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Sexueller Missbrauch Im Kindesalter

Sexueller Missbrauch
June 1, 2012

http://www.regenbogenwald.de/themen/missbrauch/5.htm

5. Forschungsergebnisse und Psychogramm der beteiligten Personen

5.1 Ausma? und Dunkelziffer

Das wahre Ausma? von sexuellem Missbrauch lasst sich aufgrund der sehr hohen Dunkelziffer schlecht erkennen. Die Dunkelziffer liegt bei den an Kindern begangenen Missbrauchshandlungen besonders hoch. Man schatzt, dass noch etwa acht ­ zehnmal mehr Kinder betroffen sind, als bekannt wird. Die Grunde dafur sind vielseitig: Haufig ist ein Kleinkind, zu Aussagen noch nicht fahig, Opfer der Tat. Das gro?ere Kind scheut sich, Angaben zu machen, vor allem dann, wenn der Vater als Tater in Frage kommt. Das Kind lauft sogar Gefahr, fur den Zerfall der Familie und fur die nach der Verurteilung des Vaters aufkommende Not verantwortlich gemacht zu werden. Das Kind wird als der schuldige Teil angesehen und manchmal sogar als kleine Hure oder phantasievolle Lugnerin bezeichnet.

Die Opfer werden selten oder uberhaupt nicht dem Arzt in seiner Praxis vorgestellt, schon aus der Sorge heraus, es konnten Anzeigen erfolgen. Nachfolgende Untersuchungen, Begutachtungen und Vernehmungen im Ermittlungsverfahren gegen den Tater werden fur die ganze Familie als peinlich und unangenehm angesehen und sollen deshalb vermieden werden. Diese Tatsachen sprechen deutlich dafur, dass die tatsachliche Zahl von sexuellem Kindesmissbrauch weit uber der Zahl der bekannt gewordenen Falle liegt. Aus diesem Grund wird allgemein davon ausgegangen, dass in der Bundesrepublik Deutschland jahrlich ca. 300.000 Kinder sexuell missbraucht werden.

5.2 Psychogramme der Tater

Es sind keine au?eren Merkmale, die Missbrauchstater, von anderen Mannern unterscheiden. Sie sind unauffallige, ganz normale Manner, die ein Leben wie jedermann fuhren, und keineswegs jene Sonderlinge, Monster oder Psychopaten, als die sie die Offentlichkeit gerne sehen mochte. Ob vergewaltigender Vater oder Onkel, ubergriffiger Nachbar oder Priester ­ Kindesmissbraucher sind keine Au?enseiter der Gesellschaft, sonder Durchschnittsmenschen. Sie entstammen jeder Schicht, verfugen uber die verschiedensten Bildungsgrade, uben die verschiedensten Berufe aus, sind ebenso haufig arbeitslos wie andere Manner und haben ahnliche Freizeitgewohnheiten. Nichts, aber rein gar nichts deutet darauf hin, das jemand ein Kinderschander ist. Nicht einmal fur die engste Familie. Deshalb kann man niemandem von vorneherein als Tater ausschlie?en. Es gibt Uberlegungen, dass diese Manner in ihrer Kindheit selbst sexuell missbraucht wurden. Sie wollen spater nicht mehr Opfer sein, sondern identifizieren sich mit der Macht und werden auch zum Tater. Nicht jeder Mann jedoch, der ein Kind sexuell missbraucht, ist fruher Opfer eines sexuellen Missbrauchs gewesen.

So genugt es nicht, sich darauf zu beschranken, den Padophilen einfach als pervers abzustempeln. Es ist vielmehr seine Personlichkeitsstruktur und seine Handlungsweise zu verstehen. Das soll nicht hei en, sie jemals zu rechtfertigen, aber so kann ihm begegnet bzw. dem Opferschutz Rechnung getragen werden, sowohl im Falle einer Ersttat als auch einer Wiederholungstat. Der Glauben, es sei moglich, eine eindeutige Perversion zu diagnostizieren, die dann ebenso eindeutig einer gesicherten Behandlung zugefuhrt werden kann, stellt sich als Irrtum heraus. Entscheidend ist vielmehr die Kenntnis der psychischen Struktur der Tater und das Wissen um die menschliche Triebdynamik.

5.2.1 Geschlecht der Tater

Die angesichts der zunehmenden Diskussion uber Frauen als Taterinnen wichtige Frage, ob und inwiefern das Geschlecht des Taters fur das Ausma? der Traumatisierung eine Rolle spielt, ist bisher fast vollig ignoriert worden. Bei den wenigen Untersuchungen, die dieser Problematik nachgingen, zeigte sich ein Trend in die Richtung, dass Jungen sexuellen Missbrauch durch Manner negativer erleben als sexuellen Missbrauch durch Frauen.

Sexueller Missbrauch an Kindern wird nach dem Ergebnis fast aller Studien hauptsachlich durch Manner ausgeubt. Was also das Geschlecht des Taters angeht, liegen die Zahlen zwischen 93,2% und 99% fur mannliche Tater und 1,0% bis 6,8% fur weibliche Tater. Auch in auslandischen Studien liegt der Anteil von Frauen als Taterinnen meist unter 10%.

In den letzten Jahren wurde in Deutschland verstarkt uber sexuellen Missbrauch durch Frauen diskutiert. Dadurch konnte es fur Manner einfacher geworden sein, sich einzugestehen, dass ein Junge durch eine Frau sexuell missbraucht werden kann. Dies widersprach bislang allem, was ein Junge uber Geschlechtsverhaltnis gelernt hat. War es fur Manner schon schwierig genug, einen sexuellen Missbrauch durch einen Mann fur sich zu akzeptieren, durfte es bei einem durch eine Frau verubten noch wesentlich schwieriger gewesen sein.

5.2.2 Alter der Tater und Taterinnen

Uber den 1991 bei der Polizei aufgezeigte Falle von sexuellem Missbrauch (§176 StGB, BRD einschlie?lich neuer Bundeslander) waren rund 20% der Beschuldigten junger als 21 Jahre (vgl. Bundeskriminalamt 1991).

Nach verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen liegt das Alter der Tater im Wesentlichen unter 40 Jahre und meist Anfang bis Mitte 30. Hinsichtlich der Altersstruktur der Tater zeigen die Studien also, dass etwa ein Drittel der Tater selbst noch Kinder oder Jugendliche sind. Nur etwa ein Zehntel ist uber 50 Jahre. Der uberwiegende Teil der Tater ist zwischen 19 und 50 Jahre alt.

Daraus ergibt sich, dass viele Kinder und Jugendliche durch Gleichaltrige sexuell missbraucht werden; nach der Russel-Studie wurden beispielsweise 15% der innerfamiliaren Frauen durch gleichaltrige Familieangehorige missbraucht.

Nur wenige Studien beschaftigen sich mit der Frage, ob das Alter des Taters einen Einfluss auf die Folgenentwicklung beim Opfer hat. Die wenigen Studien allerdings kamen alle zu dem gleichen Schluss, dass das Trauma durchschnittlich umso gro?er ist, je alter der Tater war. Ubereinstimmend stellen sie fest, dass im Durchschnitt das Trauma mit dem Altersunterschied zwischen Opfer und Tater wachst.

5.2.3 Schichtzugehorigkeit

Bei sexueller Gewalt wird haufig vermutet, dass Tater und Opfer meistens aus sozial benachteiligten Schichten stammen. Diese Annahme bestatigt sich lediglich durch Betrachtungen sexueller Gewaltdelikte, die angezeigt bzw. bei denen ein Urteil gesprochen wurde. Gewaltdelikte in der Mittel- oder Oberschichtkommen wesentlich seltener zur Anzeige als Sexualdelikte in der Unterschicht. Der hohere soziale Status ermoglicht eine Verschleierung und Geheimhaltung des Delikts. Selektive Stichproben zeigen keine bedeutsamen Schichtunterschiede.

In der neueren Literatur und auch in offiziellen Informationsbroschuren sind die Tater als sozial bestens integriert beschrieben. Die Tater sind Manner aller sozialer Schichten. Manner, wie sie uns tagtaglich begegnen, als Elternteil, Nachbar oder als Kollege, als Hausmeister, Zahnarzt, Beamte, Handwerker, Arbeiter oder Akademiker. Die Annahme, dass sexueller Missbrauch ein Problem der unteren sozialen Schichten ist, wurde noch bis vor wenigen Jahren selbst von Wissenschaftlern angenommen.

Nach einer neueren Studie von Bange stammen 50 % der Opfer sexuellen Missbrauchs aus der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Etwa ein Drittel werden der unteren Mittelschicht zugeschrieben und nur ein Zehntel ist der Unterschicht zuzuordnen.

5.2.4 Strategien der Tater

Sexuelle Gewalt an Madchen und Jungen geschieht nicht aus Versehen, im Affekt oder ohne das dem Tater klar ist, was er tut. Die Taten sind in der Regel bewusst geplant, strategisch angelegt und zielstrebig durchgefuhrt. Budin und Johnson und Conte, Wolf und Smith haben Taterinterviews durchgefuhrt und diese gebeten, ihr ideales Opfer und ihre Strategien zu beschreiben. Es werden Kinder ausgewahlt, bei denen mit geringem Widerstand und geringem Entdeckungsrisiko gerechnet werden muss. Haufig werden passive, ruhige, verstorte, einsame Kinder ­ moglichst aus gestorten Familienverhaltnissen ausgewahlt. Kinder, die bereits sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben, sind leider besonders leichte Opfer.

Allerdings muss hier vor einer Verallgemeinerung gewarnt werden. Es sind nicht nur bedurftige, emotional deprivierte Kinder, sonder auch Kinder, die einen offenen und freundlichen Eindruck machen und vertrauensvoll auf Erwachsene zugehen. Hier setzen die Tater auf die Vertrauensseeligkeit dieser Kinder.

Zum Abschluss mochte ich einen Auszug aus einem Taterinterview vorstellen. Ich war sehr erschuttert, als ich las, mit welcher Raffinesse die Tater wehrlose und verletzliche Kinder identifizieren, wie bewusst sie diese Verwundbarkeit ausnutzen.

Nimm dich ihrer an, sei nett zu Ihnen. Ziele auf Kinder ab, die kein gutes Verhaltnis zu ihren Eltern haben. Oder suche Kinder, die bereits Opfer waren. Suche nach irgendeiner Art von Mangel. Ich wurde ein Kind suchen, das nicht sehr viele Freunde hat, weil es dann leichter sein wird, es zu beeinflussen und sein Vertrauen zu gewinnen. Halt Ausschau nach einem Kind, das leicht zu manipulieren ist. Es wird alles mitmachen was Du sagst. Ich wurde es Glauben machen, dass ich jemand bin, dem es vertrauen und mit dem des sprechen kann. Als Missbraucher kannst du ein Kind aussuchen und anfangen, dem Kind besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie werden darauf anspringen und leicht manipulierbar sein. Wenn die Eltern die trauen, dann kannst Du es auch einrichten, dass sie dich als Babysitter nehmen. Du wirst allein mit dem Kind sein, und das Kind wird seine Eltern nicht mogen. Wahle Kinder aus, die ungeliebt sind. Versuche nett zu ihnen zu sein, bis sie dir vertrauen und erwecke den Eindruck, dass sie von sich aus bereitwillig mitmachen. Benutze Liebe als Koder. Sag ihr, dass sie jemand besonderes ist. Wahle ein Kind aus, dass bereits missbraucht wurde. Dein Opfer wird denken, dass diesmal weniger Schlimmes geschieht. Suche ein Kind aus, dass nach Hilfe sucht, dass verletzlich ist... Bring ihre Eltern dazu, den Tater zu vertrauen. Arbeite langsam. Bringe moglichst viele Menschen, die dem Kind nahe stehen dazu, Dir zu vertrauen. Beobachte das Opfer, wenn er/sie freundlich ist, wenn sie anfangen mich ziemlich zu mogen, dann wird es ungefahrlich sein zu versuchen, sie zu beruhren... Wahle ein isoliertes und stilles Kind. Sie wollen jemanden ganz fur sich haben. Als erstes musst du dem Opfer totale Angst machen. Dann isoliere das Opfer, sodass niemand weiteres um es herum ist. Der nachste Schritt zielt darauf ab, das Kind glauben zu machen, dass alles in Ordnung ist, sodass sie nicht hinrennen und was erzahlen. Du kannst sie uberzeugen, dass es nichts Schlimmes damit auf sich hat, oder Druck auf das Kind ausuben, nichts zu berichten. Gebrauche Gewalt und Zwang".

Diese Schilderungen von Tatern entlarven es als Mythos, dass die Kinder die sexuellen Kontakte initiieren.

Es gibt jedoch nicht nur diese Art von Tatern. Das zeigen allein die Unterschiedlichkeiten der durchgefuhrten Handlungen und das Spektrum der Machtmittel, die Manner anwenden. Den Prozess von Beziehungsaufbau nennen Conte u.a. auch, langsame Desensibilisierung. Zunachst erfolgen Korperkontakte sehr langsam und in Form von sozial bewilligten Beruhrungen wie z.B. in­den-Arm nehmen. Es folgen scheinbar zufallige Beruhrungen der Brust und der Genitalien bis es schlie?lich zu massiven Ubergriffen kommt. Kinder begreifen haufig nicht, was passiert. Die Tater erklaren, sie wurden ein Spiel spielen, das Kind sexuell aufklaren, oder sie tun so, als wurde uberhaupt nichts besonderes passieren. Wenn die Kinder begreifen, woher ihr komisches Gefuhl kommt und warum sie das Zusammensein mit dem Mann in einigen Situationen genie?en und in anderen nicht, fuhlen sie sich oft mitschuldig. Dieses Schuldgefuhl wird von den Tatern gezielt verstarkt. Oftmals belohnen die Tater auch fur die sexuellen Handlungen mit Geschenken, Geld, Privilegien und Zuwendung. Ebenso wird vom Tater haufig die Isolation forciert. Dadurch wird das Kind abhangiger vom Tater und hat gleichzeitig weniger Personen, an die es sich um Hilfe wenden kann.

5.2.5 Selbst erlebte sexuelle Gewalterfahrung der Tater

Der Prozentsatz der Tater, die selbst als Kind sexuelle Gewalt erfahren haben, schwankt zwischen 37% und 57%.In der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die selbst sexuelle Gewalt ausgeubt haben, muss stets die Moglichkeit in Betracht gezogen werden, dass sie ahnliche Erfahrungen gemacht haben. Ebenso bei der Arbeit mit erwachsenen Tatern.

Wie schlimm die Angst zum Tater zu werden fur eine Betroffenen sein kann, verdeutlicht folgende Aussage: Was fur mich aber am allerschrecklichsten ist, ist die Angst, dass ich genau dasselbe mit meinen oder mit anderen Kindern machen konnte. Ich glaube, wenn mir das passieren sollte, dass ware der einzige Punkt, wo ich sofort Selbstmord begehen wurde. Das wurde ich nicht aushalten."

5.2.6 Frauen als Tater

In letzter Zeit kommen mit steigender Tendenz Frauen und Manner in die Beratungsstellen, die von ihren Muttern, Tanten oder Babysitterinnen sexuell missbraucht wurden. Durch die vermehrte Medienberichterstattung und Hinweise auf Fortbildungen ist ein weiteres Tabu entkraftet worden.

Ich merkte, dass es vielen Leuten unangenehm ist wenn ich meine Geschichte erzahle. Die Leute winden sich irgendwie. Es ist fast als wurden sie mir nicht glauben. Ich kann nicht einfach meine Geschichte erzahlen, ohne sie anschlie?end zu erklaren. Die Leute denken gerne in Kategorien. Wenn Du also uber Frauen als Sexualtaterinnen sprichst, zerstorst du eine ganze Reihe von Mythen: Frauen haben keinen Sexualtrieb, Frauen sind sanft. Frauen sind passiv. Wie konnte eine Frau so etwas mit einem Kind machen?

Aber die Leute mussen das horen. Sie mussen horen: ich bin ein Inzest-Opfer und es war meine Mutter. Auch Frauen missbrauchen, und wenn wir das nicht aussprechen, kann keine Heilung erfolgen!".

Verschiedene Autorinnen gehen davon aus, dass es mehr Taterinnen gibt als durch Untersuchungen aufgedeckt werden. Neben dem Argument, dass Jungen und Madchen bisher erst zogerlich uber sexuelle Gewalt durch Frauen sprechen, fuhren sie folgende Grunde fur ihre Meinung an.

Blair Justice und Rita Justice meinen, dass einige Formen sexueller Gewalt durch Frauen in der Diskussion nicht beachtet wurden. Dazu zahlt zum Beispiel die sexualisierte Korperpflege. Manchmal missbrauchen Frauen ihre Opfer auf offen sexuelle oder gewalttatige Weise, aber haufiger und typischer ist eher subtiler Missbrauch, ohne oder fast ohne den Einsatz von Gewalt. Missbrauch durch Frauen versteckt sich oft hinter Kuscheln und Schmusen und der taglich liebevollen Fursorge. Diese Vergewaltigung ist oft verschwommener, weniger eindeutig. Aber sie hat die gleiche verheerende Wirkung.

Die Ergebnisse der Studie Wie Mutter ihre Sohne sehen" von Gerhard Amendt lassen solch These als begrundet erscheinen. Dort zeigt sich beispielsweise, dass viele Mutter ohne medizinischen Grunde den Penis ihrer Sohne manipulieren, um einer Vorhautverengung vorzubeugen. Ebenfalls weist er darauf hin, dass der sexuelle Handlungsspielraum von Muttern und Vatern sehr oft unterschiedlich definiert wird. Als Beispiel dazu: Der Blick von schrag oben aus der Nachbarwohnung von gegenuber. Ein Vater betupft vorsichtig die zarten Porzellanbruste seiner elfjahrigen Tochter, wahrend ­ gleiche Szene, gleicher Ort ­ die Mutter den zwolfjahrigen Sohn gewohnheitsma?ig in die Genitalhygiene einweist. Aus der Sicht des denunziationsbereiten Nachbarn konnte sich der Waschvorgang als unzuchtige Handlung des Vaters, begangen an der minderjahrigen Tochter darstellen, wahrend der entsprechende Vorgang von Mutterhand betrieben Chancen hat, unter Mutterliebe rubriziert zu werden".

Es wird auch angenommen, dass viele Taterinnen ubersehen werden, weil sexuelle Ubergriffe durch Frauen haufiger innerhalb der Familie stattfinden und Kinder uber sexuellen Missbrauch durch Angehorige am beharrlichsten schweigen.

Wie sexuelle Ausbeutung durch eine Mutter aussehen kann und wie sie vom betroffenen Opfer erlebt wird, illustriert folgende Aussage.

Ja. Es war ekelhaft, ich muss damals ungefahr 10 Jahr alt gewesen sein. Sie legt eine Decke auf dem Boden aus und sagte: Komm wir turnen. Das war manchmal am Anfang lustig. Lustig? Jetzt wo sie fragen kommt mir in den Sinn, dass sie in diesen Monaten lieb und frohlich war. Ich wurde belohnt, durfte dann mit einem Teller Brei ins Bett oder gemeinsam mit ihr ein Horspiel anhoren. Wir waren beide nackt. Sie lag auf dem Boden und wir turnten aufeinander rum... dann offnete sie die Beine und wollte es von mir. Ich musste sie mit dem Mund befriedigen. Es war mir damals nicht so klar, dass das Unrecht war. Ich hatte gro?e Angst".

Anmerkung: Der autobiographische Roman Still wie die Nacht" von Manfred Bieler illustriert wie schwerwiegend sexueller Missbrauch durch Frauen auf das Leben von Jungen wirken kann.

5.3 Psychogramm der Opfer

Nicht nur Kinderpsychiater und Psychologen stellen sich immer wieder die Frage, ob bestimmte Kinder in hoherem Ma?e gefahrdet sind als andere Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden. Nach Hunderten von Fallen im Laufe der Berufspraxis ist die Versuchung gro?, eine Typologie zu entwickeln, in der Hoffnung, damit die Pravention und den Opferschutz wirksamer zu unterstutzen. Es scheint naheliegend, sich dabei am Lebensalter des Kindes zu orientieren und bestimmte Personlichkeitsmerkmale herauszufiltern, die Einblick geben, wann und auf welche Weise ein Kind am besten geschutzt werden konnte. Allein, weder das Lebensalter noch die sozialen Umstande der Herkunftsfamilie und des Umfeldes konnen dafur sichere und eindeutige Kriterien liefern. Im Grunde ist es nur moglich, je nach Alter einzelner Lebenssituationen zu beschreiben, in die ein Kind geraten kann und vor deren Gefahren daher rechtzeitig zu warnen ist.

5.3.1 Alter der Opfer

Ein Mythos, der bis Heute das Denken vieler Menschen uber sexuellen Missbrauch an Kindern bestimmt, lautet, dass nur pubertierende Madchen im Lolitaalter sexuell ausgebeutet werden. In keinem Alter sind Kinder vor sexuellen Ubergriffen geschutzt. In Wirklichkeit sind Madchen und Jungen jeden Alters gefahrdet. Jedes Alter kommt in Frage. Kinder werden im Sauglings- und im Kleinkindalter, im Kindergarten- und Grundschulalter sowie in der Pubertat sexuell missbraucht.

In vielen Fallen wird der sexuelle Missbrauch zwar erst im Alter von 15 bis 16 Jahren oder gar noch spater aufgedeckt, doch stellt sich in der Therapie oft sehr schnell heraus, dass er meist wesentlich fruher begonnen hat. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes (1985) sind 45% der Opfer noch keine 10 Jahre alt. Die Dunkelfelduntersuchungen belegen ebenfalls, dass sexueller Kindesmissbrauch oft lange vor der Pubertat anfangt. Bei den Madchen liegt das Durchschnittsalter zwischen 9, und 11,4 Jahren und bei den Jungen schwankt das Durchschnittsalter zwischen 9,8 und 12 Jahren.

5.3.2 Geschlecht der Opfer

Nicht nur Madchen sondern auch Jungen werden sexuell missbraucht. Nach Pravalenzschatzungen erfahren etwa 2- bis 4-mal so viele Madchen wie Jungen sexuelle Gewalt. In diese Richtung deuten auch Untersuchungen mit Zufallsstichproben aus der Allgemeinbevolkerung. Im Durchschnitt befinden sich dort rund 70% weibliche und 30% mannliche Opfer. In neuen Untersuchungen kommt man zu der Annahme, dass etwa jedes vierte Madchen und jeder 12 Junge in der Bundesrepublik Deutschland sexuell missbraucht werden. Aus den Untersuchungsergebnissen geht ubereinstimmend hervor, dass fur Madchen ein wesentlich gro?eres Risiko besteht, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden, als fur Jungen. Jedoch wird deutlich, dass auch fur Jungen die Bedrohung durch sexuelle Gewalt erheblich ist.

5.3.3 Mannliche Opfer

Sexuelle Gewalterfahrungen sind keine Seltenheit, sondern totgeschwiegener Alltag im Leben vieler Jungen. Insgesamt erscheint die Annahme realistisch, dass etwa jeder zwolfte Junge sexuell missbraucht wird. Es fehlen Berichte sexuell missbrauchter Manner und es gibt auch nur wenige Veroffentlichungen, die sich explizit mit Jungen als Opfer sexueller Gewalt auseinandersetzen. Warum fallt es offenbar schwerer, Jungen als Opfer sexueller Gewalt wahrzunehmen? Und warum gibt es bisher kaum Erfahrungsberichte sexuell missbrauchter Manner? Zum einen liegt es an der gesellschaftlich tief verwurzelten Rollenerwartung. Man erwartet von Jungen, dass sie stark und aktiv sind, Situationen kontrollieren und beherrschen. Und: sie mussen sich wehren konnen.

Von Jungen wird sehr fruh eine Selbststandigkeit gefordert. Ein richtiger Junge wird mit seinen Problemen alleine fertig und braucht keine Hilfe von anderen. Jungen werden dazu erzogen, ihre Gefuhle zu kontrollieren, sich im Griff zu haben. Sie mussen sich stets durchsetzen konnen. Und genau ein solcher Junge entspricht dem Bild eines ganzen Kerls. Ruhiges, sanftes und angstliches Verhalten wird oft noch abgewertet. Ein zuruckhaltender und eher passiver Junge gilt als Memme, hat keinen Mumm in den Knochen und ist ein Feigling. Ein Junge, der sich nicht wehren kann, gilt als unmannlich. Aus dieser Rollenerwartung erklart sich, warum Jungen als Opfer sexuellen Missbrauchs ubersehen werden und naturlich auch, warum es Jungen schwer fallt, uber den sexuellen Missbrauch zu berichten. Dazu kommt, dass mannliche Sexualitat im Jugendalter als etwas Positives und Abenteuerliches dargestellt wird.

Sexuelle Erlebnisse zwischen Jungen und Mannern werden als Spielerei abgetan, die zwischen Jungen und Frauen dagegen als aufregend oder besonderes Erlebnis bezeichnet.

Da Jungen ebenso wie Madchen uberwiegend von Mannern sexuell missbraucht werden, kommt das Tabu der Homosexualitat hinzu. Dieses Tabu ist von zentraler Bedeutung fur die Beschaftigung mit dem sexuellen Missbrauch von Jungen: Die Jungen furchten sich davor, homosexuell zu sein. Eltern leugnen den sexuellen Missbrauch ihres Sohnes aus Angst, ihr Sohn gelte als homosexuell. Sexuelle Gewalt gegen Jungen kommt genau wie bei Madchen in allen Schichten vor und steht in keinem Zusammenhang mit Alkohol-, Drogen- oder sonstigen auffalligen seelischen Problemen des Taters. Im Unterschied zu Madchen werden Jungen haufiger on Personen missbraucht, die nicht der unmittelbaren Familie angehoren, z.B. Gruppenleiter, altere Jungen u.s.w.. Oft besteht auch ein autoritares Verhaltnis zwischen den Jungen und dem Tater.

Lange Zeit gab es so gut wie keine Untersuchungen uber die Auswirkungen sexuellen Missbrauchs auf Jungen und Manner. Obgleich etwa ein Viertel aller missbrauchten Kinder Jungen sind, werden sie kaum in den Untersuchungen berucksichtigt. Erst in den letzten Jahren sind ein paar Studien erschienen, die sich systematisch mit den psychischen und sozialen Auffalligkeiten sexuell missbrauchter Jungen befassen. Dabei zeigte sich, dass Jungen ahnlich wie Madchen unter bedeutenden kurz-, mittel- und langfristigen Folgen leiden. Die Auswirkung sexuellen Missbrauchs von Jungen unterscheiden sich nur wenig von denen des sexuellen Missbrauchs an Madchen.

Es fing an, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Ich bin damals in eine Jugendgruppe eingetreten, in eine Pfadfindergruppe, mit sehr viel Spa? und Freude. Der Leiter dieser Pfadfindergruppe war ein Mann, der bei uns im gleichen Haus gewohnt hat. Er hatte Medizin studiert, seine Doktorarbeit fertig und war deswegen sehr angesehen. Er war an sich sehr sympathisch, freundlich und nett fur meine Eltern, als Leiter der Jugendgruppe eine Vertrauensperson. Sie kannten ihn eben, er wohnte ja im gleichen Haus. Und zu dem bin ich dann ab und zu mal hoch gegangen, wenn zu Hause nichts weiter los war. Zu dem raufgehen oder zu irgendeinem Gruppentreffen gehen, das lief am Anfang ganz normal ab. Und irgendwann fing es dann an, dass er Ubergriffe gestartet hat, Kabbeleien. Er hielt meine Hand an sein Geschlechtsteil und fing an zu reiben. Damit kam ich uberhaupt nicht klar. Das war jemand zu dem ich Vertrauen gehabt habe, und es war eine Situation, in der ich vorher nie gewesen war. Das war sehr verwirrend. Ich konnte ihn in dem Moment nicht wegsto?en, weil ich nicht wusste, ist es Spiel oder etwas anderes. Mit Sexualitat hatte ich bis dahin auch nie etwas zu tun gehabt. Er tat so, als wollte er mich aufklaren. Dass das eben ganz normal sei, ich sollte aber keinem anderen Menschen davon erzahlen, weil es dann Schwierigkeiten gabe. Das wurde dann immer aufdringlicher und unangenehmer, weil ich mit meinen Eltern eigentlich wenig zu tun hatte und diese Jugendgruppe mein Halt und meine Bindung war. Deswegen war ich uberhaupt nicht in der Lage zu sagen, das will ich nicht. Es war aussichtslos fur mich".

5.4 Bekanntschaftsgrad zwischen Tater und Opfer

Im Bezug auf den Bekanntschaftsgrad gibt es zwei wesentliche Vorurteile:

Die Vorstellung, dass die Tater in der Regel Fremde seien.

Die Vorstellung, dass Vater hauptsachlich Tater seien.

Die Ergebnisse sind je nach zugrundeliegender Stichprobenart sehr unterschiedlich.



Wie aus der Abbildung ersichtlich wird ­ entgegen beider Vorurteile ­ wird der deutlich gro?ere Teil der Jungen und Madchen (ca. 45 % bzw. 50%) von bekannten Personen missbraucht, die nicht zur Familie gehoren. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit bei Jungen gro?er als bei den betroffenen Madchen (rund 25%), dass sie sexuelle Gewalt von einem Fremden erfahren. Demgegenuber werden Madchen (mit ca. 30%) deutlich haufiger von Familienmitgliedern ausgebeutet als Jungen (15%).

Eine genauer Differenzierung fur die Begriffe ?bekannte, nicht verwandte Tater? kann nicht gegeben werden. Dazu zahlen Freunde der Familie, Lehrer, Nachbarn, Arzte, Jugendgruppenleiter, Erzieher, Pfarrer und viele mehr. Sexueller Missbrauch in der Kernfamilie unterliegt einer besonderen Dynamik und wird in der Offentlichkeit und Wissenschaft mehr beachtet.





Dort, wo Kinder einen Schutzraum haben sollten und das gro?te Vertrauen haben sollten: Namlich in ihrer Familie ­ dort kommt sexueller Missbrauch am haufigsten vor, besonders von Madchen.

Nachtrag: Diese Aufschlusselung gilt inzwischen schon als veraltet. Aktualisierte Statistiken gehen sowohl bei mi?brauchten Madchen wie bei Jungen von einer Verteilung 30% direkte Verwandschaft, 60% nachstes Umfeld (Freunde/Bekannte, meist der Eltern und z.B. Betreuer/Erzieher/Kirche etc.) und 10% so genannter Fremdtater aus.

5.5 Haufigkeit und Dauer des sexuellen Missbrauchs

300.000 Falle sexueller Gewalt an Kindern hat sich als Zahl so weit durchgesetzt, dass sie auch von offizieller Seite publiziert wird: In der Expertise des Ministeriums fur Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. In der BRD liegen bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen uber die (jahrliche) Haufigkeit vor, sodass die einzigen Angaben dazu in den Statistiken der Kriminalpolizei uber angezeigte Falle zu finden sind. Die Zahl der bekannt gewordenen Taten darf jedoch nicht mit dem tatsachlichen Ausma? sexueller Gewalt gleichgesetzt werden, denn wie bereits erwahnt ist bei sexuellen Straftaten die Dunkelziffer sehr hoch.

In der offentlichen Diskussion wird durch die unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse uber die Haufigkeit sexueller Gewalt an Kindern Unsicherheit und Verwirrung gestiftet. Es sollten gro?raumig angelegte wissenschaftliche Untersuchungen in Bezug auf die Inzidenz (Untersuchungen zur Inzidenz ermitteln, wie viele neue Falle innerhalb eines bestimmten Zeitraums ­ hier ein Jahr ­ auftreten) durchgefuhrt werden. Um die Unsicherheit und Verwirrung in Bezug auf die Haufigkeit zu beenden, muss es eine allgemeingultige Definition von sexueller Gewalt an Kindern geben. Bei der Heranziehung von Zahlen und Fakten zur sexuellen Gewalt gegen Kinder sollte daher immer eine Klarstellung der Definition und ein Miteinbeziehen der forschungsmethodischen Bedingungen erfolgen. Die Prozentzahlen der Untersuchungen zu der Dauer von sexuellem Missbrauch unterscheiden sich vor allem zwischen den verschiedenen Untersuchungen:

Allgemeinbevolkerung: 70% aller sexuellen Ubergriffe inner- oder au?erhalb der Familie haben einmaligen Charakter, bei innerfamiliarer sexueller Gewalt sind 40% einmalige Handlungen.

Klinische Studien: Bei innerfamiliarem sexuellem Missbrauch wurden 17% einmalige Handlungen festgestellt.

Dies lasst sich dadurch erklaren, dass langer andauernde Missbrauchsbeziehungen fur die Betroffenen meist traumatisierender sind und sie deshalb relativ haufig Hilfe in klinischen Einrichtungen suchen.

Finkelhor errechnete, dass sexueller Missbrauch im Durchschnitt 31 Wochen andauert. Draijer ermittelte eine durchschnittliche Dauer der Mehrfachtaten von 3,8 Jahren. Bei Tatern aus dem Bekanntenkreis reduziert sich in der Regel die Dauer. Je alter die Madchen der Erhebung waren, desto langer wurden sie missbraucht. Die Missbrauchsdauer stieg kontinuierlich an. So wurden 25% der bis 5 Jahre alten, 36,9% der 6 bis 13 jahrigen, 52,2% der 14 bis 25 Jahre alten Madchen langer als 1 Jahr, und viele von ihnen uber Jahre hinweg missbraucht.

Insgesamt verdeutlichen die Darstellung, dass viele Kinder uber einen weiten Teil ihrer Kindheit immer wieder sexuellen Missbrauch erfahren. Selbst wenn es sich um eine einmalige Tat handelt, so kann man nie wissen, ob es sich wiederholt.

5.6 Psychogramm des Systems

Bisher ist es wahrscheinlich selten vorgekommen, dass man tatsachlich von einem Kind wei?, dass es sexuell missbraucht wird. Kinder geben zwar oft Andeutungen und Hinweise in der Hoffnung, dass man sie versteht und ihnen geholfen wird. Selbst wenn die Hinweise eindeutig sind, fuhlen sich die meisten Erwachsenen uberfordert durch ihre Ahnung oder ihr Wissen. Die Realitat wird haufig ausgeblendet, der Missbrauch bagatellisiert, dem Kind eine Mitverantwortung zugeschoben oder ihm nicht geglaubt. Ob das Kind uberhaupt vom sexuellen Missbrauch erzahlt, hangt vom Vertrauen ab, welches das Kind in bestimmte Erwachsene setzt.

5.6.1 Situation und Reaktion der Familie

Wie eine Familie damit umgeht, wenn der Verdacht besteht, dass ihr Kind sexuell missbraucht worden ist, hangt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Hat das Kind genugend Vertrauen und beherrscht es eine Sprache, um uber den sexuellen Missbrauch eindeutig zu sprechen? Will die Familie verstehen, wovon das Kind spricht? Glaubt die Familie dem Kind, das den sexuellen Missbrauch erlitten hat? Eine entscheidende Rolle inwieweit ein Kind unterstutzt wird, ist auch die Nahe zum Tater. Ist der Tater eine Autoritatsperson fur die Familie? Sind sie unter Umstanden vom Tater finanziell abhangig? Kommt der Tater aus der Nachbarschaft? Kennt die Familie ihn gar nicht, kaum oder gehort er der Verwandtschaft an? Diese unterschiedlichen Faktoren sind entscheidend fur den Umgang der Familie mit dem Kind und dem Tater.

Der Tater ist unbekannt

Am ehesten kann ein Kind Unterstutzung von seiner Familie erhoffen, wenn der Tater der Familie nicht bekannt ist. Die Familie wird sich mit voller Emporung und Entsetzen zur Anzeige entschlie?en und den Tater zur Rechenschaft ziehen. Ihr Kind ist Opfer eines abartigen Triebtaters und Kinderschanders geworden und bedarf ohne wenn und aber Hilfe und Unterstutzung.

Der Tater ist bekannt

Schon weniger Unterstutzung von seiner Familie kann ein Kind erhoffen, wenn der Tater bekannt ist mit der Familie (wie z.B. Lehrer, Stadtrat, Hausmeister, Gruppenleiter usw.) Die Moglichkeit besteht aber, das alle Familienmitglieder sich mit dem Kind solidarisieren und die Familie mit Emporung reagieren kann. Aber, ob die Familie eine Strafanzeige erwagt, hangt davon ab, welche Folgen die Familie aus der Bestrafung furchtet oder sich erhofft. Das ist ein angesehener Mann, wir kriegen nur Schwierigkeiten, gegen den kommt man sowieso nicht an; was sagen die Nachbarn, wenn das bekannt wird; nutzt es dem Kind, wenn der Tater bestraft wird. Das Kind hat schon genug mitgemacht, wollen wir es lieber schnell vergessen. Dies sind Uberlegungen, die eine Rolle spielen, dass der Missbrauch nicht an die Offentlichkeit kommt.

Der Tater ist nah

Ganz schwierig ist es, wenn die Familie in irgendeiner Form abhangig vom Tater ist. (z.B. Vermieter, Pfarrer, Erbonkel, Vorgesetzter) Kann sie dem Druck standhalten und fur das Kind offen Partei ergreifen oder wird das Kind geopfert aus Angst vor den Konsequenzen, die die Familie zu tragen hatte?

Der Tater gehort zu uns

Der schwierigste Fall tritt ein, wenn der Tater aus dem engsten Familienkreis stammt. (z.B. Vater, Stiefvater, Bruder, Cousin, Onkel) Die Familie wird in einen inneren Konflikt gesturzt. Konfrontation mit dem Tater ist erforderlich. Familienstreitigkeiten stehen bevor. Soll die Familie zum Kind halten und den Tater so behandeln wie es gesetzlich vorgeschrieben ist und zwar derart, dass er bestraft wird? Oder soll sie zum Tater halten, der ja auch Mitglied der Familie ist und von dem die Familie vielleicht (materiell) abhangig ist. Deutlich wird, dass sich die beiden Verhaltensweisen ausschlie?en und eine Entscheidung schwierig ist. Eine Moglichkeit fur die Familie ist, dass sie den sexuellen Missbrauch als nicht geschehen ansieht und daruber hinweg geht, weil die Konsequenzen der Familienmitglieder als zu schwerwiegend erscheint.

Betroffen durch den sexuellen Missbrauch sind letztendlich alle Familienmitglieder, da sie einer Familie angehoren, in der Dinge passiert sind, uber die offentlich nicht gesprochen werden darf. Der Tater schamt sich in den seltensten Fallen fur seine Handlung. Bei allen anderen Familienmitgliedern bleibt ein Gefuhl von Scham zuruck. Sie waren an der Tat zwar nicht beteiligt, sie gehoren aber zur Familie. Sie schamen sich, von so einem Vater abzustammen oder sich so einen Mann ausgesucht und geliebt zu haben. Schafft es eine Familie nicht, den sexuellen Missbrauch zu besprechen, mussen die einzelnen Familienmitglieder ihr Leben lang dieses Familiengeheimnis wie einen Fluch mit sich tragen. Immer werden die Familienmitglieder sich als Au?enseiter empfinden, weil sie aus einer Familie stammen, in der aus gesellschaftlicher Sicht Dinge passiert sind, die so schamvoll sind, dass sie verborgen werden mussen.

5.6.2 Situation der Mutter

Wenn ein Kind sexuell missbraucht wird, werden schnell Stimmen laut, die der Mutter und Ehefrau Vorwurfe machen. Man hort dann beispielsweise die Verwandten und Nachbarn nachdem der Mann von Frau X festgenommen wurde, weil er uber ein Jahr die 14 jahrige Tochter zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte:

Das hatte Frau X doch mitbekommen mussen; vermutet haben wir das ja schon lange ­ so wie die Tochter rumlief und was der ihr alles geschenkt hat!

Ist doch kein Wunder, wenn die Mutter so oft bei ihren Volkshochschulkursen ist und die hubsche Tochter mit dem Vater allein lasst!

Verstehen kann man den Vater ja irgendwie; die hat ihn doch seit Jahren nicht mehr ins Bett gelassen!

Egal, wie Frau X sich verhalt; immer wird ihr die Schuld gegeben.

Wenn sie sich selbstbewusst von ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter abhebt, eigene Wege geht oder sich beruflich auf dem Laufenden halt, so hat sie den Mann und auch die Tochter allein gelassen. Wenn sie seine gewaltsame und egoistische Art und Weise wie er sich an ihrem Korper befriedigt, nicht mehr ertragen will, so hat sie ihm angeblich unausgesprochen die Erlaubnis erteilt, dass er sich jetzt die Tochter vornimmt.

Wer so denkt und spricht macht es sich sehr einfach. Tatsachlich ist es so, dass sehr viele Ursachen beteiligt sind, wenn ein Missbrauch lange Zeit nicht aufgeklart wird. Man spricht von Familiedynamik, wenn man die komplizierte Situation beschreiben will, in der es moglich wird, dass ein sexueller Missbrauch manchmal so spat aufgedeckt wird. Die Mutter als Schuldige zu betrachten ist genauso falsch, als wenn wir dem Opfer die Schuld fur den Missbrauch zuschreiben.

Ich mochte an dieser Stelle ein Fallbeispiel vorstellen, dass uns die Situation der Mutter vielleicht etwas naher bringt.

Frau Bruckner hatte ihre Stelle als gelernte Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin in einer gro?en Kanzlei aufgegeben, als sie mit Katarina schwanger war. Obwohl ihr der Beruf als damals 23jahrige viel brachte, entschied sie sich gern fur ihre neue Rolle als Hausfrau und Mutter. Das fiel ihr umso leichter, als ihr der Chef bei Antritt des Erziehungsurlaubes erklarte, dass er sie jederzeit wieder einstellen werde und er daran denke, sie spater in einer hoheren Position einzusetzen. Doch es kam anders als geplant. Kurz vor Ende des Mutterschaftsurlaubes wurde sie wieder schwanger, so dass sie ihre Stelle nicht antreten konnte. Ihr Mann hatte sich inzwischen zum Werksmeister in der Druckerei hochgearbeitet und konnte dort schlecht aufhoren, da er gutes Geld verdiente, das sie fur das neue Haus brauchten. Frau Bruckner musste sich also schweren Herzens entschlie?en, auf ihre eigene Karrierewunsche zu verzichten, um den inzwischen zur Welt gebrachten Stefan und die nun dreijahrige Katarina zu betreuen. Da sie sich aber trotzdem beruflich fit halten wollte, besuchte sie regelma?ig Abendkurse und Seminare, wahrend der Vater mit den Kinder zu Haus blieb.

Vermutlich denkt nun jeder: Na und eine vollig normale Alltagsgeschichte, wie sie millionenfach vorkommt. Sicher. Doch mit der Zeit veranderte sich die Lage. Der Vater hatte seine Arbeit, ein, zwei Hobbys, wahrend die Mutter sich um die Kinder sorgte und ihren Kursen nachging. Das alles hatte ohne weiteres langere Zeit so weiter laufen konnen. Doch dann begann die Beziehung sich zu verandern: Egon Bruckner, ein eigentlich ganz liebevoller, ihr aber an Lebendigkeit unterlegener Mann, wollte mehr als immer nur arbeiten. Fu?ball spielen und Modellautos fahren und ab und zu gemeinsam essen gehen; das alles war ja ganz schon. Aber eigentlich hatte er mehr vom Leben erwartet. Doch es kam schlimmer. Nach einem Autounfall konnte er wegen einer Beinverletzung nicht mehr Fu?ball spielen. Passiv auf dem Platz rumstehen wollte er auch nicht. Er begann sich als Kruppel zu fuhlen, zog sich immer mehr zuruck und trank regelma?ig nach Feierabend Alkohol. Frau Bruckner zeigte viel Verstandnis und gab sich Muhe, ihm das Leben zu erleichtern. Der Zeitpunkt ist nicht mehr genau auszumachen, doch irgendwann konnte sie seine selbstmitleidigen Vorwurfe nicht mehr horen. Auch in sexueller Hinsicht fuhlte sie sich immer unwohler, da er sich auch im Bett als unfahig beschimpfte. Hinzu kam, dass sie seine standige Alkoholfahne immer ekelhafter und unertraglicher fand. So suchte sie haufiger nach Ausreden, wenn er mit ihr schlafen wollte. Er hingegen reagierte mit heftiger Eifersucht und unterstellte, dass sie heimlich etwas mit anderen Kursteilnehmern habe.

Wenn sie dann einmal nachgab, bereute sie anschlie?end die Begegnung, die sie oft als herzlos und mechanisch erlebte. An Trennung oder Scheidung hatte sie zwar auch schon gedacht, fuhlte sich ihm und den Kindern gegenuber aber verpflichtet. Er igelte sich immer mehr ein und wirkte zusehends einsamer. Selbst die Kollegen am Arbeitsplatz waren es leid, seine haufig schlechte Laune zu ertragen, was sie ihn auch spuren lie?en. Kurzum: Die Situation war unertraglich. Der einzige Lichtblick in seinem tristen Alltag war die lebendige und immer hubscher werdende Tochter Katarina, die uber seinen Alkoholkonsum und seine Launen hinweg sah. Uber Wochen und Monate war sie die fast einzige Person, die mit ihm mehr als ein paar Worte wechselte. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schmuste er des ofteren abends mit ihr zusammen auf dem Sofa, ohne dass es zu sexuellen Beruhrungen kam. Katarina empfand das anfangs als ganz angenehm, obwohl sie spurte, dass es sich eigentlich nicht gehorte. Erst Monate spater kam es dazu, dass Katarina sich bei den abendlichen Schmusereien sexuell erregte, wahrend er bis dahin seine eigene Erregung verbergen konnte. Nach und nach gelang es ihm, sie in eine zunehmend intensiver werdende Missbrauchsbeziehung zu verstricken, uber deren Unrecht er sich naturlich im Klaren war.

Selbstverstandlich bemerkte die Mutter die Veranderung in Egons, aber auch in Katarina Verhalten. Gleichzeitig nahm sie erleichtert zur Kenntnis, dass Egon in den letzten Monaten weniger uber sein Leid klagte. Ihr war auch klar, dass Katarina und Egon sich seit langerem gut verstanden und am Wochenende richtig aktiv wurden. Mal gingen sie zum Schwimmen, dann kaufte er ihr schone Kleider. Offensichtlich hatte er seine Krise uberwunden und begann nun, sich neu zu orientieren. Auch an dem Verhalten ihrer Tochter fiel ihr einiges auf. Fur ihr Alter zeigte sie sich in der letzten Zeit etwas kokett und etwas zu aufreizend. Andererseits befand sie sich mitten in der Pubertat und wollte vielleicht nur ihre Wirkung auf andere Manner ausprobieren.

Auch als ihr Sohn eine Bemerkung machte: Du Mami, was macht der Papi immer mit Katarina? Ist sie zwar etwas besorgt, doch sie streicht die grausige Vermutung rasch aus ihren Gedanken. Das wurde sie ihm nun nie zutrauen. Leider irrte sie sich.

Wo liegt ­ in diesem Beispiel ­ die Schuld der Mutter? Darin, dass sie so eine Tat ihrem Ehemann nicht zutraut? Oder darin, dass sie sich auf Volkshochschulen weiterbildet? Oder vielleicht darin, dass sie auf Sexualitat mit ihrem egoistischen Mann keine Lust mehr hat? Sicherlich nicht! Die theoretischen moglichen Vorwurfe sind zahlreich. Doch der Mutter eine Schuld zu geben ist abwegig. Auch wenn Mutter die Aufgabe, ihre Kinder zu schutzen, nicht erfullen, so sind sie dennoch nicht verantwortlich fur den sexuellen Missbrauch. Wie sie sich auch verhalten, die Verantwortung liegt und bleibt immer beim jeweiligen Tater.

Andererseits gibt es aber auch tatsachlich Situationen oder Familien, in denen sexueller Missbrauch bekannt ist, ohne das von der Mutter oder anderen Familienangehorigen etwas unternommen wird. Auch hier konnen die Grunde vielfaltig sein. Die Situation der Mutter, deren Kinder sexuell missbraucht werden kann man folgenderma?en einschatzen:

So kann es sein, dass

Die Mutter mit der Erziehung mehrerer, schwieriger Kinder hoffnungslos uberfordert ist und Andeutungen und Beobachtungen nicht ernst nimmt;

Die Mutter unter schweren Depressionen einer anderen physischen Krankheit leidet und viel zu sehr mit sich selbst beschaftigt ist;

Die Mutter als Kind selbst sexuell missbraucht wurde und Angst davor hat, dass ihre eigene Erinnerung uber sie hereinbricht;

Die Mutter immer wieder auf die Beteuerung des Partners hereinfallt, nach der das Kind sich das Ganze nur einbildet;

Die Mutter Angst davor hat, dass ihre Verwandten sie wegen der Schande verachten, oder das die Familie auseinander bricht und sie dafur die Schuld bekommt.

Ebenso kann es vorkommen, dass die Mutter schon etliche Anlaufe beim Jugendamt und beim Gericht unternommen hat, sie aber die Tat nicht beweisen konnte. Richtig ware es naturlich, wenn die Mutter die solche Taten vermutet ihren Gefuhlen trauen und sich gegen die Tater auflehnt. Haufig ist es jedoch so, dass in einer Familie, in der sexuelle Gewalt stattfindet, auch andere Dinge aus dem Gleichgewicht geraten sind. So herrschen in gestorten Familien manchmal sehr starre Regeln, sie passen sich nur schwer an veranderte Bedingungen an oder tauschen sich im Alltag kaum aus.

Es macht wenig Sinn nach den Fehlern des mutterlichen Verhaltens zu suchen, viel mehr gilt es zu ergrunden, was eine Mutter tun kann, damit es erst gar nicht zu sexuellem Missbrauch kommt bzw. wie sie sich verhalten sollte, falls ihr Kind Opfer sexuellen Missbrauchs wurde. Kinder werden auch Opfer sexuellen Missbrauchs, wenn die Mutter alles richtig gemacht haben. Das bedeutet, dass bei sexuellem Missbrauch von Kindern nicht zwangslaufig irgendetwas in der Mutter-Kind-Beziehung nicht stimmt. Zusammenfassen kann gesagt werden, dass Mutter zum Schutz ihrer Kinder von sexuellem Missbrauch beitragen konnen und sollen, sie jedoch in 96% aller Falle keine Verantwortung fur den Missbrauch selbst tragen. Fur den Umgang mit Kindern, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, ist es sehr wichtig, die Mutter als Beschutzerin zu gewinnen und sie in dieser Rolle zu unterstutzen.

Zum Abschluss mochte ich noch kurz ein Beispiel vorstellen, welches zeigen soll, dass weitaus haufiger als bisher wahrgenommen Mutter ihre Tochter und Sohne bewusst oder instinktiv schutzen bzw. zu schutzen versuchen.

Bis zu meinem 33. Lebensjahr habe ich auf meine Mutter geschimpft. Warum hatte sie mich nicht geschutzt, als mein Vater mich vergewaltigte?" Im Rahmen meiner Therapie kamen mir fast 30 Jahre spater andere Erinnerungen wieder. Ich sah neue Zusammenhange: Einige Monate nach dem sexuellen Missbrauch, meine Mutter hatte meine Schwester geboren, wurde bei meiner Mutter eine schwere Blutkrankheit diagnostiziert, eine Krankheit, an der sie dann 13 Jahre spater starb. Sie hatte mein Blut gesehen und bekam selbst eine Blutkrankheit! Ein Zufall...? Zunachst hie es, sie habe nur noch einige Wochen zu leben. Mutter hatte einen eisernen Lebenswillen. Ihr Ziel war es, so lange durchzuhalten, bis dass wir gro? waren. Auf ihrem Sterbebett bat sie mich, auf die kleinen gut aufzupassen, der Vater sei schlecht fur die Kinder. Ich entdeckte noch einen Zusammenhang: Es gab viele Grunde, aus denen heraus ich auf meine Mutter wutend war; einer war, dass ich nie ein eigenes Zimmer bekam. Ich musste mit meiner Schwester immer uber dem Elternschlafzimmer schlafen. Der Fu?boden unseres Zimmers hatte Holzdielen und neben meinem Bett ging ein Heizungsrohr an der Wand entlang, ein Rohr, dass eine Etage tiefer neben dem Bett meiner Mutter weiter verlief. Mutter hatte die Angewohnheit, immer dann, wenn abends jemand in unser Zimmer lief und wir z.B. nur mal aufs Klo gingen und der Fu?boden knarrte, gegen dieses Rohr zu klopfen.

Meine Mutter hatte mich also doch geschutzt. Leider haben wir Frauen der Familie unsere Wut auf den Tater gegen uns selbst und gegeneinander gerichtet. Meine Mutter hatte nicht die Kraft und den Mut, ihn mit seiner Tat zu konfrontieren und sich von ihm zu trennen. Doch sie hat versucht, mich und meine Schwester wenigstens vor weiterem Missbrauch zu schutzen. Ware meine Mutter doch 30 Jahre spater geboren! Heute hatte sie sicherlich mehr Moglichkeiten, sich Hilfe zu hohlen. Heute ware sie mir vielleicht eine bessere Mutter".

5.6.3 Situation der Geschwister

Sexueller Missbrauch durch Familienangehorige hat immer mehrere Opfer, denn auch die Geschwister werden in Mitleidenschaft gezogen. Ganz gleich, ob sie von dem Missbrauch wissen oder ob dieser ihnen verborgen bleibt ­ auch sie sind Betroffene. Der Missbrauch hat mich einsam gemacht, denn ich habe nicht nur den Kontakt zu meiner Mutter, sondern ebenso den zu meinen Geschwistern verloren." Madchen, wie auch Jungen, die sexuell missbraucht wurden, beschreiben oft die Einsamkeit ihrer Kindheit. Das gemeinsame Geheimnis von Opfer und Tater stort die Beziehung zwischen den Geschwistern. Die Geschwister erleben, wie sich das Verhalten des Opfers aus, fur sie unerklarlichen Grunden, andert, sie spuren die Sexualisierung der Beziehungen innerhalb der Familie und ahnen, dass etwas vor ihnen geheim gehalten wird. Haufig reagieren sie mit Eifersucht, wenn das betroffene Madchen (Junge) zum Lieblingskind ernannt und z.B. mit Geschenken uberhauft wird. Verunsicherung und Aggressionen belasten in erheblichem Ma?e das Vertrauensverhaltnis unter den Geschwistern.

Viele Geschwisterkinder fuhlen sich schuldig, weil sie die Schwester oder den Bruder nicht beschutzen konnen und selber von dem sexuellen Missbrauch verschont bleiben. Wieder andere entfernen sich aus Angst vor dem Tater vom Opfer und ubernehmen die Sichtweise des Taters. Sie schreiben der Schwester oder dem Bruder die Schuld fur das Verbrechen zu.

Es kommt in Familien haufig vor, dass mehrere Kinder gleichzeitig missbraucht werden, ohne das die Opfer untereinander von ihrem gemeinsamen Leid wissen. Nach David Finkelhor sind in 35% der Falle von innerfamiliaren Missbrauch an Madchen ebenso Geschwisterkinder betroffen. Bei mannlichen Opfern geht man von 60% aus. Die Erfahrungen von Zartbitter lassen vermuten, dass die Prozentzahlen in der Realitat noch wesentlich hoher liegen. Wenn ein Sohn der Familie missbraucht wird, sind meist ebenso die Schwester Opfer sexueller Gewalt. Viele Opfer gehen den ebenso betroffenen Geschwistern aus dem Weg; sie konnen es nicht ertragen, der Wahrheit ins Auge zu sehen und die eigenen Schmerzen zuzulassen. Oftmals schaffen es Geschwister erst nach Jahren, miteinander uber den gemeinsamen sexuellen Missbrauch zu sprechen.

Von meinem vierten Lebensjahr an wurde ich von meinem Vater sexuell missbraucht. Meiner Schwester, sie ist ein Jahr alter, passierte das Gleiche. Wir haben nie daruber gesprochen. Jetzt bin ich 15 Jahre alt. Zu meiner Schwester hatte ich nie einen Draht, obwohl wir schon lange im gleichen Heim leben. Ich fand sie einfach blod. Vor 3 Woche habe ich sie mal darauf angesprochen. Es hat uns beiden gut getan, endlich einmal uber alles zu sprechen. Jetzt konnen wir plotzlich auch uber andere Sachen reden. Doch ich will jetzt in ein anders Heim, denn wenn ich meine Schwester nur sehe, muss ich immer an den ganzen Mist denken".

Viele Missbrauchsopfer machen die schlimme Erfahrung, dass sich die Geschwister von ihnen abwenden, sobald der Missbrauch aufgedeckt wird. Ich habe zwei Schwestern und zwei Bruder. Seitdem ich uber den sexuellen Missbrauch durch meinen Vater spreche, ist mein Kontakt zu meinen beiden Brudern ganzlich abgebrochen. Ich soll ihrer Meinung nach doch die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Ihnen kommen selbst Erinnerungen mit denen sie nicht umgehen konnen; bei uns wurden die Madchen missbraucht und die Jungen geprugelt. Auch wollen die beiden nicht, dass Dritte von der Familientragodie erfahren und sie wohlmoglich darauf ansprechen. Die Beziehung zu meiner Schwester ist auch zerbrochen. Ich sollte mich ihrer Meinung nach mit Vater und Mutter versohnen, zu ihr seien sie in der letzten Zeit sehr nett, er sei doch inzwischen ein alter Mann. Meine zweite Schwester schloss sich ebenso einer Wildwassergruppe an. Mit ihr verstehe ich mich gut. Bis auf die eine Schwester habe ich meine ganze Familie verloren.

Bisher wird in der Fachliteratur die Situation er Geschwister fast vergessen. Es ist eine Tatsche, dass das Miterleben von sexuellem Missbrauch in der Familie fur Schwester und Bruder gleicherma?en eine Traumatisierung sein kann wie fur das Opfer.

 

 

 

 

 




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