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Kastriert Im Namen Des Herrn

By Benjamin Schulz
The Spiegel
May 4, 2012

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,829437,00.html

Familie Heithuis

Die katholische Kirche in den Niederlanden ließ 1956 einen Jungen kastrieren - angeblich, um ihn von seiner Homosexualität zu heilen. Diesen und mögliche weitere Fälle erwähnt ein Bericht über Missbrauch in der Kirche nicht, obwohl die Verfasser davon wussten. Der Skandal wird politisch.

Als Henk Heithuis 1958 mit Anfang zwanzig starb, hatte er so viel gelitten, dass es für mehrere Leben reicht. Über Jahre von katholischen Geistlichen gequält und sexuell missbraucht, entließ die Kirche ihn erst in die Freiheit, nachdem sie ihn durch Kastration für den kurzen Rest seines Lebens gezeichnet hatte.

Heithuis' Qualen beginnen quasi mit seiner Geburt im Jahr 1935. Als Scheidungskind verbringt er fast seine gesamte Kindheit und Jugend in Heimen. Missbrauch gehört zum Alltag, auch im von katholischen Mönchen geführten Vincentius-Stift in Harreveld. Dort lebt Heithuis von 1950 bis 1953.

Heithuis wäre eines von Tausenden Missbrauchsopfern geblieben, hätte er nicht aufbegehrt. 1956 zeigt er katholische Geistliche wegen sexuellen Missbrauchs an. Doch dies ist nicht Heithuis' Befreiung - sondern der Beginn des zweiten Teils seines Leidenswegs.

Kurz nachdem er die Geistlichen beschuldigt, wird Heithuis in die psychiatrische katholische Anstalt "Haus Padua" in Brabant und danach in das St. Joseph Krankenhaus im niederländischen Veghel eingewiesen. Dort wird er laut Gerichtsunterlagen wegen seines "homosexuellen Verhaltens" kastriert, um ihn zu "heilen". "Man dachte, der Junge hat die Geistlichen verführt", sagt der niederländische Journalist Joep Dohmen, der den Fall für die Zeitung "NRC Handelsblad" aufdeckte, SPIEGEL ONLINE.

Die Veröffentlichung hat eine Debatte über die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche ausgelöst. In den Niederlanden gibt es Streit, ob sie nicht in einem Bericht hätten erwähnt werden müssen, der Ende 2011 veröffentlicht wurde. Eine Kommission, geleitet vom früheren Den Haager Bürgermeister Wim Deetman, hatte den Report über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erarbeitet. Kastrationen kommen darin nicht vor, obwohl die Kommission über den Fall Heithuis informiert war.

Laut Krankenakte "eugenisiert"

Dem Bericht zufolge wurden seit 1945 zwischen 10.000 und 20.000 Kinder Opfer von Kirchenleuten. Darunter ist auch Heithuis. Er muss für das ihm widerfahrene Unrecht büßen.

"Die Argumentation, dass man das Opfer zum Täter macht, ist nicht selten", sagt Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Der angeblich starke Sexualtrieb der Opfer sei dafür verantwortlich, dass sie andere verführten, so die zynische Argumentation. Dadurch tauschten Täter und Opfer die Rollen - und den tatsächlichen Opfern werde das Pathologisch-Abnorme zugeschrieben. Kastrationen seien "der Versuch, über biologische Eingriffe soziale Probleme zu lösen", sagt Schmiedebach.

Henk Heithuis soll die Operation angeblich gewollt haben, eine schriftliche Einverständniserklärung gibt es aber nicht. Zum Zeitpunkt der Kastration ist Heithuis 20 Jahre alt, minderjährig nach damaligem Recht. Niemand hält es für nötig, seine Eltern in die Entscheidung einzubeziehen. In der Krankenakte steht, Heithuis sei "eugenisiert" worden - eine euphemistische Chiffre für eine Kastration, dem Sprachgebrauch der Nazis ähnlich.

Kastration war laut Journalist Dohmen keine exklusiv katholische Methode. Der Irrglaube, durch Kastrationen Homosexualität "heilen" zu können, war damals nicht nur innerhalb der katholischen Kirche verbreitet. "Es ist ein Problem der Zeit gewesen", sagt Martin Dinges vom Stuttgarter Institut für Geschichte der Medizin. Kastration sei "in der Psychiaterschaft eine praktizierte Form der Bekämpfung von Homosexualität" gewesen. Allerdings hätten die spezifischen Verhältnisse in kirchlichen Einrichtungen verschärfend wirken können.

"Zwischen seinen Beinen war nichts mehr"

Für Henk Heithuis hat die Operation verheerende Folgen. Mit der Volljährigkeit wird er als körperlich und seelisch Verstümmelter entlassen. Er fährt zur See und trifft, als er 1957 im japanischen Kobe von Bord geht, seinen Landsmann Ysbrand Rogge. Rogge schickt Heithuis nach Amsterdam, wo ihn Rogges Bruder Cornelius und Mutter Thea in Empfang nehmen und pflegen.

"Er war sehr krank und hat meinem Bruder erzählt, er sei kastriert worden", sagt Cornelius Rogge, 79, SPIEGEL ONLINE. "Henk sah schrecklich aus. Sein Wasser- und Hormonhaushalt waren durch die Kastration durcheinander." Erst durch eine Hormontherapie habe sich Heithuis' Zustand gebessert. Wenig später, am 25. Oktober 1958 stirbt er bei einem Autounfall.

Cornelius Rogge kann bestätigen, was Heithuis angetan wurde. "Als einmal keine Frauen im Zimmer waren, haben wir gesagt, er soll seine Hose runterlassen. Da habe ich gesehen, dass nichts mehr zwischen seinen Beinen war. Die Operation war sehr gründlich." Die Zeit nach seiner Rückkehr in die Niederlande verbrachte Heithuis damit, Pläne gegen die Kirche zu fassen. "Er wollte Rache", sagt Rogge - für das, was ihm in katholischen Heimen über Jahre angetan worden war. Deswegen habe Heithuis eine Klage angestrengt: "Er wollte Geld haben, weil seine Hoden entfernt worden waren."

Zu dem Verfahren kam es nicht, Heithuis starb wenige Tage nach Einreichung der Klage. "Ein anderes Auto hat Henks Wagen auf der Autobahn gerammt, Henk war sofort tot", sagt Rogge. Die Polizei habe die Sache nicht näher untersucht.

"Diese Fälle sind anonym und können nicht mehr verfolgt werden"

Rogge identifizierte die Leiche und wollte am Tag darauf aus Heithuis' Zimmer in Amsterdam die Aufzeichnungen des Verstorbenen holen. Doch das Zimmer war leer - ein Polizist hatte laut Rogge die Unterlagen beschlagnahmt. Sie sind unwiederbringlich verloren.

So blieben Rogge nur eine Handvoll Briefe, "Henks Erinnerungen an das, was er fast 20 Jahre lang durchgemacht hatte". Immer wieder wandte sich Rogge an Medien, doch mehr als 50 Jahre fand er kein Gehör. "Alle glaubten, ich sei betrunken oder verrückt. Joep Dohmen hat mich als einziger ernst genommen."

Nach zwei Monaten Recherche hatte der Journalist den Fall erhärtet und bei insgesamt zehn weiteren Männern in Briefen von Zeitzeugen Hinweise auf Kastrationen gefunden - aber keine Namen. "Das ist das Problem", sagt Dohmen. "Diese Fälle sind anonym und können nicht mehr verfolgt werden." Die Frage sei, ob diese Jungen, inzwischen alte Männer, ihre Geschichte erzählen wollten.

Auch deshalb ist der Fall Heithuis so besonders. Er ist als einziger so gut dokumentiert, dass die Identität des Opfers und seine Geschichte bekannt sind. Dohmen sagt, nach der Veröffentlichung der Artikel hätten ihn zwar weitere Leute angerufen und von Quälereien berichtet, mit denen Patienten in katholischen psychiatrischen Einrichtungen Homosexualität ausgetrieben werden sollte - Elektroschocks beispielsweise. Kastraten hätten sich aber nicht gemeldet.

Wacklige Erklärung

Der Fall Heithuis und die anderen Verdachtsfälle sind nun Gegenstand einer politischen und sozialen Auseinandersetzung. Der Deetman-Bericht identifizierte über 800 Priester und Mönche, die zwischen 1945 und 1985 Kinder missbrauchten. Kirchenoffizielle und Bischöfe wussten dem Bericht zufolge davon.

Bildhauer Rogge hatte wegen des Falles Heithuis und möglicher weiterer Kastrationen auch an Deetman geschrieben. Nichts geschah - obwohl die Niederlande in Sachen Aufklärung als vorbildlich galten."Die Deetman-Kommission hat den Fall nicht gut untersucht", sagt Rogge.

Die Kommission nahm die Kastrationen nicht in ihren Bericht auf, weil es laut der offiziellen Begründung kaum Anhaltspunkte für weitere Nachforschungen gab. Angesichts von Dohmens Recherchen "sieht diese Erklärung im besten Fall wacklig aus", kommentierte "Radio Netherlands Worldwide". Dohmen nennt es unverständlich, dass den Hinweisen auf Kastrationen nicht nachgegangen wurde. Schließlich habe die Kommission von Rogge dieselbe Information bekommen wie er, der Journalist. Es sei aber nicht belegt, dass das Thema bewusst ausgeblendet worden sei.

Zusätzliche Brisanz gewinnt der Fall, weil der Bericht auch die Rolle von Vic Marijnen nicht thematisiert. Der 1975 verstorbene Politiker der Katholischen Volkspartei war von 1963 bis 1965 niederländischer Premierminister. Zuvor leitete er bis 1959 eine Einrichtung in Harreveld, in der Heithuis von 1950 bis 1953 lebte und missbraucht wurde.

Neue Untersuchung soll Klarheit bringen

Laut "NRC Handelsblad" übte Marijnen in einem Brief an das Königshaus Druck aus, um zu verhindern, dass des Missbrauchs überführte Priester Haftstrafen bekamen. "Er hat einen Weg gefunden, Straffreiheit für verurteilte Brüder zu bekommen, das steht auch nicht im Deetman-Bericht", sagt Dohmen.

Die Verstrickung höchster politischer Kreise lässt nun die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung laut werden. Der Druck zeigt offenbar Wirkung. Das Parlament hat mit Deetman, Dohmen und anderen Experten gesprochen. Das Ergebnis: Eine Kommission aus Wissenschaftlern soll laut Dohmen eine neue Untersuchung vornehmen, um die Frage zu beantworten, ob Heithuis' Geschichte ein Einzelfall war oder Kastrationen öfter geschahen. Mit einem entsprechenden Beschluss sei in den kommenden Wochen zu rechnen.

Für Heithuis' Familie kommt die Aufarbeitung zu spät. Zwei Schwägerinnen erfuhren erst durch Dohmens Recherchen von Heithuis' Leidensweg. Außer den beiden Frauen lebt nur noch ein Bruder. "Er will nichts mehr mit der Sache zu tun haben", sagt Dohmen.

So liegt es an ihm und Rogge, den Fall nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. "Henk Heithuis ist tot", sagt Rogge. "Ich habe die Aufgabe übernommen, seine Stimme lebendig zu machen."






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