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  Schluss Mit Dem Taterschutz!

Zeit Online
November 28, 2011

http://www.zeit.de/2011/48/Opfer-Missbrauch

Norbert Denef ist Sprecher des deutschlandweiten Netzwerks Betroffener.

DIE ZEIT: Herr Denef, wieso wollen Sie die Bundesrepublik Deutschland verklagen?

Norbert Denefl: Weil unsere Regierung nicht bereit ist, ihre politische Fursorgepflicht gegenuber den Opfern sexualisierter Gewalt zu erfullen.

ZEIT: Wie das? Sie hat doch letztes Jahr einen Runden Tisch zum sexuellen Missbrauch gegrundet.

Denef: Ja, aber jetzt ist klar, dass dieser Runde Tisch das entscheidende Aufarbeitungsproblem nicht angepackt hat: die dringend notwendige Aufhebung der Verjahrungsfristen. Deshalb halte ich ihn fur gescheitert, und so geht es vielen Opfern. Am 30. November tagt das Gremium zum letzten Mal, die abschlie?enden Vorschlage aller Parteien liegen auf dem Tisch, aber keine unterstutzt uns Betroffene bei unserem wichtigsten Anliegen. Deshalb werden wir beim Europaischen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik klagen. Wohin sollen wir uns wenden, wenn wir uns von der Politik verraten fuhlen?

ZEIT: Was spricht gegen die Verjahrungsregel?

Denef: Dass sie den Charakter der sexualisierten Gewalt vollkommen verkennt. Wir haben es hier mit Taten zu tun, die einer Psychologie des Schweigens folgen. Das Missbrauchserleben ist extrem scham- und angstbesetzt, fast immer haben die Opfer Schuldgefuhle. Deshalb konnen die meisten ihr Leid zunachst nicht artikulieren. Abhangigkeit vom Tater, Traumatisierung und Verdrangung fuhren dazu, dass viele Betroffene sich, wenn uberhaupt, erst nach vielen Jahren zur Klage durchringen. Aktuelle Forschungsergebnisse sagen, dass die Schweigezeit von der Tat bis zum Outing oft Jahrzehnte dauert. Dem tragt weder unser Strafrecht noch unser Zivilrecht Rechnung.

ZEIT: Wie ist die geltende Rechtslage im Strafrecht?

Denef: Wahrend Vergewaltigung und sexuelle Notigung erst nach 20 Jahren verjahren, verjahrt sexueller Missbrauch innerhalb von nur zehn Jahren – jeweils gerechnet vom vollendeten 18. Lebensjahr des Betroffenen an. Im Falle von minderjahrigen Schutzbefohlenen sind es sogar nur funf Jahre.

ZEIT: Wieso? Sind Minderjahrige weniger schutzwurdig?

Denef: Der sexuelle Missbrauch von Kindern wird nicht als Verbrechen, sondern als Vergehen definiert. Das ist ein Skandal, gegen den die Justizministerin von Bayern nun schon seit Jahren kampft.

ZEIT: Und was sagt das Zivilrecht?

Denef: Im Zivilrecht verjahren die Anspruche Betroffener sexuellen Missbrauchs innerhalb von drei Jahren. Nur wenn Leib und Leben bedroht sind, betragt die Frist 30 Jahre. Das will der Runde Tisch andern, sodass auch die Verjahrungsfrist fur sogenannten leichten Missbrauch auf drei?ig Jahre angehoben wird. Allerdings rechnet man dann nicht mehr wie bisher von Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers an, sondern vom Zeitpunkt der Tat an.

ZEIT: Was hei?t denn »leichter Missbrauch«?

Denef: Schon der Begriff »Missbrauch« ist falsch, denn es handelt sich bei einem Menschen nicht um einen Gebrauchsgegenstand, den man auch gebrauchen konnte, sondern die Opfer haben Gewalt erlebt. Da diese Verbrechen weder etwas mit Sexualitat, noch mit Liebe und Zuneigung zu tun haben, sprechen wir von sexualisierter Gewalt. Leider verwendet der Gesetzgeber immer noch die falschen Worter, wodurch die Taten bagatellisiert werden, nach dem Motto: Das Opfer soll sich nicht so haben. Oft kann angeblich »leichter Missbrauch« einen Menschen so schadigen, dass er lebenslang darunter leidet oder sich sogar das Leben nimmt. Hier ist die Politik gefragt, endlich die richtigen Worter zu verwenden, besonders in den Gesetzestexten.

ZEIT: Sind 30 Jahre gar kein Fortschritt?

Denef: Nein, das ist politische Kosmetik. Warum werden die Verjahrungsfristen nicht vollstandig aufgehoben? Sie setzen Opfer unter Druck, im vorgegebenen Zeitrahmen zu klagen. Im Zivilrecht sind die Fristen besonders absurd, weil es hier auch um Entschadigungszahlungen geht, fur die die Spatfolgen der Tat einkalkuliert werden mussen. Spatfolgen zeigen sich nun einmal spat.

ZEIT: Sie haben das am eigenen Leib erfahren.

Denef: Bei mir dauerte es 35 Jahre, bis ich das Schweigen brechen und den Satz sagen konnte: Ich wurde sexuell missbraucht. Da war ich 44 Jahre alt. Ich litt unter Panikattacken, Schlafstorungen und einer komplexen posttraumatischen Belastungsstorung.

 
 

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