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Die Hamburger Bischofin Kirsten Fehrs Kritisiert Verhalten Der Kirche Im Missbrauchsskandal - Und Erntet Lob Von Der Opferinitiative.

Hamburger Abendblatt
June 8, 2012

http://mobil.abendblatt.de/hamburg/article2300906/Bischoefin-Kirsten-Fehrs-Ja-wir-sind-traumatisiert.html

Eine traumatisierte Kirche versucht, zuruck zur Normalitat zu finden: Dieses Bild zeichnete gestern nicht etwa ein Kirchenkritiker, sondern die Hamburger Bischofin Kirsten Fehrs hochstselbst. "Ja, wir sind traumatisiert", sagte sie vor rund 90 Teilnehmern einer Fachtagung im Hotel Baseler Hof an der Esplanade. "Wir sind in Ahrensburg an unsere Grenzen gekommen, und das hat dazu gefuhrt, dass man desastros verharmlost hat."

Die Veranstaltung trug das Motto "Missbrauch in Institutionen" - und handelte doch vom Missbrauch in der evangelisch-lutherischen Kirche, genauer gesagt vom Missbrauch in der Ahrensburger Kirchengemeinde Kirchsaal Hagen. Pastor Dieter K. hatte sich dort zumindest in den 70er- und 80er-Jahren, moglicherweise auch noch spater, an mindestens 13 Jugendlichen vergangen. Im Fruhjahr 2010 wurde der Missbrauchsskandal durch den Brief einer Betroffenen an die damalige Bischofin Maria Jepsen publik. Kurz darauf trat Jepsen zuruck, seitdem ist die Kirche in der Defensive. Mit der Fachtagung will sie da heraus. Und bekam Lob dafur.

"Diese Veranstaltung ist eine Form der Verantwortungsubernahme", sagte Ursula Enders, die Leiterin des renommierten Kolner Vereins Zartbitter, der gegen sexuellen Missbrauch von Madchen und Jungen kampft. Enders hatte den Tag mit einem Vortrag uber traumatisierte Institutionen begonnen. Sie hatte darin exakt die besonderen Bedingungen beschrieben, die dazu gefuhrt haben, dass Pastor Dieter K. in Ahrensburg uber Jahre hinweg ungestort Jugendliche missbrauchen konnte. Vereinfacht gesagt: Je gro?er die Fallhohe, desto ausgepragter ist die Neigung, den Missbrauch zu vertuschen. Und die Fallhohe ist bei der Kirche nun einmal besonders hoch.

+++ Initiative: Weitere Ahrensburger Schuler Opfer +++

"Eine Institution wird zum Beispiel dann besonders stark gelahmt oder traumatisiert, wenn der Ruf besonders gut ist", sagte Enders, die ihre Ausfuhrungen ausdrucklich nicht nur auf religiose Gemeinschaften beziehen wollte. "Noch schlimmer wird es, wenn es viele Opfer gibt, wenn die Taten geleugnet werden und der Tater ein Seelsorger ist."

Das positive Selbstbild einer Institution werde durch einen Missbrauchsfall stark erschuttert. Die Folge seien Ohnmacht, Erstarrung und Leugnung der Fakten. "Dann wird versucht, das Problem intern zu regeln", sagte die Missbrauchsexpertin. "Aber das funktioniert nicht, das funktioniert nie." Auch zwei weitere Strategien wurden nicht weiterhelfen, aber gleichwohl haufig angewendet werden. "Es wird behauptet, dass es ein einmaliger Vorfall gewesen sei. Und dann wird irgendwann versucht, das Problem zu losen, indem man den Mitarbeiter versetzt", sagte Enders. "Aber auch das funktioniert nicht, denn die Kinder bleiben zuruck, die vielleicht alles miterlebt haben. Und die geschockten Kollegen bleiben zuruck."

Eindringlich schilderte Enders einen besonders perfiden Aspekt des Missbrauchs. Kollegen und Freunde des Taters trennten sich in verschiedene Gruppen, es gebe Sympathisanten und Kritiker. "Die Sympathisanten uberhohen den Tater, sie setzen ihm gewisserma?en eine Krone auf, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass der Vorwurf auf keinen Fall zutreffen kann", sagte Enders.

Mit anderen Worten: Der Missbrauchsvorwurf kann dazu fuhren, dass das Ansehen des Taters zumindest in einer bestimmten Gruppe von Menschen steigt. Nicht wenige Zuhorer begleiteten den Vortrag von Ursula Enders mit heftigem Nicken. Ja, so ist es gewesen. Ahrensburger Pastoren nickten, Mitglieder des Vereins Missbrauch in Ahrensburg nickten. Dessen Vorsitzender Anselm Kohn, der Stiefsohn von Dieter K., sagte: "Ich bin begeistert von der Veranstaltung. Jetzt ist es bei der Kirche wirklich angekommen, dass etwas passieren muss."

Zu dem, was gestern passierte, gehorte auch eine Podiumsdiskussion. "Hat die Kirche aufgrund ihrer Strukturen ein erhohtes Risiko fur Missbrauch durch eigene Mitarbeiter?", lautete die mutige, weil selbstkritische Frage. Fazit der Runde: Ja, das Risiko ist erhoht, aber das gilt in ahnlicher Weise auch fur Sportvereine oder fur andere Jugendgruppen. "Kirche arbeitet mit Nahe, und dadurch entstehen Gefahren", sagte Ursula Enders. Zum zweiten und neben dem ersten eigentlich nicht geplanten Tagesordnungspunkt der Debatte entwickelte sich die Frage nach der Verantwortung der Medien. Warum die uber Missbrauchsfalle in der Kirche besonders ausfuhrlich berichten wurden, wollte Moderator Frank Duchting (Evangelische Akademie der Nordkirche) von Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider wissen.

"Es ist normal, dass derjenige, uber den berichtet wird, das Gefuhl hat, es sei immer nur negativ oder es sei zu viel", sagte Haider. "Kirche will Menschen beschutzen. Wenn es dort nicht Schutz, sondern Missbrauch gibt, dann ist das naturlich ein Thema fur uns."

+++ Neue Vorwurfe gegen fruheren Pastor wegen Missbrauch +++

Die Bischofin Kirsten Fehrs gestand, sich uber die Berichterstattung zu den Ahrensburger Missbrauchsfallen manchmal geargert zu haben. Anselm Kohn gestand, diese Berichterstattung ausgezeichnet gefunden zu haben. "Ohne Medien waren wir heute nicht so weit", sagte er.

Ansonsten gab es viel Einigkeit im Gartensaal des Baseler Hofs. Fehrs versprach, den Betroffenen nun helfen zu wollen. "Entschadigung" sei aber das falsche Wort dafur. "Es muss eine Individualleistung sein, die den Betroffenen nicht in Note bringt", sagte sie. In diesem Punkt sei man noch am Anfang. Enders unterstutzte sie dabei. "Die Taten, uber die wir sprechen, sind ja verjahrt. Das hei?t auch, dass sich kein Gericht je damit befasst hat. Also bekommen die Opfer kein Geld. Das ist noch mal eine Verletzung."

Folgen muss auch noch eine Festlegung fur die Zukunft. Wie reagiert die Kirche, falls es irgendwann einen zweiten Fall Dieter K. geben sollte? Ursula Enders vom Kolner Verein Zartbitter sagte dazu ganz klar: "Es gibt keine fertigen Konzepte. Es gibt nur individuelle Losungen." Die konnten nicht intern, innerhalb der Institution, sondern nur extern gefunden werden. Eine Moglichkeit sei, sich eine Krisenintervention ins Haus zu holen. "Das ist dann eine Intensivbehandlung, das braucht 300 Arbeitsstunden."

Anselm Kohn, der lange dafur gekampft hat, dass die Kirche die Opfer und ihre Probleme ernst nimmt, sieht die Kirche weiter in der Pflicht. "Die katholische Kirche hat schon viel fruher angefangen, offen gegen Missbrauch vorzugehen und Strukturen zu schaffen, die ihn verhindern", sagt er. "Die evangelische Kirche muss jetzt Ma?stabe setzen."

 

 

 

 

 




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