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"Mitwisser" Sollen Nicht Langer Zum Missbrauch Schweigen

By Ebba Hagenberg-Miliu
The General-Anzeiger
January 25, 2013

http://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/bonn/bonn-zentrum/Mitwisser-sollen-nicht-laenger-zum-Missbrauch-schweigen-article955683.html

BONN. Klaus Mertes hat eine besondere Sicht auf die Missbrauchsfalle am Aloisiuskolleg (Ako) in Bad Godesberg: Er war selbst Ako-Schuler, als der 2010 verstorbene Haupttater Pater Ludger Stuper schon dort tatig war. 2010 brachte Pater Mertes den Missbrauchsskandal von Berlin aus ins Rollen. Im GA au?ert er sich erstmals zum Ako.

Der Jesuiten-Pater aus Bad Godesberg war bis 2011 Leiter des Berliner Canisius-Kollegs. Foto: dpa

Sie sagen, Sie haben selbst eine wunderbare Schulerfahrung am Ako gemacht?

Klaus Mertes: Ja. Ich bin dem Ako bis heute dankbar. Ich hatte gute Lehrerinnen und Lehrer, und auch ein paar weniger gute, wie an jeder Schule. Bis heute lebe ich mit Freundschaften aus dieser Zeit. Besonders wichtig war mir die KSJ (ND) am Ako, aber auch andere Freundeskreise, die sich um ehemalige Lehrer und Patres sammelten. Ich habe die Schule 1973 mit Stolz verlassen. Und schlie?lich: Ohne das Ako ware ich nicht Jesuit geworden. Das Ako gehort zu meinem Leben.

Nachtraglich ist Ihnen aber auch klargeworden, dass ausgehend vom Internats- und dann Schulleiter Pater Ludger Stuper eine "homophobe Grundstimmung" und eine "padophile Beziehungsstruktur" herrschten?

Mertes: Ja. Stuper war die Schlusselfigur fur die Entwicklungen im Ako seit 1968. Als Schuler gehorte ich einer rebellisch-konservativ gesonnenen Gruppe an. Wir rauften uns mit linken Mitschulern, waren uns aber zugleich augenzwinkernd in unserer rebellischen Haltung gegenuber der neuen Leitung des Hauses einig. Wir nahmen Ansto? am neuen Stil. Da mischten sich pubertare Motive mit Intuitionen, uber die ich seit 2010 vermehrt nachdenke. Das Problem der Homophobie lernte ich erst viele Jahre spater in Berlin kennen.

Als zustandiger Oberer stellte ich mich offentlich neben Mitbruder, die sich gegen die Diskriminierung von Homosexuellen wehrten und sich dabei auch als Diskriminierte zu erkennen gaben. Damals erreichten mich von Mitbrudern aus dem Ako besonders harte Zurechtweisungen und Beschimpfungen, die ich nicht verstand. Heute, nach 2010, frage ich mich aus dieser Erfahrung heraus, ob und wie der Zusammenhang zwischen padophiler Asthetik und Praxis einerseits und lautstarker Homophobie andererseits zu verstehen ist. Eine endgultige Antwort habe ich noch nicht.

Wie konnte das "System Ako" uber Jahrzehnte funktionieren? Und parallel noch die, wie Sie sagen, sektenartige Struktur, ja Gewalt gegen Schutzbefohlene unter der vormaligen Leitung des Ako-pro-Seminars zulassen?

Mertes: Auffallig ist, dass im Mittelpunkt beider Systeme charismatische Personen stehen. Es ist offensichtlich nicht leicht, sich von deren Faszination zu losen. Die haben die Kraft, ganze Systeme uber Jahrzehnte hinweg zu verzaubern. Ihr exzessiver Narzismus ubertragt sich auf das Umfeld und fuhrt diese in eine Sonderwelt hinein. Dort konnen sie dann den Leuten ein X fur ein U vormachen. Und es kommt dabei zugleich das Gefuhl heraus: "Wir sind die Besten." Elite eben. Das besondere "Wir-Gefuhl", garniert mit Prominenten.

Wenn man so fuhlt, hat man keinen Blick fur die Opfer. Ein Freund aus gemeinsamer Schulzeit sagte es mir kurzlich so: "Unser Gefuhl, stark zu sein, machte uns blind. Und diese Blindheit gehort zum Ungluck der Opfer. Sie waren ganz allein." Diese Erkenntnis erschuttert mich nachtraglich. Und erst heute erst kann ich mir wirklich eingestehen, dass ich vielleicht damals auch gerne einer von den Lieblingen der gro?en Charismatiker gewesen ware. Erst meine personlichen Niederlagen haben mir geholfen, mich realistischer zu sehen und die Struktur des narzistischen Zusammenspiels zu durchschauen.

Sie sprechen von Mitwisserschaft vieler. Was fordern Sie von sich, von anderen ehemaligen Schulern und Lehrern?

Mertes: Ich fordere nicht. Ich spreche von mir selbst. Und ich hoffe, dass das andere ermutigt, auch von sich selbst zu sprechen. Ich habe etwas gesehen, und ich habe gesehen, dass viele, sehr viele etwas gesehen haben - Bilder, drakonische Strafen, schwarmerisches Reden uber die Galionsfiguren und Lieblinge. Die padophile Symptomatik wurde ja uber die Bilder offentlich ausgestellt.

Wir haben die Symptome nicht als Symptome erkannt, und als wir zum Beispiel durch die Publikation des Buches von Miguel Abrantes Ostrowski darauf gesto?en wurden, haben viele von uns uninteressiert weggeschaut oder anders abgewehrt. Ich glaube, dass das Besondere der Situation am Ako in der Breite der Mitwisserschaft liegt. Wir wurden durch die Dreistigkeit, mit der die Symptome ausgestellt wurden, in das Mitwissen mit hineingenommen, ohne ganz zu begreifen, dass es ein Mitwissen war. Und daruber mussten wir miteinander sprechen - unter Einbeziehung der Opfer, die ja zu uns dazugehoren.

Genau das durfte unter Ako- und Ako-pro-Ehemaligen, in der heutigen Schulgemeinde, aber auch im Stadtteil Bad Godesberg schwierig sein, oder?

Mertes: Klar, aber ich glaube, dass wir ehemaligen Schuler und auch wir Jesuiten, nur weiterkommen, wenn wir anfangen, uber unser Mitwissen zu sprechen. Sonst mussen wir in der standigen Abwehrhaltung gegenuber den Informationen leben, die nach 2010 sichtbar wurden - und, wie ich hoffe, noch sichtbar werden. Die Defensive fuhrt in die Dauer-Aggression gegen die Opfer und in die eigene Erschopfung.

Aber mussen nicht auch Personen an den Schaltstellen Verantwortung ubernehmen? Mussen nicht Konsequenzen folgen?Mertes: Naturlich. Aber das reicht nicht. Wir konnen nicht einfach alles auf die jetzt Verantwortlichen abladen und weitermachen wie bisher.

Sie sagen, Sie verstehen gerade im Fall des Ako den Zorn, die Wut der Opfer? Wie werden die Wunden heilen konnen?

Mertes: Ich nehme wahr, dass Wut und Enttauschung der Opfer trotz Zinsmeisterbericht, trotz Ankundigung eines weiteren Berichts, trotz Entschuldigungen und Anerkennungszahlungen nicht nachlassen. In einigen Fallen entsteht in der Spur der Wut und Enttauschung neue Gewalt. Ich nehme andererseits auch ein Schweigen der Mitwisser wahr - ehemalige Schuler wie mich oder auch Jesuiten wie mich. Hier sehe ich einen wesentlichen Grund fur die bleibende Wut. Es geht mir nicht um pauschale moralische Urteile. Aber in dem Moment, wo ich begreife, dass ich ein Mitwisser war oder bin, stehe ich in der Verantwortung. Alle Untersuchungsberichte, die von au?en kommen, werden die Wahrheit nicht aufdecken konnen, wenn von innen her keine Bereitschaft zum Sprechen uber das eigene Mitwissen da ist. Aber wenn es zum Sprechen - ein jeder fur sich in der ersten Person Singular - kommt, entsteht eine gro?e Chance: Die der Versohnung jedes Einzelnen mit sich und seiner eigenen Ako-Geschichte, ohne die Geschichte der Anderen dabei ausblenden zu mussen.

Zur Person:

Klaus Mertes, Jahrgang 1954, war von 1966 bis 1973 Ako-Schuler, 1977 trat er in den Jesuitenorden ein. Von 2000 bis 2011 war er Rektor des Berliner Canisiuskollegs. Seit September 2011 leitet er das jesuitische Kolleg St. Blasien. Mertes machte Anfang 2010 nach intensiven Gesprachen mit Canisius-Opfern erstmals sexuelle Ubergriffe durch Jesuiten offentlich und loste damit eine deutschlandweite Welle der Erschutterung in der Katholischen Kirche, der Gesellschaft und im Orden aus.

 

 

 

 

 




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