BishopAccountability.org
 
  Die Missbrauchsbeauftragte Christine Bergmann: Die Gesellschaft Muss Noch Aufmerksamer Werden

Osnabrucker Zeitung
February 23, 2011

http://www.noz.de/deutschland-und-welt/politik/51529354/die-missbrauchsbeauftragte-christine-bergmann-die-gesellschaft-muss-noch-aufmerksamer-werden

Christine Bergmann

Osnabruck. Wie steht es um den Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch? Was ist seit Beginn der jungsten Enthullungen bereits passiert, was ist noch zu tun? Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, zieht Bilanz.

Frau Bergmann, vor etwas mehr als einem Jahr losten Berichte uber sexuellen Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg eine Aufklarungswelle aus. Hat sich der Schutz der Kinder seither verbessert?

Es ist viel passiert. Die Offentlichkeit ist starker sensibilisiert, auch das Wissen uber das Ausma? von sexuellem Missbrauch ist heute sehr viel gro?er, und es wird haufig schneller reagiert. In Berlin gab es etwa einen Missbrauchsfall auf der Kinderintensivstation einer Klinik. Als eines der Opfer sich den Eltern offenbarte, haben diese den Fall sofort ernst genommen. Und die Klinik hat gar nicht erst versucht, etwas zu vertuschen. Fruher gab es dagegen oft das Problem, dass Opfern nicht geglaubt worden ist.

Wie viele Menschen haben sich bisher bei Ihrer Anlaufstelle gemeldet?

Uber 10000. Es gab rund 9000 Anrufe, au?erdem gingen etwa 2000 Briefe und Mails bei uns ein. Unddie Anlaufstelle wird auch aktuell immer noch sehr stark in Anspruch genommen.

Aus welchen Bereichen kommen die Anrufer?

Das hat sich im Laufe der Monate verschoben. Anfangs meldeten sich in der Mehrzahl Betroffene aus den Institutionen, das hatte auch mit der offentlichen Debatte zu tun. Die Bilanz sieht aber heute so aus, dass mehr als 50 Prozent der von uns registrierten Falle sich im familiaren Umfeld zugetragen haben.

Melden sich mehr Manner oder mehr Frauen?

Im familiaren Bereich sind es deutlich mehr Frauen, im Bereich der Institutionen mehr Manner als Frauen. Die Alterspanne reicht von acht bis 89 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt bei 47 Jahren.

Die offentliche Debatte konzentriert sich zurzeit auf finanzielle Entschadigungen. Ist das auch das Hauptthema bei den Gesprachen mit den Betroffenen?

Nein, keineswegs. Die Themen, die bei uns am haufigsten genannt werden, sind Therapie und Beratung. Ganz haufig kommt zudem der Hinweis: Sorgt dafur, dass den Kindern von heute nicht das passiert, was wir erleben mussten. Beim Thema Entschadigung ist vor allem die gesellschaftliche Anerkennung wichtig. Dass den Betroffenen geglaubt wird, dass ihnen Schlimmes widerfahren ist. Das liegt auch daran, dass ihnen ja haufig von den Tatern die Schuld zugeschoben worden ist.

Die Jesuiten wollen Missbrauchsopfern 5000 Euro zahlen. Auch die katholischen Bischofe haben sich auf Zahlungen geeinigt. Was wird aus dem gemeinsamen Fonds, den der Runde Tisch einrichten will?

Dort, wo klare Verantwortung besteht, etwa in Jesuiten-Kollegs, wird niemand gehindert, finanzielle Einzellosungen anzubieten. Im Ubrigen befasst sich der Runde Tisch Anfang Marz mit dem Thema Entschadigung. Es wird hierbei auch um die Verlangerung der Fristen, in denen zivilrechtliche Anspruche verjahren, gehen, und um Anderungen im Opferentschadigungsgesetz. Ein weiteres wichtiges Thema, das im Kontext von Hilfen gesehen werden muss, ist die bereits genannte Forderung der Betroffenen nach ausreichenden Therapie- und Beratungsangeboten, sodass es ein weites Feld fur eine gemeinsame Fondslosung gibt.

Mitte bis Ende Mai wollen Sie dem Runden Tisch Ihre Empfehlungen unterbreiten. Was werden Sie in den Vordergrund stellen?

Fur die Betroffenen haben Beratungs- und therapeutische Leistungen ganz klar den Vorrang. Und das werde ich so weitergeben.

Das Koblenzer Landgericht verhandelt einen Fall aus dem Westerwald, in dem es um sexuellen Missbrauch in Hunderten Fallen geht. Ist es nicht beangstigend, dass solche Vorgange uber Jahre im Dunkeln bleiben?

Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit sehr hoch. Die Kriminalstatistik weist fur 2009 bundesweit etwa 13000 Falle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus. Aber das sind nur die Falle, die zur Anzeige gebracht wurden. Und man muss davon ausgehen, dass die tatsachliche Zahl um ein Vielfaches hoher ist.

Was kann man tun, um Licht ins Dunkel zu bringen?

Wenn man Kindern mehr Glauben schenkt, sie in rechtlichen Verfahren besser begleitet, dann wird es vermutlich auch mehr Anzeigen geben. Zudem muss die Gesellschaft noch besser informiert sein. Man muss fragen: Wissen alle, an wen sie sich in einem Verdachtsfall wenden konnen, sind Beratungsstellen in der Nahe bekannt? Ganz wichtig ist auch, dass die Gesellschaft noch aufmerksamer wird. Niemand darf wegsehen. Denn es ist kaum vorstellbar, dass so schreckliche Dinge geschehen wie im Westerwald, und das bekommt angeblich keiner mit. Alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, mussen so weit geschult werden, dass sie Verdachtsmomente erkennen konnen und auch wissen, wie sie damit umgehen mussen.

Welches sind die wichtigsten Warnsignale?

Wichtig ist zu erkennen, wenn sich ein Kind verandert. Die einen werden aggressiv, andere ziehen sich zuruck. Wie Kinder auch immer reagieren – Veranderungen konnen deutliche Signale sein.

Was sind Ihre Hoffnungen fur die Zeit nach dem Runden Tisch?

Es ist enorm wichtig, dass konkrete Ma?nahmen folgen. Es muss sich jeder Verein, jeder Verband, jede Kita, jede Schule mit dem Thema auseinandersetzen und prufen: Gibt es Fortbildungsbedarf? Wissen alle, was zu tun ist, wenn morgen ein Verdachtsfall gemeldet wird?

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.