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Kaum Jemand Nimmt DAS Geld

By Christian Althoff
Westfallen-Blatt
February 27, 2012

http://www.westfalen-blatt.de/nachricht/2012-02-24-kaum-jemand-nimmt-das-geld/?tx_ttnews[backPid]=613&cHash=3ef2162b0b83bfe6ea5e5acecdbbfc6f

Hubert Groppe vor der Kinderpsychiatrie Marsberg.

Hubert Groppe als Kind.

Paderborn/Bünde (WB). Viele ehemalige Heimkinder lehnen es ab, Geld aus dem 120-Millionen-Fonds zu beantragen, den es seit Jahresanfang gibt. Sie kritisieren, dass sie eine weitreichende Verzichtserklärung unterschreiben sollen.

In den kirchlichen und staatlichen Heimen Westfalen-Lippes wurden zwischen 1945 und 1980 jährlich 6000 bis 9000 Kinder und Jugendliche aufgenommen. »Oft reichten banale Anlässe wie Unsauberkeit oder Lügen, um Kinder in Heime zu stecken«, weiß Professor Bernd Walter, Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Viele Heimkinder wurden misshandelt, sie mussten Erbrochenes essen oder ohne Lohn in der Landwirtschaft oder für Unternehmen wie Claas, Hella und Miele arbeiten.

Im vergangenen Jahr hatten sich Bund, Länder, die beiden großen Kirchen, der Caritasverband, das Diakonische Werk und die Deutschen Orden auf einen 120 Millionen Euro umfassenden Fonds geeinigt, der ehemaligen Heimkindern helfen soll. Markus Fischer, Sprecher beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in Münster, einer der beiden Anlaufstellen in NRW: »Zum einen bezahlt der Fonds traumatisierten Menschen Therapien. Zum anderen zahlt er Heimkindern, die arbeiten mussten, aber weder Lohn bekamen noch Rentenansprüche erwarben, eine Pauschale.« Pro Monat Arbeit sollen Männer einmalig 170 Euro, Frauen 200 Euro bekommen.

Obwohl das Geld tausenden früherer Heimkinder zusteht, liegen dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe erst 350 Anträge vor. »Wir raten Betroffenen, sich das mit dem Antrag sehr gut zu überlegen«, warnt Monika Tschapek-Güntner, Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder. Denn jeder Antragsteller müsse unterschreiben, keine weiteren Ansprüche gegen die Gründer des Fonds zu stellen. »Deshalb werde ich auch auf gar keinen Fall eine Entschädigung beantragen«, sagt Reiner Klein (66) aus Bünde. Er war nach dem Tod seiner Eltern ins Salvator-Kolleg nach Hövelhof gekommen. »Ich war zwölf, als mich dort ein Ordensbruder missbrauchte.« Später habe er in einem anderen Heim Waschbetonplatten herstellen müssen. »Wenn ich jetzt eine Entschädigung für entgangene Rentenansprüche annehme, darf ich nicht mehr gegen den Orden der Salvatorianer vorgehen. Das ist doch ungerecht!«

Andere, wie Hubert Groppe aus Paderborn, haben dagegen nicht einmal die Möglichkeit, an Entschädigungen zu kommen. Groppe war als Fünfjähriger, möglicherweise wegen überfüllter Kinderheime, in die Kinderpsychiatrie nach Marsberg gekommen. In den Aufnahmepapieren heißt es lapidar, eine Ordensschwester habe den Jungen mitgebracht. Ein Arzt untersuchte ihn »nach dem Bühler-Hetzer-Entwicklungstest« und notierte, bei dem Jungen bestehe »keine geistige Unterentwicklung«. Doch Hubert Groppe musste in der Psychiatrie aufwachsen, wo er nach eigenen Angaben von Ordensschwestern, die das Haus betrieben, misshandelt wurde. Eine Entschädigung bekommt der 59-Jährige nicht: Die katholische Kirche lehnt jede Verantwortung für mögliche Taten der Ordensfrauen ab, weil die Klinik auch schon damals in der Trägerschaft des Landschaftsverbandes war. Und dieser schrieb dem Paderborner, er habe keinen Anspruch auf Hilfe aus dem Heimkinderfonds, weil er ja nicht in einem Heim, sondern in der Psychiatrie aufgewachsen sei. »Die Richtigkeit dieser Entscheidung hat uns inzwischen auch das Bundesfamilienministerium bestätigt«, sagt Markus Fischer, Sprecher beim Landschaftsverband in Münster.

Der Fonds hat übrigens noch gar kein kein Geld ausgezahlt. Denn wegen einer Gesetzeslücke darf früheren Heimkindern, die heute von Hartz IV oder anderen Transferleistungen leben, die Zahlung aus dem Fonds als Einkommen angerechnet werden, womit die staatliche Hilfe entfiele. Markus Fischer: »Deshalb warten wir jetzt mit der Auszahlung, bis die Bundesregierung einen Ausweg gefunden hat.« Wann das sein wird, ist noch unklar.

Ex-Heimkinder vertröstet

Aus dem 120-Millionen-Euro-Fonds für ehemalige Heimkinder fließt vorerst kein Geld. So soll verhindert werden, dass Kommunen früheren Heimkindern, die von Hartz IV oder anderen Transferleistungen leben, die Entschädigung als Einkommen anrechnen. Hanno Schäfer, Sprecher im Bundesfamilienministerium, sagte, man wolle den Menschen das Geld lassen. »Deshalb bemühen wir uns, mit den Kommunen eine Regelung zu finden.« Gelinge das nicht, müsse ein Gesetz her, was aber dauern würde. Bund, Länder, Kirchen, Orden und Wohlfahrsverbände hatten in den Fonds eingezahlt. Er soll frühere Heimkinder unter anderem dafür entschädigen, dass sie arbeiten mussten, ohne Lohn zu erhalten und Rentenansprüche zu erwerben.

Schäbig

Ein Kommentar von Christian Althoff
Die Entschädigung von Heimkindern, die bis in die späten 70er Jahre in einigen kirchlichen und staatlichen Einrichtungen misshandelt, missbraucht und ausgenutzt worden sind – sie wird zur unendlichen Geschichte.
Nachdem sich Staat, Kirche und Wohlfahrtsverbände Jahrzehnte nach den Taten endlich geeinigt hatten, 120 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen, sollte das Geld jetzt fließen. Für Therapien, aber auch, um Verluste durch entgangenen Lohn und fehlende Rentenkassenbeiträge auszugleichen.
Doch es reicht nicht, wenn frühere Heimkinder ihren Anspruch nachweisen: Sie müssen unterschreiben, dass mit der Zahlung alle Forderungen abgegolten sind – sonst gibt's kein Geld. Mit dieser Regelung kaufen sich Staat und Kirchen von ihrer Verantwortung frei. Denn die paar tausend Euro, um die es im Einzelfall geht, reichen natürlich nicht, um jahrelanges Leid annähernd gutzumachen.
Wer 60 Jahre oder älter ist, wird vermutlich trotzdem unterschreiben, um zumindest noch ein wenig Geld zu bekommen. Solchen Opfern eine Verzichtserklärung abzupressen, ist schäbig.




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