes Gutenberg-Universitat Mainz.

Der Missbrauchsskandal ist im vergangenen Jahr mit solcher Wucht uber die katholische Kirche nicht nur in Deutschland gekommen, dass sie der Frage nicht mehr ausweichen kann, welchen moglichen Anteil an diesen Verbrechen die kirchlichen Strukturen selbst haben.

Im engeren Bereich der kirchlichen Lehre und Verkundigung muss die Kirche ihre Sexualmoral einer kritischen Prufung unterziehen. Sie muss eine Vorstellungswelt verlassen, in der Sexualitat in erster Linie als scham- und schuldbehaftet betrachtet wird. Homosexualitat darf etwa nicht langer unter dem Vorzeichen von „Defekt“ oder gar „Krankheit“ gesehen werden. Uberdies muss die Kirche eine Form von Sprachfahigkeit (wieder-)gewinnen, die ihr uberhaupt erst den Dialog mit der sakularen Gesellschaft und den Humanwissenschaften ermoglicht.

Nicht weniger dringlich erscheint nicht nur ein klares Bekenntnis zur Gleichberechtigung von Mann und Frau, sondern auch zu einer selbstbestimmten, autonomen Lebensfuhrung. Sexuelle Gewalt ist ja im Kern auch ein Missbrauch von Macht. Haufig sind Frauen dabei die Opfer. Hier ware zu wunschen, dass die katholische Kirche anerkennt, dass es die liberale, sakulare Gesellschaft gewesen ist, die in den letzten Jahrzehnten Gewalt gegen Kinder und Frauen auf die Tagesordnung gesetzt hat.

Im Verhaltnis zu den Glaubigen muss die Kirche die Mundigkeit und Kritikfahigkeit der Laien ernst nehmen, ebenso wie eine legitime Widerstandigkeit gegenuber falsch verstandener kirchlicher Autoritat. Nur so konnen gerade Kinder und Jugendliche in den Stand versetzt werden, sich gegen etwaige Ubergriffe von Klerikern zur Wehr zu setzen.

Es ist ein ermutigendes Signal, dass die Bischofskonferenz den Zusammenhang zwischen kirchlichen Strukturen und sexuellem Missbrauch wissenschaftlich erforschen lassen will. Denn in ihrer Selbstreflexion ist die Kirche der Frage nach „sundigen Strukturen“ bislang doch haufig ausgewichen, obwohl sie theologisch und soziologisch langst im Raum steht. Dass die Kirche eine „Gemeinschaft von Sundern“ ist, ist ein trivialer Befund – das Fehlverhalten Einzelner gibt es schlie?lich uberall, wo Menschen zusammenleben. Viel gravierender ist die Frage nach „Strukturen der Sunde“ in der Kirche. Hier geht es darum, dass die Verfassung der Kirche selbst ein bestimmtes Fehlverhalten ermoglichen, begunstigen oder befordern kann. Hier sind zu nennen: eine unzureichende Rechtskultur in der Kirche, die ubersteigerte Sorge um das eigene Ansehen, der Mangel an Transparenz und dialogischer Kommunikation, die eben nicht nur „von oben nach unten“ verlaufen darf. Diese Gemengelage konnte dazu fuhren, dass den Tatern, die sich im Raum der Kirche an Kindern und Jugendlichen vergangen haben, nicht wirkungsvoll Einhalt geboten worden ist.

Wenn sich die Kirche dies als „sundige Struktur“ zurechnet, bedeutet das auch, sich einer falschen, weil einseitigen Vorstellung von „Heiligkeit“ und „Makellosigkeit“ der konkreten Gestalt von Kirche zu verweigern. Dann muss nicht mehr diskret verschwiegen oder vertuscht werden, wenn Manner der Kirche sich schuldig machen. Im Fall von sexuellem Missbrauch verhindert das echte Sensibilitat und Offenheit fur die Perspektive der Opfer.

In seinem Brief an die Katholiken Irlands zum dortigen Missbrauchsskandal hat Papst Benedikt XVI. den Ansatz fur ein solcherma?en verandertes Selbstverstandnis der Kirche angedeutet, indem er fur eine „offene Ursachensuche“ pladiert: „Nur durch sorgfaltige Prufung der vielen Faktoren, die zum Entstehen der augenblicklichen Krise gefuhrt haben, kann eine klare Diagnose ihrer Grunde unternommen und konnen wirkungsvolle Gegenma?nahmen gefunden werden.“

Der Leidensdruck und der Schmerz angesichts der zahlreichen Missbrauchsfalle und des massiven Glaubwurdigkeitsverlusts der Kirche haben bei vielen Bischofen die Einsicht bewirkt, dass es kein „Weiter so“ geben kann. Andererseits gibt es eine gewisse Tragheit von Institutionen, die eigenen Strukturen auf den Prufstand zu stellen. Was im Staat, in Wirtschaft und Gesellschaft zu beobachten ist, gilt genauso fur die Kirche. Es ware fur die Kirche fatal, wenn sich diejenigen durchsetzen wurden, die lieber heute als morgen zur Tagesordnung zuruckkehren und den jetzt notwendigen Debatten ausweichen wollen. Sie trosten sich womoglich mit dem Abebben der (medien-)offentlichen Erregungswelle. In Wahrheit geht es aber nicht um das Bild der Kirche in den Medien, sondern um ihren Wesenskern: das glaubwurdige Zeugnis ihrer Botschaft. Daran musste sie auch dann arbeiten, wenn sich die Offentlichkeit uberhaupt nicht mehr fur das Thema Missbrauch interessierte.

Der Lackmustest fur die Lern- und Veranderungsbereitschaft der Kirche ist das Ma? an Offenheit, das Papst und Bischofe der innerkirchlichen Debatte zugestehen: Wie viel Kritik werden sie zulassen? Werden sie sich einer schonungslosen Analyse kirchlichen Versagens stellen? Welche Themen werden angesprochen, welche nicht? Die gerade erst begonnene Aufarbeitung des Skandals zu bremsen oder zu blockieren, ware jedenfalls das Schlimmste, was jetzt passieren kann.

 
 

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