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Schwierige Aufarbeitung Im Eisigen Norden

By Michael Hollenbach
dradio
June 23, 2012

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[with Audio]

Seitdem die ersten Falle von sexueller Gewalt durch katholische Priester bekannt wurden, haben Tausende Opfer gegen amerikanische Bistumer geklagt. (Bild: dpa picture alliance / Markus C. Hurek)

Sexueller Missbrauch durch Geistliche hat die katholische Kirche in den vergangenen Jahren sehr in Bedrangnis gebracht. So auch in der Diozese Fairbanks im US-Bundesstaat Alaska. Hier wurden mehr als 300 Kinder und Jugendliche von Kirchenangehorigen sexuell missbraucht.

Martin Schluter ist zufallig auf den Skandal gesto?en. Nach dem Abitur war der Hamburger mit zwei Freunden drei Monate mit dem Fahrrad in Alaska unterwegs. Fasziniert von der unglaublichen Landschaft und der Gastfreundschaft der dort lebenden Eskimos ist der heute 34-Jahrige dem Landstrich im hohen Norden verbunden geblieben. Als er mal wieder im Internet nachschaute, was es Neues in Alaska gibt, stie? er auf eine kleine Meldung uber jahrzehntelange sexuelle Gewalt bei den Eskimos - ein Skandal, den das ubrige Nordamerika kaum tangierte:

"Es ist so, dass in Amerika - vielleicht ahnlich wie in Australien mit den Aborigines - sich keiner so richtig dafur interessiert. Es gibt starke Vorurteile gegen die Ureinwohner, eine richtige Lobby oder eine Anteilnahme gibt es da nicht."

Im Bistum Fairbanks vergingen sich 43 Priester und Ordensleute an Kindern und Jugendlichen- in Relation zu den 16.000 Gemeindemitgliedern ein trauriger Rekord. In mehr als der Halfte der Gemeinden meldeten sich Opfer sexueller Gewalt. Offenbar wurden padophile Priester systematisch aus anderen US-Diozesen in den hohen Norden, an den Polarkreis, abgeschoben:

"Es gibt auf jeden Fall einige Kirchenmitarbeiter, die zuvor in den unteren Staaten gearbeitet haben, da auffallig geworden sind in den Gemeinden, Kinder sich gemeldet haben und die dann versetzt worden sind an den Rand des Kontinents. Die waren vom Radar genommen und konnten da machen, was sie wollten, ohne dass das gro? aufgefallen ware."

Erste Berichte uber sexuelle Gewalt durch Priester gab es in den USA schon vor 25 Jahren; doch erst 2002, als der Bischof von Boston wegen eines gro?en Missbrauchsskandals zurucktreten musste, kam eine Lawine ins Rollen. Nun trauten sich auch die ersten Opfer in Alaska an die Offentlichkeit.

Der Fotograf Martin Schluter flog im vergangenen Jahr nach Alaska und nahm sich viel Zeit - fur die Bilder und fur Gesprache. Wochenlang wohnte er in der am schlimmsten betroffenen Gemeinde St. Michael im Dorfgemeinschaftshaus. Oft klopften morgens um neun schon die Menschen an seine Tur, um mit ihm, dem Fotografen aus dem fernen Deutschland, zu reden. Immer wieder erzahlten die Eskimos von ihrer Wut, die sich angestaut hatte:

"Oft au?erte sich das in Gewalt, die sich entlud. Die Menschen haben ihre Kinder verprugelt, ihre Partner, haben sich furchtbar betrunken, haben schlecht geschlafen, Selbsthass scheint bei vielen ein ganz gro?es Thema gewesen zu sein. Also die Selbstmordrate ist extrem hoch."

Funf Mal so hoch wie im Rest der USA.

Besonders geschockt war der Hamburger Fotograf von der Geschichte, die Rachel Mike ihm erzahlte. Sie war in einer Familie aufgewachsen, in der sich die Eltern nicht um ihre Kinder kummerten und standig betrunken waren. Rachel wollte sich als Teenager das Leben nehmen; mit 14 zerschoss sie sich mit dem Gewehr ihres Vaters den Fu?. Wochenlang lag sie in der Klinik. Rachel war sehr religios, berichtet Martin Schluter. Sie traumte davon, einmal Nonne zu werden, um dem trostlosen Leben in St. Michael zu entfliehen. Deshalb hatte sie auch nichts dagegen, dass der Priester James Poole sie im Krankenhaus besuchte:

"Der hat sie noch im Krankenbett vergewaltigt. Im Krankenhaus mit dem zertrummerten Bein, und uber Wochen hat er sie besucht und sie ist schwanger geworden. Daraufhin ist James Poole ausgeflippt und hat ihr gesagt, dass sie auf keinen Fall das Kind kriegen konnte und dass sie den Arzten sagen solle, ihr gewalttatiger Vater sei das gewesen."

Aus Furcht vor dem Priester und der Macht der Kirche beschuldigte Rachel dann tatsachlich ihren Vater der Vergewaltigung. Daraufhin wurde das Kind abgetrieben.

Der Priester James Poole, der spater zugab, Rachel und noch andere Jugendliche vergewaltigt zu haben, konnte rechtlich nicht mehr belangt werden: Die Taten waren verjahrt.

Als Martin Schluter nun Rachel Mike traf, war er beeindruckt, wie sehr die heute 40-jahrige Eskimo-Frau offenbar die Traumata ihrer Kindheit verarbeitet hatte:

"Eine reizende Person mit feinen Manieren, ein liebevoller Mensch, aber was in dieser Person schlummerte, hatte kein Mensch geglaubt, der sie einfach so kennengelernt hatte."

Denn Rachel war erst eine Woche zuvor aus dem Gefangnis entlassen worden. Sie hatte versucht, ihren damaligen Freund zu erstechen.

Diese und andere bedruckende Geschichten hatte Martin Schluter schon erzahlt bekommen, als der zustandige Bischof Donald Kettler die Eskimos besuchte. Nicht ganz freiwillig. Der Besuch war eine Auflage des Bankruptcy Court of Alaska, an den sich die Opfer gewandt hatten. Das Gericht hatte festgestellt:

Kirchenangehorige, uberwiegend Jesuiten in der Diozese Fairbanks, haben sexuelle Verbrechen in verschiedener Form begangen, unter anderem Exhibitionismus, Beruhren von Genitalien uber und unter der Kleidung, Vergewaltigung einschlie?lich vaginaler und analer Penetration, verubt an Kindern der Eskimos uber einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten.

Das Gericht hat das Bistum verurteilt, insgesamt zehn Millionen Dollar Entschadigung an die 300 namentlich bekannten Opfer zu zahlen; au?erdem muss der Bischof in alle betroffenen Gemeinden fliegen, um ein Entschuldigungsschreiben vorzulesen; er muss bekraftigen, dass die Kirche die Schuld an dem Missbrauch tragt und nicht die Opfer. Und er muss den Betroffenen versichern, dass sie nicht in die Holle kommen, weil sie die Kirche verklagt haben.

Derartige Auflagen sind im Bistum Chicago nicht notwendig. Hier hat die Kirche ihre Konsequenzen aus dem Missbrauchsskandal gezogen. In der Diozese kummert sich Jan Slattery um von sexueller Gewalt Betroffene.

"Wir versuchen, moglichst viele zu erreichen, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Wir bieten Selbsthilfegruppen an, Beratung fur Eltern von Opfern; viele haben unterschiedliche Angebote, auch spiritueller Art. Wir haben auch einen healing garden, einen Garten fur die Heilung angelegt, da findet zum Beispiel eine Nacht der Erinnerung statt, eine Andacht mit Kerzenlicht, fur die Opfer und deren Eltern. Das sto?t auf eine sehr positive Resonanz bei den Opfern und den Familienangehorigen. Es ist nicht unsere Absicht, diese Menschen wieder in die Kirche zuruckzuholen, sondern sie zu heilen."

Jan Slattery wei? aus den Gesprachen mit den Opfern, dass sich viele von der Kirche abgewandt haben.

"Wir entdecken, dass viele der Kirche nicht mehr trauen. Das kann man gut nachvollziehen nach ihren Erfahrungen mit priesterlicher Gewalt. Andere haben den starken Wunsch, Spiritualitat wieder zu entdecken. Vielleicht nicht mit der Kirche, aber mit Gott."

Im Bistum Chicago hat die katholische Kirche begriffen, dass sie sich andern muss und wie sie auf die Betroffenen zugehen muss. In Alaska, im Bistum Fairbanks, hat Martin Schluter einen anderen Eindruck gewonnen.

Als Bischof Donald Kettler in St. Michael ankam, um sich vor Ort zu entschuldigen, stand Martin Schluter, selbst ehemaliger Messdiener und bekennender Katholik, neben der Landebahn:

"Wir dachten, was ist das fur ein Mensch, der da jetzt aussteigt, der Bischof von Alaska? Und das erste war: Er stieg aus, und hatte diese flachen Seglerschuhe an, das im Dezember an der Beringsee, pfeifender Wind, kalt, und zu kleine Handschuhe - er sah aus wie ein Fremdkorper, obwohl es sein Bistum war."

Der Bischof bezog sofort eine Wohnung im Pfarrheim und verschanzte sich dort. In den funf Tagen, die er in St. Michael war, hat er keines der Opfer besucht. Er sagte, ihm sei es drau?en zu kalt.

In St. Michael haben sich Priester in den 70er und 80er-Jahren an 50 Kindern und Jugendlichen vergangen. Die meisten Manner, die heute zwischen 40 und 50 Jahre alt sind, haben diese sexuelle Gewalt erlebt. Keine Familie, die in St. Michael nicht betroffen ware. Aber zu den sogenannten Healing Sessions des Bischofs, zu den Heilungstreffen in der Kirche, kamen nur wenige.

"Die allermeisten sagten: der Bischof kommt 30 Jahre zu spat. Wir haben Jahrzehnte gewartet auf eine Entschuldigung oder auch die Bereitschaft, etwas zu andern, das ist alles nicht passiert, das hei?t die allermeisten der Opfer wollten vom Bischofsbesuch nichts wissen."

Sie hatten nicht das Gefuhl, dass sich in der Kirche wirklich etwas verandert habe:

"Die Opfer haben gesagt: wenn ihr uns wirklich helfen wollt, dann schickt auf eure Kosten ein Therapeuten in unser Dorf, der jeden Tag hier ist und den wir regelma?ig besuchen konnen, der in die Familien geht und der die Kinder und die Partner mit an den Tisch setzt. Das macht die Kirche nicht, weil sie sagt, das lie?e sich nicht finanzieren."

Das Bistum hatte wegen der Entschadigungszahlen zunachst Insolvenz angemeldet. Doch nach drei Jahren waren so viele Spendengelder aus den gesamten USA fur das Bistum in Alaska zusammengekommen, dass die Kirche ihre Mitarbeiter wieder zu den alten Tarifen entlohnen konnte. Und der Besuch des Bischofs in Alaska, da ist sich Martin Schluter sicher, diente auch der Akquirierung neuer Spenden.

"Diese Entschuldigungstournee, die der Bischof gemacht hat, die wurde von einem Fernsehteam dokumentiert. Ein Kamerateam aus Kalifornien kam angeflogen, die ganz eng mit dem Bischof und seinem PR-Berater waren, die diese Entschuldigungstournee gefilmt haben."

Bischof Donald Kettler kennt die Wirkung der Bilder. Er war jahrelang katholischer Fernsehprediger.

 

 

 

 

 




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