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Keine Entschadigung, Aber Hilfe

The Domradio
January 2, 2012

http://www.domradio.de/aktuell/78944/bund-laender-und-kirchen-starten-fonds-heimerziehung.html

Betroffene Heimkinder: Fonds reicht nicht aus (©dapd)

Ab sofort konnen ehemalige Heimkinder in Deutschland Antrage auf finanzielle Hilfen stellen. Bund, Lander und Kirchen starteten mit Jahresbeginn 2012 den „Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“. Betroffene, die in kirchlichen und staatlichen Heimen unter Misshandlungen und Missbrauch leiden mussten, konnen sich an Anlauf- und Beratungsstellen in den westdeutschen Bundeslandern wenden.

Der Bundestag hatte Anfang Juli einen Fonds von 120 Millionen Euro beschlossen, der zu je einem Drittel vom Bund, den Landern und den Kirchen, darunter Bistumer, Wohlfahrtsverbande und Orden, finanziert wird. Der Runde Tisch rechnet mit 30.000 Anspruchsberechtigten. Antrage konnen bis zum 31. Dezember 2014 gestellt werden.

In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche in Sauglings-, Kinder- und Jugendheimen in der Bundesrepublik, davon bis zu 600.000 in kirchlichen Einrichtungen. In den vergangenen Jahren war aufgedeckt worden, dass viele von ihnen drakonische Strafen, Misshandlungen und Missbrauch erdulden mussten. Ein Heimkind zu sein, „blieb in der Geschichte der Bundesrepublik immer ein Stigma“, hei?t es in einer im vergangenen Mai vorgestellten Studie der Ruhr-Universitat Bochum, die sich vor allem mit den Zustanden in kirchlichen Heimen befasst.

Massive Missstande

Massive Missstande haben der katholische Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg und sein evangelischer Kollege Traugott Jahnichen dabei festgestellt. „Nicht wenige“ Kinder und Jugendliche hatten die Heime als „totale Institutionen“ erlebt, in denen sie eingeschrankte Rechte, drakonische Strafen sowie Demutigungen und Misshandlungen bis zu sexuellem Missbrauch erdulden mussten. Die Strafen reichten vom Essensentzug uber die Isolierung bis zu Qualereien. So wurden einem Heimzogling nach einem Fluchtversuch die Haare abgeschnitten. Bei Bettnassern sei „das morgendliche Herumlaufen mit der nassen Bettwasche vor den anderen Kindern und Jugendlichen uberliefert“, betont der Bericht.

Damberg und Jahnichen verweisen allerdings auch auf die damals geltenden Erziehungsvorstellungen und die Situation der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit. So betonen die Kirchenhistoriker, dass Ordnung und Disziplin in den 50er Jahren einen hohen Stellenwert hatten. Insbesondere in den ersten Jahrzehnten seien die Heime finanziell und personell straflich vernachlassigt worden.

Der Bericht der Kirchenhistoriker war ein Baustein dafur, dass die Gesellschaft das Leid vieler Heimkinder anerkennt. Ein Ziel, fur das viele Betroffene lange vergeblich gekampft hatten. Ausgelost hatte die bundesweite Debatte 2006 ein Buch des Spiegel-Autors Peter Wensierski unter dem Titel „Schlage im Namen des Herrn“. Der Petitionsausschuss des Bundestags befasste sich anschlie?end mit dem Thema. 2009 nahm der „Runde Tisch Heimerziehung“ seine Arbeit auf. Auch Bundeslander setzten Forschungskommissionen ein, die das Schicksal der Heimkinder aufarbeiten sollten.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, zeigte sich am Montag in Bonn uber den Start des Fonds erleichtert. „Ich freue mich, dass nun ein Angebot fur ehemalige Heimkinder vorhanden ist, das ihre zentralen Anliegen berucksichtigt: das Bedurfnis nach Aussprache, der Wunsch nach Anerkennung, Beratung und therapeutischer Hilfe sowie finanzielle Hilfen.“

Erfolgreiche katholische Hotline

Zollitsch wies in diesem Zusammenhang auch auf die katholische Heimkinder-Hotline hin, die seit zwei Jahren Betroffenen die Moglichkeit bietet, sich zu personlichen Fragen und Problemen in Bezug auf die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse in Heimen in Tragerschaft der katholischen Kirche zu informieren und Beratung in Anspruch zu nehmen. Dieses Angebot, das bislang von rund 600 Personen in Anspruch genommen worden sei, bestehe vorerst weiter.

Der Fonds konne Betroffenen helfen, heute noch nachweisbare Folgen der Heimunterbringung zu uberwinden, sagte Bundesfamilienministerin Kristina Schroder (CDU). Ahnlich au?erte sich der Prasident des EKD-Kirchenamtes, Hans Ulrich Anke. „Die Leistungen konnen nichts ungeschehen machen, aber sie sollen Menschen helfen, die Folgen besser zu bewaltigen“, sagte Anke.

Anlauf- und Beratungsstellen in den westdeutschen Bundeslandern und Berlin beraten ab jetzt Betroffene und ermitteln den konkreten Hilfebedarf. Fur Betroffene aus Sauglings-, Kinder- und Jugendheimen sowie Jugendwerkhofen der ehemaligen DDR ist geplant, bis zum Sommer entsprechende Regelungen und Grundlagen zu schaffen.

Keine pauschale Entschadigung

Uber den Fonds kann Betroffenen Hilfe gewahrt werden, soweit durch die Heimerziehung heute noch Traumatisierungen oder andere Beeintrachtigungen und Folgeschaden bestehen und dieser besondere Hilfebedarf nicht uber die bestehenden Hilfe- und Versicherungssysteme abgedeckt wird. Der Fonds sieht vor, so wenig Leistungen wie moglich in Geld auszuzahlen. 100 Millionen Euro sind fur Sachleistungen vorgesehen, 20 Millionen flie?en in Rentenersatzanspruche.

Manche der betroffenen Heimkinder allerdings hatten sich mehr gewunscht: Sie kritisieren, dass der Runde Tisch die Begriffe „Menschenrechtsverletzungen“ und „Zwangsarbeit“ in seinen Empfehlungen gemieden habe. Auch die jetzt in Kraft getretene Wiedergutmachungsregelung reicht ihnen nicht. Mit dem Fonds sollen zwar entgangene Rentenanspruche ausgeglichen und Therapien bezahlt werden. Pauschale Entschadigungen soll es aber nicht geben. Die Ex-Heimkinder beharren auf mehr. Sie fordern 300 Euro Monatsrente oder 54.000 Euro Einmalentschadigung.

Hinweis: Auf der Website zum Fonds sind ausfuhrliche Informationen zum Fonds, zur Antragstellung und zu den Zustandigkeiten der Beratungsstellen zu finden. Ein kostenloses Infotelefon gibt Auskunft uber die zustandige Beratungseinrichtung: Tel. 0800 1004900 (montags: 8 Uhr bis 14 Uhr; dienstags, mittwochs,

freitags: 16 Uhr bis 22 Uhr; sonntags: 14 Uhr bis 20 Uhr)

 

 

 

 

 




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