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Ein Kranz Von Vorwurfen

The Cicero
January 21, 2013

http://www.cicero.de/berliner-republik/sexueller-missbrauch-ein-kranz-von-vorwuerfen/53117



Vor drei Jahren wurde Deutschland aufgeschreckt durch Missbrauchsfalle in katholischen Einrichtungen. Danach meldeten sich immer mehr Betroffene, die gesellschaftliche Dimension des Themas offenbarte sich. Was hat sich seither getan?

Es ist fast auf den Tag genau drei Jahre her, dass der Jesuitenpater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, in einem Brief an ehemalige Schuler zum ersten Mal offentlich machte, dass an der Schule Minderjahrige durch Patres missbraucht und misshandelt wurden. Kurz danach wurden ahnliche Vorgange aus der Odenwaldschule bekannt. Es war, als ob sich eine Schleuse geoffnet hatte: Hunderte Menschen meldeten sich und erzahlten, wie ihnen als Jugendliche sexuelle Gewalt in kirchlichen und nicht kirchlichen Einrichtungen angetan wurde. Schnell war klar, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt. Die Bundesregierung benannte einen Missbrauchsbeauftragten.

Es wurde eine telefonische Hotline eingerichtet, bei der sich bis Ende 2012 uber 30 000 Menschen gemeldet haben. Taglich gehen weitere Anrufe ein.

Die Bundesregierung setzte auch den „Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch“ unter Federfuhrung der drei Ministerinnen fur Justiz, Familie und Wissenschaft ein. Nach eineinhalb Jahren Arbeit legte das Gremium im November 2011 einen Abschlussbericht mit Empfehlungen an die Politik vor: zur Pravention, zur Verbesserung von Opferrechten, zur Entschadigung von Betroffenen. Umgesetzt wurde davon wenig.

Was haben die Kirchen und die Odenwaldschule zur Aufarbeitung getan?

Der Jesuitenorden hat seine vier Schulen in Berlin, Bonn, Hamburg und im Schwarzwald untersuchen lassen und zahlt mindestens 70 Tater und 300 Opfer. Auch das bayerische Benediktinerkloster Ettal setzte Ermittler an. Im Erzbistum Munchen und Freising spurte eine Juristin in 13 000 Personalakten seit 1945 159 Tater und viel Vertuschung auf. Die anderen 26 Bistumer haben die Falle zusammengetragen, die sich aufgrund von Aussagen Betroffener rekonstruieren lie?en. Wie viele Jugendliche insgesamt im kirchlichen Bereich Ubergriffe erdulden mussten und von wie vielen Tatern, daruber liegen nicht einmal Schatzungen vor. In der wegen ihrer Reformpadagogik beruhmten Odenwaldschule stie?en die Ermittler auf 132 Opfer. Die Dunkelziffer durfte uberall wesentlich hoher sein als die bisher aufgedeckten Falle.

Was haben die Studien ergeben?

Viele Ubergriffe fanden in den 1970er und 1980er Jahren statt, in einigen kirchlichen Einrichtungen gab es auch noch vor wenigen Jahren neue Vorkommnisse. In geschlossenen Milieus wie in Internaten und Familien und dort, wo geschlossene Weltbilder vorherrschen, sind Missbrauch und Vertuschung leichter moglich als anderswo. Doch in jedem gesellschaftlichen Bereich hat der Missbrauch einen ganz eigenen „Geschmack“, wie Pater Mertes es nannte. Missbrauch passiert auch nicht zufallig, sondern viele Tater gehen systematisch vor. 2012 untersuchte der Forensiker Norbert Leygraf, warum katholische Priester zu Tatern werden. Die Bischofskonferenz hatte ihm dafur 78 anonymisierte psychologische Gutachten uber die Geistlichen zur Verfugung gestellt. Eine spezielle sexuelle Storung oder Padophilie lag demnach nur in wenigen Fallen vor. Meistens waren berufliche Krisen, Einsamkeit oder Probleme mit Nahe und Distanz die Ursache.

Institutionenubergreifende Studien gibt es bisher nicht. Wie gro? die Dimension von sexuellem Kindesmissbrauch in Familien und Einrichtungen ist, daruber gibt es deshalb nur Schatzungen, die sehr weit auseinandergehen. Laut einer Studie des Hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer von 2011 sind 8,6 Prozent der Madchen und 2,8 Prozent der Jungen unter 16 Jahren betroffen. Die Opferinitiative Zartbitter geht von drei- bis viermal so hohen Zahlen aus.

Welche Konsequenzen wunschen sich die Betroffeneninitiativen?

Die Initiative „Eckiger Tisch“ forderte den Bundestag auf, eine Enquetekommission einzusetzen, um die Falle institutionenubergreifend aufzuarbeiten. Auch Johannes-Wilhelm Rorig, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, will der Politik bis Mai Vorschlage machen, wie Bundestag und Bundesregierung die Aufarbeitung ubernehmen konnten. Der Vorschlag des „Eckigen Tisches“ werde dabei eine Rolle spielen, sagt er. Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), kann sich ebenfalls fur diese Idee erwarmen und sagt: „Die Opfer haben ein Recht darauf, dass endlich alle Taten tabulos aufgeklart werden. Die Bundesregierung muss jetzt schnell mit dem Runden Tisch beraten, wie der Aufklarungsprozess fortgesetzt werden kann.“ Auch Christel Humme (SPD), Vizevorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, kann sich eine unabhangige Untersuchungskommission des Bundestages „gut vorstellen“. Ebenso unterstutzt Heinz Hilgers, der Prasident des Kinderschutzbundes, die Forderung.

Die Betroffenen und ihre Organisationen sind im Fachbeirat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung vertreten. Doch in der Offentlichkeit kommen sie drei Jahre nach Beginn des Skandals kaum noch zu Wort. Viele haben sich deshalb enttauscht zuruckgezogen. Nur 1300 Menschen haben die 5000 Euro beantragt, die die katholische Kirche und der Jesuitenorden den Missbrauchsopfern als eine Art Entschadigung zahlt.

Was wurde versaumt?

2011 wurde von der Bundesregierung und den Landern ein Hilfefonds in Aussicht gestellt, den beide Seiten mit je 50 Millionen Euro bestucken wollten. Davon sollten vor allem Betroffene, denen im familiaren Bereich Schlimmes angetan wurde, finanzielle Erleichterungen erhalten. Doch bislang gibt es den Fonds nicht, da die Lander ihre Zusage nicht halten. Ein von der Justizministerin auf den Weg gebrachtes Gesetz zur Verlangerung der Verjahrungsfristen bei Missbrauch und Verbesserung von Opferrechten liegt seit 18 Monaten im Rechtsausschuss.

Was tun Institutionen, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern?

Eine reprasentative Umfrage des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung hat 2012 ergeben, dass 60 Prozent der Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, mit Fortbildungsma?nahmen fur ihre Fachkrafte begonnen haben. Im Erzbistum Koln etwa wurden dadurch 200 000 Fachkrafte erreicht. Auch die Bereitschaft, Schutzkonzepte einzufuhren, sei auf der Ebene der Dachorganisationen gro?. „Doch bis das auch bei allen Ortsvereinen angekommen ist, wird viel Zeit vergehen“, sagt Rorig.

„Es hat sich enorm viel getan“, sagt Christine Bergmann. Die SPD-Politikerin war von 2010 bis 2011 Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. „Das Bewusstsein fur das Thema ist in der Bevolkerung gewachsen“, sagt Kinderschutzbund-Prasident Hilgers. Doch wenn die Menschen dann in einer Beratungsstelle Hilfe suchen, bekommen sie keinen Termin, weil die Stelle uberlastet ist.“ Es brauche viel mehr Anlaufstellen.

 

 

 

 

 




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