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Die Zeit Der Ausfluchte Und Der Verharmlosungen Ist Vorbei – „sexuelle Gewalt Gegen Madchen Und Jungen in Institutionen“

Readers Edition
March 6, 2012

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1 Einleitung

1.1 Das DJI-Projekt „Sexuelle Gewalt gegen Madchen und Jungen in Institutionen“ im gesellschaftlichen Kontext

Nach einer langen Phase des Schweigens, der Sprachlosigkeit, des Wegschauens und des Nicht-fur-moglich-Haltens ist sexuelle Gewalt zu einem Thema der Offentlichkeit, der Medien, der Fachwelt und nicht zuletzt der Politik geworden. Das Canisius-Kolleg in Berlin, das badische Kolleg St. Blasien, die Klosterschule Ettal bei Garmisch-Partenkirchen, die Odenwaldschule in Heppenheim: Sie alle stehen stellvertretend und besonders prominent fur eine Welle der Aufdeckung sexueller Gewalt gegen Madchen und Jungen in Institutionen. Die unzulanglichen Versuche, die Folgen und Traumatisierungen des erfolgten Missbrauchs in den Einrichtungen diskret und intern zu regeln, haben durch die anhaltende offentliche Berichterstattung ein Ende gefunden. Die Zeit der Ausfluchte und der Verharmlosungen ist vorbei. Viele Opfer haben oft erst nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten den Mut und die Sprache gefunden, ihre Erfahrungen mitzuteilen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen. Davon zeugt insbesondere die Auswertung der Anrufe bei der Anlaufstelle der Unabhangigen Beauftragten (UBSKM 2011, S. 40f.). Aus Geruchten und Mutma?ungen, aus Verdachtigungen und Zweifeln sind damit Gewissheiten geworden, aus Einzelfallen wurde ein ganzes Geflecht des anhaltenden Missbrauchs in Institutionen sichtbar. Diese Initialzundung hat zu einem Dammbruch gefuhrt. Nach einer ersten Phase der Schockstarre und des unglaubigen Befremdens uber das in diesem Ausma? nicht fur moglich Gehaltene ist eine neue Kultur der Versprachlichung, des Hinsehens und der offentlichen Konfrontation entstanden.

Es gibt viele Grunde, warum sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Institutionen als gelegentliche Ubergriffe padosexueller Einzeltater abgetan wurde. Einrichtungen, die der Erziehung und Bildung dienen, die psychosoziale und gesundheitliche Versorgung und Vorsorge sicherstellen und die Freizeitangebote aller Art vorhalten, konnen auf einen Vertrauensvorschuss bauen. Kaum jemand hat in Betracht gezogen, dass sexuelle Gewalt durch Professionelle oder ehrenamtlich Tatige ausgeubt werden kann. Umso gro?er sind nach bekannt gewordenen Aufdeckungen die Verunsicherung und der Vertrauensverlust in die Institutionen und Personen, die eigentlich sichere Orte fur Kinder und Jugendliche garantieren sollen. Es besteht ein Vertrauensverlust von Kindern und Jugendlichen in Betreuungspersonen, ein Vertrauensverlust von Eltern in die Institutionen und die darin Tatigen, ein Vertrauensverlust von verantwortlichen Behorden in die Einrichtungen.

Brisanten Problemen droht, dass sie tabuisiert werden. Sie losen Angst und Scham aus, und aus Grunden des Selbstschutzes werden sie lieber verleugnet. Die darauf bezogenen Diskurse benotigen lange, um aus der Tabuzone in den offentlichen Bereich zu kommen, um Arbeitsfelder dafur zu professionalisieren und um in Forschung und Entwicklung zu investieren.

Dass dieses Thema jedoch nicht gleich wieder nach dem ansonsten ublichen kurzen Medienhype von der Tagesordnung verschwunden ist, ist vor allem ein Verdienst der „Unabhangigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) (vgl. www.beauftragte-missbrauch.de), Dr. Christine Bergmann, der ehemaligen Berliner Frauensenatorin und Bundesfamilienministerin. Sie arbeitete unabhangig vom Runden Tisch, hat aber fur ihn Empfehlungen entwickelt, und fungierte als direkte und unabhangige Ansprechpartnerin fur Betroffene, aber auch fur Personen, die Missbrauch an Kindern und Jugendlichen aufdecken wollen. Sie hat beharrlich mit einem kleinen, aber sehr aktiven Team in wenigen Monaten ein Paket am Ma?nahmen und Aktivitaten geschnurt, um dieses Thema in einer nachhaltigen Form im offentlich-politischen Raum zu platzieren. Der gro?e Erfolg der „telefonischen Anlaufstelle“, die von ihr initiierte Kampagne „Sprechen hilft“, die Gesprache mit den Betroffenen, der Einbezug der Expertise von PsychotherapeutInnen und -therapeuten und auch die von ihr (in Kooperation mit dem BMBF) in Auftrag gegebene und hier vorgelegte Studie des Deutschen Jugendinstituts zur sexuellen Gewalt gegen Madchen und Jungen in Institutionen: All das tragt dazu bei, dass das Unsagbare, das Verborgene, das Unangenehme Ausdrucksformen, Orte und Foren gefunden hat, unterfuttert mit wissenschaftlicher Expertise, mit Daten und Fakten, jenseits aller auch manchmal lahmenden Betroffenheit. Die im Abschlussbericht der Unabhangigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs zusammengefassten Erfahrungen und Erkenntnisse der unterschiedlichen Aktivitaten, in die auch die Befunde der hier vorliegenden Studie einbezogen sind –, bilden die Basis fur die Empfehlungen an den Runden Tisch zur Aufarbeitung sexueller Gewalt.

Die Studie des Deutschen Jugendinstituts, deren Ergebnisse hier vorgestellt werden, wurde von der Unabhangigen Beauftragten gleich zu Beginn ihrer Amstzeit vor dem Hintergrund vergeben, dass Erkenntnisse aus einem solchen Projekt ein wichtiges Element der von ihr angesto?enen Ma?nahmen zur Aufarbeitung sein wurden. Sie hatte zum Ziel, die aktuellen Erfahrungen von ausgewahlten padagogischen Einrichtungen mit sexualisierter Gewalt zu untersuchen. Das Projekt, das von der Unabhangigen Beauftragten und vom Bundesministerium fur Bildung und Forschung finanziell gefordert wurde, hatte eine Laufzeit von einem guten Jahr, vom 1.7.2010 – 31.7.2011. Es folgte einem multidimensionalen Forschungsansatz und bearbeitete das Thema in Form von drei Modulen:

1. Literaturexpertisen zum Forschungsstand zu sexueller Gewalt und Aufarbeitung der aktuellen Praxisdiskurse,

2. Standardisierte Institutionen-Befragung in Schulen, Internaten und stationaren Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zum Umgang mit sexueller Gewalt,

3. Fokusgruppen mit von sexueller Gewalt Betroffenen als auch mit Personen, die in unterschiedlichen Bereichen und Professionen mit sexueller Gewalt befasst sind.

kompletter Text:

[Link]

Sexueller Missbrauch in den Nachkriegsjahrzehnten im Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein

Sexuelle Gewalt hat auch in den damaligen Orthopadischen Anstalten Volmarstein, heute Evangelische Stiftung Volmarstein, in den drei Nachkriegsjahrzehnten stattgefunden. Aus diesem Grunde hat die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ (FAG JHH 2006) ihren Pressesprecher Klaus Dickneite zum „Runden Tisch sexueller Missbrauch“ entsandt. Ebenfalls war Dickneite in Arbeitsgruppen verschiedener Ministerien aktiv, die das Thema der rechtlichen Umsetzung von Forderungen der Opfer bearbeiteten. Die FAG JHH 2006 hat sich bei der Tischvorsitzenden Christine Bergmann dafur eingesetzt, dass Untersuchungen zum Thema „Sexuelle Gewalt gegen Madchen und Jungen“ nicht nur in Bezug auf Einrichtungen der Erziehungshilfe, sondern auch auf solchen der Behindertenhilfe durchgefuhrt werden. Zu diesem Zweck haben die Arbeitsgruppenmitglieder Marianne Behrs und Helmut Jacob ein etwa vierstundiges Gesprach mit der Autorin dieses Abschlussberichtes gefuhrt. Die Ergebnisse dieses Gespraches sind in diese Arbeit eingeflossen.

Der Arbeitsgruppe ist bekannt, dass neben der auf ihrer Homepage angedeuteten oder klar beschriebenen sexuellen Gewalt weitere sexuelle Ubergriffe zwischen Mitarbeitern des Hauses und behinderten Schulkindern, aber auch sexuelle Misshandlungen unter den Schulern stattgefunden haben. Da dieses Thema in der Offentlichkeit tabuisiert wird, konnten weitere schriftliche Aufzeichnungen nicht angefertigt werden. Auch gilt es, zu verhindern, dass Opfer in Konfrontation mit den Geschehnissen erneut traumatisiert werden.

Es wird zunehmend starker deutlich, dass in den Orthopadischen Anstalten Volmarstein neben der psychischen und physischen Gewalt das Thema sexuelle Gewalt gleichrangig stehen musste.

Sexuelle Ubergriffe, so wurde von drei ehemaligen Schulern und einer ehemaligen Schulerin berichtet, haben sich nach der Schulzeit in der Ausbildung fortgesetzt.

 

 

 

 

 




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