BishopAccountability.org
 
 

Ettal Und Die Kultur Des Wegschauens

By Lilian Klement
Sudthuringen
June 15, 2012

http://www.insuedthueringen.de/lokal/suhl_zellamehlis/suhl/Ettal-und-die-Kultur-des-Wegschauens;art83456,2027382

Rainer Stadler von der Suddeutschen Zeitung: Die Gewalt war tief in der Kultur Ettals eingepasst und Teil der Erziehung. Foto: frankphoto.de

Suhl - Das barocke Kloster Ettal in Oberbayern ist eingebettet in eine traumhafte Landschaft und ein begehrtes Ziel von Wallfahrern und Touristen. Doch vor zwei Jahren bekam das Ansehen der beruhmten Benediktinerabtei einen gehorigen Knacks als bekannt wurde, dass im Internat der dazu gehorigen Klosterschule uber Jahrzehnte hinweg Kinder von geistlichen Erziehern korperlich und seelisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden. Das geschah fast zur gleichen Zeit, als ahnliche Vorfalle am Berliner Canisius-Kolleg und an der Odenwald-Schule publik wurden. Ettal mit seiner traditionsreichen 1905 gegrundeten Eliteschmiede - ein Hort der Grausamkeit? Unvorstellbar.

Das Schweigen der Monche

Das Geschehen machten die Journalisten der Suddeutschen Zeitung Rainer Stadler und Bastian Obermayer offentlich, als sie ihre Gesprache mit betroffenen ehemaligen Schulern, die zum Teil heute noch traumatisiert sind, in einem Beitrag fur das SZ-Magazin schilderten. Ihre Recherchen fuhrten sie auch hinter die Klostermauern, wo ihnen eisiges Schweigen der Monche entgegen schlug. Sie wollen bis heute nicht reden uber das Geschehen, obgleich die Vorfalle zuruck reichen vom Ende der vierziger bis Mitte der neunziger Jahre.

Obermayer und Stadler hatten derart viel Material bekommen, dass sie es schlie?lich in einem brisanten Buch "Bruder, was hast du getan?" zusammenfassten. Ettal, das war fur die Autoren deshalb exemplarisch, "weil die Kluft zwischen Anspruch und Erscheinungsbild des Klosters so gro? erscheint, wie an keinem anderen Tatort", schreiben sie im Vorwort. Wer das Buch liest, die Schilderungen der Opfer, die Beschreibungen der Tater, die Funktionsweise des Systems, ist erschuttert.

Einer der Verfasser von "Bruder, was hast du getan?", was sich bei einem Teil des katholischen Klerus wie ein Brandbrief lesen mag - Rainer Stadler - weilte auf Einladung der Stadtbucherei in Suhl. Er berichtet von den Recherchen, schildert ernuchternd den Umgang der Kirche mit dem Thema. Auch wenn im Herbst 2011 das Kloster mitteilte, dass siebzig Opfer - die Dunkelziffer mag hoher sein, sind sich die Autoren bewusst - mit insgesamt 700 000 Euro entschadigt werden sollen.

Nicht nur Kirchenproblem

Stadler ist angesichts der zahlreichen Zuhorerschar uberrascht, "danke fur Ihren Besuch, das ist bei diesem Thema nicht so selbstverstandlich. In Suhl sind wir 450 Kilometer von Ettal entfernt, doch je naher man dorthin kommt, umso weniger zeigt man sich interessiert. Die Vorfalle gehen weit uber das Kloster hinaus und sind nicht nur ein Problem der Kirche. Das System Ettal kann jederzeit auch woanders funktionieren." Als der Autor erfahrt, dass mit dem Suhler Pfarrer Joachim Kramer auch ein Geistlicher im Publikum sitzt, ist er noch einmal uberrascht: "Sie sind der erste katholische Pfarrer, der sich diesem Thema offentlich wahrend einer Veranstaltung stellt." Die Kirche meide es daruber zu reden, und das sei die denkbar schlechteste Moglichkeit zum Aufarbeiten, bemerkt Stadler.

Spater wird es zu einer heftigen, teils sehr emotionalen Diskussion kommen. Doch zunachst stellt Stadler Fakten in den Raum, nennt Tater. Der zwei Meter gro?e Pater Godehard (1933-1977), in den funfziger und sechziger Jahren priesterlicher Erzieher, stehe wie kein zweiter fur Gewalt und Willkur. Ohrfeigen, Kopfnusse, Fu?tritte, damit maltratierte er die Zehn- bis Zwolfjahrigen. Doch geprugelt, seelisch gequalt worden sei durch die ganze Hierarchie, bis zum Abt Edelbert. Erschreckend nicht minder, wie bewusst Gewalt von Schulern an Schulern zugelassen worden sei. Fur sexuellen Missbrauch stehe Pater Magnus. Seit 2003 habe das ganze Kloster davon gewusst. Doch als die Opfer an die Offentlichkeit gegangen seien, hatten sie viel Kritik einstecken mussen und galten, auch unter ehemaligen Alt-Ettalern, als Nestbeschmutzer.

Warum das so lange funktionieren konnte, schildern die Autoren, indem sie das System "Ettal" beschreiben: als totale Institution mit gutem Ruf, die Macht der Geistlichen, der Zolibat, die Distanz der Eltern und deren Glaube, ihre Sprosslinge seien bei den Monchen in guten Handen. Es spreche vieles dafur, dass sich die Patres, wenn sie von Verfehlungen erfuhren, auch selbst gedeckt hatten, eine Kultur des Wegschauens praktizierten. Das Schweigen als Tugend. "Die Gewalt war tief in die Kultur Ettals eingepasst", sie sei damals bewusst als Erziehungsmethode genutzt worden, so Stadler.

Tater au?ern sich nicht

Gern hatten sie die Tater befragt, um die Ursachen zu ergrunden, aber keiner wollte sich au?ern. "Fur uns bleibt auch die Erkenntnis, dass sich in geschlossenen Systemen Grenzen menschlichen Handelns schnell verschieben und neue Ma?stabe entstehen konnen." Viele der Patres seien anfangs sicher Menschen mit Idealismus gewesen, wiewohl Geistliche nicht mehr padophil seien, als andere gesellschaftliche Gruppen. Ein Zuhorer merkt an, dass weniger als vier Prozent des Missbrauchs an Kindern in der Kirche geschahe. Egal wo, "jeder Fall ist einer zu viel", so Kramer.

Und wie verhalt es sich mit der Gesellschaft?, kommt eine Frage aus dem Publikum. Vor Jahrzehnten sei das Prugeln in der Schule doch nicht als Strafe angesehen und erst 1980 in Bayern abgeschafft worden, in der DDR war sie nie erlaubt. Und wie verhalt es sich in der Familie, wenn der Vater die kleine Tochter missbraucht und die Mutter wegschaut oder nur verschamt die Scheidung einreicht?

Die Ha?furter Kirchenkritikerin Sigrid Behm - eine leidenschaftliche, bekennende Katholikin - ist wegen dieser Veranstaltung gekommen. Sie protestiert schon lange gegen die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in ihrer Kirche. Sie ist wutend, dass einer jener padophilen Patres von Ettal 2005 in ein ostdeutsches Bistum versetzt wurde und dieser "Saukerl" dort ausgerechnet wieder Kinder-und Jugendarbeit mache. "Warum lasst Ihr Ostdeutschen Euch das gefallen?", ruft sie aufgebracht.

Frage der Verantwortung

Joachim Kramer wehrt sich gegen ein Pauschalisieren der Kirche. "Bitte differenzieren Sie, ich bin hier, um mich einzubringen in die Debatte." Der Geistliche bedankt sich beim Autor fur den Druck, der von einem solchen Buch ausgehe. "Wer von uns bewegt sich schon ohne Druck?" Er habe selbst vor Jahren in Saalfeld erlebt, wie ein Kollege aus Fulda ohne Erklarung in das Bistum ubernommen worden sei. "Das war damals Strategie, die gibt es heute so nicht mehr. Und ich? Ich wurde heute knallhart danach fragen." Im ubrigen wurde die katholische Kirche in Thuringen streng auf das Verhalten achten, er habe erst jetzt wieder eine Erklarung zum Schutz der ihm Anvertrauten unterschreiben mussen.

Kritische Bemerkungen macht ein in Ettal unterrichtender Padagoge. Die Zeiten, wie im Buch geschildert, seien langst vorbei. "Die Odenwaldschule ist genauso ein tiefer Abgrund." Jetzt werde Aktionismus gemacht, der wegfuhre, es werde zu wenig von Verantwortung gesprochen. Verfehlungen wie korperlicher, seelischer oder sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen seien stets ein individuelles Problem. Dorthin musse man schauen und ergrunden, warum etwas falsch laufe.

 

 

 

 

 




.

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.