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„ein Entschadigungs-bluff“

Streiflichter
February 13, 2012

http://www.streiflichter.com/ein-entschaedigungs-bluff.html

Dulmen. Christina Stadie aus Dulmen und Gregor Ter Heide aus Osnabruck verfassten gemeinsam die Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht fur hunderttausende Opfer von Willkur, Zwang und Gewalt in der Heimerziehung zwischen 1949 und 1975. Der Beschwerdefuhrer ist Friedhelm Munter aus Dulmen, der am 24. November 2011 personlich nach Karlsruhe gefahren ist. Mit ihm, der als Kind und Jugendlicher hautnahe Erfahrungen als Kinderheimkind machen musste, sprach Streiflichter-Mitarbeiter Reimund Menninghaus (siehe auch Seite 2):

Streiflichter: Herr Munter, Sie haben am 24. November vergangenen Jahres beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht. Konnen sie uns kurz den Grund und den Inhalt Ihrer Beschwerde mitteilen?

Friedhelm Munter: Die Beschwerde richtet sich gegen die Bundesrepublik Deutschland als eigentlicher Verursacher von Menschenrechtverletzungen an mir und an einer gro?en Anzahl von anderen ehemaligen Heimkindern. Dies ist am „Runden Tisch Heimerziehung“ nicht ausreichend beachtet worden. Hier handelt es sich um die systematische Missachtungen und die Verletzung der Menschen- und Grundrechte von Babys, Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung zwischen 1949 und 1975, die bis heute nicht geahndet und deren Verursacher nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Das mir und hunderttausenden von Betroffenen zugefugte Unrecht und Leid war verfassungswidrig und waren schwere Menschenrechtsverletzungen an in Obhut genommenen Kindern. Es handelt sich um hunderttausendfache Verbrechen, die die demokratisch und rechtsstaatlich verfasste Bundesrepublik zu verantworten hat – denn sie verfugte uber alle Instrumente, solche Verbrechen zu verhindern.

Streiflichter: Dies alles ist aber doch Jahrzehnte her. Kommen Sie da nicht angesichts der allgemeinen Verjahrungsfristen Jahrzehnte zu spat?

Friedhelm Munter: Von Verjahrung kann uberhaupt nicht die Rede sein, auch wenn das immer wieder als feststehende Tatsache behauptet wird. Wir Betroffenen sind haufig traumatisierte Menschen, denen niemand Gehor schenkte. Wir hatten keinen Beistand, und wir sind durch ein geschlossenes System bis zur Volljahrigkeit verwaltet worden. Wir lebten in einem rechtsfreien Raum, entrechtet, entmenschlicht und zur Sache gemacht. Ob die Traumatisierung als Verjahrungshemmung anerkannt wird, steht zurzeit beim BGH noch aus, und die Anerkennung der schweren Menschenrechtsverletzungen und Zwangsarbeiten, die keiner Verjahrung unterliegen, werde ich jetzt klaren lassen. Die UN-Charta, die Europaische Menschenrechtskonvention und die EU-GrundrechteCharta kennen keine Verjahrung, und weil nachweisbare schwere Menschenrechtsverletzungen vorhanden sind, muss der deutsche Staat wegen seiner damals beweisbar fehlenden Wahrnehmung der Aufsichtspflicht voll haften. Die Verjahrung gilt nach dem deutschen Strafgesetzbuch bereits schon nicht bei Mord; jetzt muss die Menschenrechtsverletzung noch der Unverjahrbarkeit hinzugefugt werden.

Streiflichter: Die rechtliche Prufung der Durchsetzbarkeit von Anspruchen sollte doch der Runde Tisch auch aufgreifen?

Friedhelm Munter: Ganz recht, das Gremium des Runden Tischs Heimerziehung (RTH) hat vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, nachdem ehemalige Heimkinder in einem au?ergewohnlichen Petitionsverfahren auf ihre Geschichte aufmerksam gemacht und ihre Rehabilitation sowie Entschadigungen gefordert hatten, 2008 den Auftrag erhalten, dass die Anliegen der Heimkinder, das hei?t das Aufarbeiten der Geschehnisse und Erlangen von Genugtuung, im Rahmen eines Runden Tisches/Konferenz einer Losung zugefuhrt werden sollen.

Streiflichter: Das wurde doch auch alles so durchgefuhrt und Ende 2010 als finale Losung ein Fonds auf den Weg gebracht. Was ist daran rechtswidrig und undemokratisch?

Friedhelm Munter: Die Losung war Ende 2010 die Errichtung eines Fonds, der einem Entschadigungs-Bluff gleichkommt. Verantwortliche Institutionen konnen sich durch symbolische Zahlungen aus der Haftung nehmen lassen. Die Opfer haben dabei keinen Rechtsanspruch auf Leistungen aus dem Fonds, sollen aber gleichzeitig bei der Beantragung einer Leistung eine Verzichtserklarung auf zukunftige Anspruche und Rechtswege unterschreiben. Die Leistungsgewahrung ist ein willkurlicher Gnadenakt und umfasst eventuelle Rentenersatzleistungen, die fur Arbeitseinsatze zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr erbracht werden. Zudem konnen Sachleistungen fur sogenannte Folgeschaden gewahrt werden.

Streiflichter: Warum kritisieren Sie die Freiwilligkeit der Leistungen? Es wird doch einer moralischen Verpflichtung nachgekommen.

Friedhelm Munter: Weil die Absicht dahinter der nachhaltige Haftungsausschluss fur die – sagen wir mal – „Tater-Institutionen“ ist. Ich personlich habe bereits drei Schriftstucke aus Korrespondenzen mit der Diakonie in Munster, der Stiftung Nazareth-Bethel in Bielefeld und dem Kuratoriumsvorsitzenden von der Mellin‘schen Stiftung, die sich alle in Bezug auf meine Forderung nach einer Wiedergutmachung und nach Entschadigungszahlungen auf das Ergebnis vom Runden Tisch Heimerziehung beziehen und dessen Fonds-Losung. Bereits im Sommer 2010 wurde mir in einem Vier-Augen-Gesprach von einer Spitzenfunktionarin der Diakonie unverhohlen gesagt, dass es keine Einzelfallentscheidungen geben werde, da seien sich alle Juristen einig. Wenn es den Verantwortlichen um eine tatsachliche Wiedergutmachung ginge, hatten sie immer die Moglichkeit, auf die sogenannte Einrede der Verjahrung zu verzichten. Diesen Schritt gehen sie aber nicht und haben stattdessen einen Alibi-Fonds einrichten lassen, an dem sich ehemalige private Heimtrager und adelige Stiftungen nicht beteiligen.

Streiflichter: Die Einrichtung des Fonds und dessen Umsetzung wurde doch einstimmig landerubergreifend zusammen mit den Vertretern der evangelischen wie auch der katholischen Kirche beschlossen. Haben die Institutionen insgesamt so wenig juristischen Sachverstand, dass sie es auf eine Klagewelle ankommen lassen?

Friedhelm Munter: In der Tat waren sich alle einig – und um auf den juristischen Sachverstand einzugehen: Die Institutionenvertreter besitzen sicher nicht nur halbseidene, oberflachig arbeitende Schnellschie?er, da steckt sehr viel Umsicht und juristische Finesse dahinter und daruber hinaus professionelle Offentlichkeitsarbeit, die massiv manipulative Botschaften streuten und Betroffene einschuchterten. Die Arbeit hatte Methode und war langfristig angelegt mit dem Ziel, die Opfer mit dem kleinstmoglichen finanziellen Aufwand nachhaltig ruhig zu stellen.

Streiflichter: Aber ist es nicht historisch ein einmaliger Vorgang, dass sich in der Aufarbeitung der Vergangenheitsschuld von Staat und Kirche eine Einigkeit gezeigt hat?

Friedhelm Munter: Genau: erneut Einigkeit. Aber handelt es sich wirklich um eine Aufarbeitung? Ich sehe das nicht so, denn der Runde Tisch Heimerziehung hat das Zusammenwirken von Staat, Kirche und privaten Tragern relativiert und den Systemcharakter geleugnet. Zu diesem System gehorte beispielsweise, dass Straftater in den allermeisten Fallen von den Tragern der Einrichtungen der Strafverfolgung entzogen wurden und sich damit unbeschadet uber die Verjahrungsfristen hinweg retten konnten. Gleichzeitig wurden ihre Opfer als „unglaubwurdig“ diskriminiert. Nur durch die gegenseitige Legitimation des Kartells von Staat und Kirche – und man hat au?erdem die privaten Trager und den Adel mit seinen Stiftungen gar nicht miteinbezogen – konnte das institutionelle-Unrechtssystem Jahrzehnte straffrei funktionieren.

Streiflichter: Sie sprechen von einem System. Was macht sie da so sicher?

Friedhelm Munter: Meine eigene Geschichte mit all den qualvollen Erinnerungen aus 15 Jahren Aufenthalt in Kinderanstalten und fast taglichen Begegnungen mit den Damonen von damals, die Auswertung meines umfassenden Aktenmaterials, Original-Dokumente, Zeitzeugen-Interviews, Fachliteratur, Berichte und Aussagen von Betroffenen, Expertisen und Studien, die vom Runden Tisch Heimerziehung in Auftrag gegeben wurden, und nicht zuletzt der Zwischen- und Abschlussbericht des Runden Tischs Heimerziehung. In dieser Hinsicht musste ich eigentlich dankbar sein, dass der Runde Tisch diese fur mich unbezahlbaren Expertisen in Auftrag gegeben und der Offentlichkeit zur Verfugung gestellt hat.

Streiflichter: Sie sind also dem Runden Tisch in der Tat dankbar fur seine Arbeit?

Friedhelm Munter: Ja, denn er hat auch deutlich gemacht, wie strategisch Verletzungen von Grundgesetzartikeln und Begriffe wie Zwangsarbeit beziehungsweise erzwungene Arbeit von Kindern und Jugendlichen abgeschwacht wurden – ich zitiere aus dem Zwischenbericht des Runden Tisches: „ … auch wenn Kinder und Jugendliche zur Arbeit gezwungen wurden, und auch wenn sie dies als ,Zwangsarbeit‘ empfunden haben … handelt es sich also nicht um wirkliche, sondern lediglich um gefuhlte Zwangsarbeit.“

Streiflichter: Haben Sie als Beschwerdefuhrer ahnliches selber erlebt?

Friedhelm Munter: Aufgrund meiner personlichen Erfahrungen sage ich ganz offen: Der Trager der von Mellin‘schen Stiftung in Werl, das verantwortliche Kuratorium, hat mich von 1960 bis 1966 nicht in Obhut genommen, sondern als Kindersklave in der Anstalt „Knabenheim Westuffeln“ gehalten. Alles, aber auch alles geschah unter Zwang. Das oberste Gebot war: Befehl und unmittelbarer Gehorsam – und wehe dem, wenn nicht! Mir wurde in zwei Telefonaten 2011 und in diesem Jahr unabhangig voneinander von zwei Kuratoriumsmitgliedern der von Mellin‘schen Stiftung entgegen gebracht: „Es lag an jedem einzelnen Kind selbst, wie hoch der Leidensdruck war.“ Und: „Das ist Ihre Ansicht der Version.“

Streiflichter: Haben Sie bereits Mitteilung vom Bundesverfassungsgericht erhalten?

Friedhelm Munter: Ich habe schriftlich ein Aktenzeichen bekommen und laut telefonischer Aussage liegt der Vorgang bei der Richterin auf dem Tisch.

Streiflichter: Herr Munter wie schatzen Sie Ihre Chancen, noch etwas auf dem Rechtsweg zu erreichen?

Friedhelm Munter: Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass es ein gerechtes Urteil geben wird – ob nun vom deutschen Bundesverfassungsgericht gesprochen oder eine Stra?e weiter beim Europaischen Gerichtshof. Dies ist ja letztendlich nicht wichtig, denn wir sind ja keine Insel, sondern wir sind alle Europaer, ausgestattet mit den selben Rechten.

 

 

 

 

 




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