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Nur Schlage Im Katholischen Kinderheim

Zeit
September 18, 2012

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2011-09/missbrauch-kinderheim-kirche

Die Diskussion uber den Missbrauchsskandal hat es moglich gemacht: Drei Manner erinnern sich an Schrecken ihrer Kindheit in katholischen Heimen – und sprechen daruber.

Paul Nagele (links) und Elvis Stiurins vor dem verfallenen Sauglingsheim im baden-wurttembergischen Dorf Hurbel

Seine Eltern gaben ihm den Namen Elvis, als er im Winter 1962 geboren wurde. Seine Mutter war aus Lettland geflohen und in einem Ulmer Wohnheim gestrandet. Als sie krank wurde, kam der kleine Elvis auf Anordnung des Jugendamts ins katholische Sauglingsheim St. Josef, das in einem alten Schloss im baden-wurttembergischen Dorf Hurbel untergebracht war. Seinem Vater traute man die Betreuung eines Kindes nicht zu. Ein Kind im gottesfurchtigen Kleinkosmos Hurbel, das den Namen eines amerikanischen Sangers trug, vor dem die Burgersleute ihre Kinder warnten, weil er sich obszon bewegte und lacherliche Glitzerkostume trug. Seine Eltern durfte Elvis Stiurins nicht wiedersehen, auch als die Mutter wieder gesund war.

Wenn er heute uber seine fruhe Kindheit nachdenkt, erinnert sich Elvis Stiurins als Erstes an den scharfen Geruch. Er entstromte den Gummieinlagen unter den Kindermatratzen im Schlafsaal von Hurbel, auf denen sich nachts der Urin der Bettnasser staute. "Wir hatten nichts, kein Spielzeug, keine Privatsphare. Zuneigung gab's nicht, nur Schlage", sagt der 49-Jahrige. Mit zwei anderen Heiminsassen von damals, Paul Nagele und Wolfgang Ott Dos Santos, ist er nach Hurbel zuruckgekehrt, wo das ehemalige Sauglingsheim heute fast verfallen ist.

Auch Paul Nageles erste Erinnerungen spielen im Hurbeler Schlafsaal. Er erinnert sich, wie er um Mitternacht von alteren Kindern aus dem Schlaf gerissen und auf einen Nachttopf gesetzt wurde. Was genau ihm als Kleinkind sonst widerfuhr, wei? er nicht mehr. Aber er wei? genau, was er selbst im Alter von acht bis zehn Jahren um Mitternacht mit den Jungeren machte. Manche horten nicht auf zu schreien und er musste ihnen Tabletten geben. Erst als Erwachsener verstand er, dass es Psychopharmaka waren. Wer sie genommen hatte, wurde schnell ruhig.

Paul und der gleichaltrige Elvis waren tagsuber zum Arbeitseinsatz im Gemusegarten eingeteilt. Von den Beeten aus war es nicht weit zu dem von dichten Hecken umstandenen Kinderfriedhof des Heims, wei?gekalkte Grabkreuze ohne Namen standen dort. Ausfluge dorthin waren fur Paul und Elvis eine Mutprobe.

Todesursache: Schwache

Der Kinderfriedhof geht Wolfgang Ott Dos Santos, dem dritten der Manner, bis heute nicht aus dem Kopf. Wegen des Verdachts der fahrlassigen Totung stellte er im Sommer bei der Staatsanwaltschaft Ravensburg Strafanzeige gegen Unbekannt. Doch die Justizbehorde lehnte Ermittlungen ab: Alles ist langst verjahrt. Wolfgang Ott Dos Santos wurde 1964 unehelich geboren, noch im Krankenhaus von der Mutter getrennt und nach St. Josef gebracht. Auch er erzahlt von Misshandlungen, die alle Kinder im Heim erlebten: mit der Hand, mit dem Stock, unter der kalten Dusche oder in der verdunkelten Kammer unter der Treppe.

Die Ruckkehr nach Hurbel, ins ehemalige St. Joseph, fallt allen dreien schwer. Nichts Trostliches findet sich hier, nichts, was helfen wurde, zu verstehen. Ein Teil des fruheren Kinder- und Sauglingsheims ist heute ein skelettierter Bau, den niemand haben will. Nach vorne, zur Hauptstra?e hin, hat jemand Farbe auf den Putz gestrichen. Im Hinterhof ist durch staubblinde Glasscheiben nur wenig von den leeren Raumen zu sehen.

Dort, wo einst der Kinderfriedhof war, steht ein Einfamilienhaus. Eine hochbetagte Nachbarin erinnert sich, dass hier einmal rund 50 Grabkreuze standen. Sie sind verschwunden. 2007 hatte das Biberacher Sozialamt samtliche Akten von St. Josef in den Schredder geworfen. Auf den Totenscheinen von Kindern stand damals haufig ohnehin nur "Schwache" als Todesursache. Was hier wirklich geschehen ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen.

 

 

 

 

 




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