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  System Wilhelminenberg: Licht Ins Dunkel!

der Standard
October 30, 2011

http://derstandard.at/1319181613430/Missbrauch-System-Wilhelminenberg-Licht-ins-Dunkel

"Massives gesellschaftliches Versagen" - Aufgang zum ehemaligen Kinderheim der Stadt Wien im Schloss Wilhelminenberg.

Autor Michael Amon.

Vom Wegschauen, vom Mauern und von der Gefahr, dass die angekundigte Aufarbeitung des Erziehungsterrors in Kinderheimen nur entschadigungstechnisches Stuckwerk bleibt: Erinnerungen und Forderungen eines ehemaligen Internatszoglings - Von Michael Amon

Es wird langsam Zeit, sich schnell von der Vorstellung zu verabschieden, das Missbrauchsproblem drehe sich um einige verdruckste Pfarrer, ein paar hundert Opfer und sei mit ein bisserl Geld und der einen oder anderen Kommission zu losen. Immer drangender stellt sich vielmehr die Frage, wovon wir sprechen: von ein paar Ausrutschern oder von einem System, das immanenter Bestandteil unserer Gesellschaft gewesen ist. Ebenso drangend die Frage: Wie konnte das vor aller Augen geschehen? Denn alle wussten, was in den Heimen lauft: Lehrer, Erzieher, die zustandigen Behorden und Amter. Die Drohung "Wenn du nicht parierst, landest in Eggenburg!" war Erziehungsstandard der 1960er-Jahre. Die Verhei?ung des Paradieses war damit wohl nicht gemeint.

Wenn ich an die eigene Internatszeit denke: Wieso hat unsere Volksschullehrerin den Sadismus der Erzieherin nicht bemerkt? Warum hat sich dem prugelnden Internatsleiter niemand entgegenstellt? Unser Klassenvorstand - aufrechter, weltoffener Sozialdemokrat, spater auch SP-Nationalrat, zu uns immer korrekt - hat nie mitbekommen, was sich im Internat abspielt?

Unhaltbare These

So viele Zuschauer, so viele Fragen. Erst 1968 brachen bei uns ein paar aufmupfige Junglehrer das Schweigen und brachten das System erstmals ins Wanken.

Die anfangliche These, die sexuellen oder sexuell unterlegten Gewalttaten hatten ihre Wurzel vorwiegend im Zolibat, ist jedenfalls unhaltbar, denn sie waren Bestandteil aller Internatssysteme mit immer denselben Methoden: Aufessen von Erbrochenem; Prugel; sexuelle Demutigungen bis zum handgreiflichen Missbrauch; Bettnassern wird das uringetrankte Leintuch ins Gesicht gedruckt; als Sportausubung (1000 Kniebeugen) getarntes Menschenschinden. Schikanose Sprechverbote werden zur Folter, einfaches Schuhputzen durch vielfache Wiederholung zur lustvoll zelebrierten Qualerei von Zoglingen. Noch die kleinste Abweichung von sinnlosen Normen - selbst schon eine Marter fur sich - wird mit psychischer und physischer Folter geahndet: eine Falte im Leintuch, die Wasche im Kasten nicht schnurgerade wie am Lineal ausgerichtet, zu langsames Gehen am Gang, zu schnelles Gehen am Gang. Jede Handlung kann zur Bestrafung fuhren. Es gibt keine Relation zwischen "Vergehen" und Strafma?. Der einzige Ma?stab sind die Launen der Erzieher. Was heute "nur" eine Ohrfeige nach sich zieht, artet morgen zur Prugelorgie aus. Attacken auf die korperliche Integritat der Heranwachsenden sind alltaglich: vom Puffercheck bis zum Kopf-gegen-die-Wand-Schmettern, vom Ohrenreiberl bis zum Fausthieb in den Magen.

Wieso haben die Eltern zugeschaut? Am Wilhelminenberg hatten sie zwar nichts zu melden, aber in die "normalen" Internate schickten einen die Eltern freiwillig. Die traurige Wahrheit: In den Familien ging es oft nicht viel besser zu. Die Vater hatten das Recht der korperlichen Zuchtigung. Wer zu Hause die "gsunde Watschn" bekam, war noch gut bedient. Gewalttatige Vater gab es in gro?er Zahl und quer durch alle sozialen Schichten. Das Verstandnis von Padagogik verharrte im Wilhelminischen Zeitalter. Die Erzieher - entweder alte Nazis oder von solchen erzogen - waren autoritar gebrochene Charaktere und durften sich mit gro?en Teilen der Bevolkerung einig fuhlen.

Regierungskommission ...

Wahrscheinlich wirkte auch die Verrohung durch zwei Weltkriege nach. Die Erziehung war durchmilitarisiert: "Spatestens beim Heer werden sie dir die Wadln 'virerichten'". Brutale Ausbildner beim Bundesheer setzten fort, was Elternhaus und Internate begonnen hatten. Gewalt in der Erziehung war alltaglich und strukturell - und somit Ausdruck von massivem gesellschaftlichem Versagen, mit dessen Folgen die so "Erzogenen" ihr Leben lang umgehen mussten. Manche schafften es, manche nicht. Unter meinen Mitzoglingen haben diese Jahre zumindest zweien das Leben gekostet. Ich wei? das, denn ich war mit ihnen uber die Internatszeit hinaus befreundet. Einer starb weit vor der Zeit an "gebrochenem" Herzen, ein zweiter beging Selbstmord. Von den meisten wei? ich nicht, was aus ihnen geworden ist. Eine dunklere Dunkelziffer lasst sich kaum denken: Wir sprechen von zigtausenden Opfern dieses Systems. Ein paar unsystematisch vor sich hin werkelnde Kommissionen - das kann doch nicht alles gewesen sein!

Seit Jahren fuhren wir das gro?e Wort von der "Aufarbeitung der Vergangenheit" im Mund. Bitte sehr, hier tut sich ein weites Feld auf, Zeit fur Licht ins Dunkel! Soeben hat der in Jugendfragen zustandige Minister Mitterlehner zumindest eine Diskussion uber eine Regierungskommission fur Missbrauchsopfer gefordert. Frau Klasnic hat sich ihm angeschlossen. Man sollte beide beim Wort nehmen. Wie ware es diesmal mit einer Kommission, von der man wei?, was sie tut? Kommissionen hatten wir genug: Klasnic, demnachst Helige, weiters eine Au?enstelle des Wei?en Ringes, dazu eine bislang geheime Historikerrunde fur Wien. Wer kennt sich da noch aus? Nicht unbegrundet ist der Verdacht, hier wurden die Opfer mit einer "Wiedergutmachung" abgespeist, die nach einem missgluckten (oder zumindest als unglucklich erfahrenen) Leben nichts "gutmachen" kann. Wir schulden den Opfern eine ordentliche Aufklarung der Vorgange, nicht Kommissionen von denen man erst Jahre nach ihrer Grundung erfahrt und deren genaue Aufgabe und Zusammensetzung man bis heute nicht kennt!

Es muss endlich Schluss sein mit dem unkoordinierten Kommissionsunwesen. Weg mit den vielen Gremien, eine einzige, bundesweite Kommission zum Thema Heim-"Erziehung" seit 1945 gehort her, ahnlich jener in Sachen Restitution, und eine klare Aufgabenstellung: Kataster aller Internatseinrichtungen in Osterreich nach 1945; Auflistung aller Personen, die dort tatig waren, zentrales Melderegister fur Betroffene bzw. Zoglinge; Katalogisierung aller "Erziehungs"-Methoden.

... statt Gremiensalat

Ziel dieser Kommission sollte erst in zweiter Linie die Entschadigung der Opfer sein - vorrangig ware ein wissenschaftlich gesicherter Uberblick uber das System "Internat", die Feststellung einer plausiblen Opferzahl und - soweit moglich - die Erforschung der Ursachen und Folgen dieser Terrorherrschaft. Die Anforderungen einer solchen Forschungsarbeit verlangen eine breite Streuung der Fachkompetenzen und die Einbindung der Betroffenen - ohne deren Mitarbeit wird vieles nicht aufklarbar sein.

Ganz ohne Spuren wird diese "Erziehung" nicht geblieben sein. Diese zu finden und zu interpretieren wird mit Sicherheit Wertvolles zum Verstandnis der Gemutslage unseres Landes beitragen, auch wenn der Blick zuruck mit Gewissheit weitere Schrecklichkeiten offenbaren wird. Erst wenn die Systematik geklart ist, kann man vernunftig uber letztlich bescheidene finanzielle Gutmachungen sprechen. Verlorene Jahre kann man sowieso niemandem zuruckgeben. (Michael Amon, DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2011)

Autor

Michael Amon lebt als freier Schriftsteller in Wien und Gmunden. Soeben erschien sein autobiografischer Roman "Fromme Begierden", der uber Missbrauch und Gewalt im Internat der Neulandschule - und deren Geschichte im Kontext der katholischen Erneuerungsbewegung "Bund Neuland" erzahlt.

 
 

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