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Wann Ist Ein Opfer Ein Opfer?

Main Post
January 25, 2013

http://www.mainpost.de/ueberregional/politik/zeitgeschehen/Wann-ist-ein-Opfer-ein-Opfer;art16698,7262600

Der Begriff „Opfer sexueller Gewalt“ bedurfe einer „differenzierten Betrachtung“. Mit diesen Worten hat Bernhard Schwe?inger, Pressesprecher der Diozese Wurzburg, auf einen Gastbeitrag des Theologen Bernhard Rasche in dieser Zeitung reagiert. Rasche, der aus Bischofsheim (Lkr. Rhon-Grabfeld) stammt, hatte den Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfallen in den 70er Jahren im Internat Lebenhan (Lkr. Rhon-Grabfeld) scharf kritisiert.

Schwe?inger erklart: „Einen solchen Gastbeitrag sollte besser jemand schreiben, der tatsachlich missbraucht wurde, nicht jemand, der Zeuge war.“ In der aktuellen Diskussion wurde der Opferbegriff, so Schwe?inger, „zunachst die direkt betroffenen Opfer sexuellen Missbrauchs“ bezeichnen. „Daruber hinaus konnen Zeugen sexuellen Missbrauchs oder Angehorige von direkt betroffenen Opfern im weiteren Sinne auch Opfer sein“.

Gibt es in der katholischen Kirche Opfer erster und zweiter Klasse? Schwe?ingers Wertung empfindet Rasche als Schlag ins Gesicht. Er war eigenen Angaben zufolge selbst Opfer eines Ubergriffes, eben nicht nur Zeuge. Er habe sich, so schilderte er dieser Zeitung, bei der ersten sexuellen Annaherung des damaligen Prafekten im Schlafsaal des Internats erfolgreich gewehrt. „Der Prafekt hat unter meine Decke gegriffen und meine Geschlechtsteile beruhrt. Da habe ich ihm auf die Hand geschlagen. Das hat ihn irritiert und er ist zum nachsten Bett gegangen.“ Fortan ist Rasche fast jede Nacht Zeuge von Ubergriffen geworden, unter anderem auf seinen unmittelbaren Bettnachbarn. Dies sei auch dem fur Lebenhan zustandigen Orden „Missionare der heiligen Familie“ bekannt gewesen.

Dagegen berufen sich der Orden und die Diozese Wurzburg auf Auftritte von Rasche in der Offentlichkeit. Dabei habe dieser gesagt, er sei kein Opfer. Bernhard Rasche stellt dazu klar: „Der Orden sah bei der Ermittlung der Zahlen nur jene als Opfer an, die Opfer in einem sehr engen rechtlichen Sinn geworden waren – und da gehorte ich nicht dazu.“ Er habe dieser Bewertung widersprochen und auf jene hingewiesen, „die neben einem Jungen schliefen, der Nacht fur Nacht missbraucht wurde, die unter permanenter Angst litten und sich nicht trauten, sich zu bewegen, die ins Bett machten und die bis heute in ihrer Beziehung darunter leiden. Der von der Kirche ins Spiel gebrachte Opferbegriff mag juristisch okay sein, theologisch ist er es nicht“, so Rasche.

Dennoch steht fur Michael Baumbach, den stellvertretenden Ordensleiter, fest: „Was sexuellen Missbrauch angeht, war Rasche kein Opfer, das hat er mir gegenuber selbst erklart.“ Dabei hei?t es schon in der ersten E-Mail von Rasche an die Diozese Wurzburg, in der er am 27. August 2008 den Missbrauch anzeigt: „Ich melde meinen eigenen Missbrauch und den anderer Mitschuler der Diozese und dem Orden.“ Baumbach liegt nach eigenen Angaben diese Mail vor. Nach mehrmaligem Nachfragen raumt er uberdies ein, dass er Kenntnis von einem Missbrauchsversuch an Rasche habe, den dieser abwehren konnte. Dennoch fragt Baumbach: „Warum bezeichnet sich Rasche erst jetzt als faktisches Opfer?“ Und: „Das scheint ja kein Ende zu nehmen.“ Zwar habe Rasche mit seiner Anzeige Mut bewiesen, doch „leider verselbststandigte sich sein Grundanliegen in einer Form, die den Opfern nicht mehr hilfreich ist.“

Fur Susanne Porzelt vom Verein Wildwasser gegen sexuellen Missbrauch in Wurzburg ist die Sachlage eindeutig. „Sobald ein Erwachsener zur Befriedigung der eigenen Lust das Geschlechtsteil eines Kindes anfasst, ist das ein sexueller Missbrauch. Schon der Versuch ist strafbar.“ Davon abgesehen konne die Hilflosigkeit bei Kindern, die Zeuge sexueller Ubergriffe seien, zu schweren Traumatisierungen fuhren. „Die Symptome von denen, die beobachten, sind oft starker ausgepragt, als von denen, denen es unmittelbar passiert“, sagt die Expertin.

Auch Psychotherapeut Wunibald Muller, der das Recollectio-Haus im Kloster Munsterschwarzach leitet und Priester, Monche, Nonnen und kirchliche Mitarbeiter betreut, wenn sie sich in einer Krisensituation befinden, erklarte auf Anfrage, dass man mit Menschen wie Bernhard Rasche, die so etwas Schlimmes durchlitten hatten, egal, ob als unmittelbares Opfer oder Zeuge, sehr sensibel umgehen musse. Man konne zwar eine Unterteilung in primare und sekundare Opfer machen, doch musse man jedem Betroffenen sein Leid klar zugestehen.

Katholische Christen wunschen sich Reformen in der Kirche

Die katholischen Christen wunschen sich einer neuen Milieustudie zufolge Reformen in ihrer Kirche. Die Kirche musse sich andern, wenn sie weiter bestehen wolle, hei?t es in der Studie „Religiose und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus“, wie die Munchner Medien-Dienstleistung GmbH mitteilte. Die Befragten hatten deutlichen Unmut gegenuber der aktuellen Kirchenleitung geau?ert, wahrend die Kirche vor Ort als positiv wahrgenommen werde. Au?erdem zeichne sich eine „deutliche Individualisierung des Glaubens“ ab, der nur noch in wenigen Milieus an die katholische Kirche ruckgebunden sei. Die christliche Religion gelte unter den Befragten als „zentraler Bestandteil der abendlandischen Kultur“ und als Basis einer allgemein verbindlichen Ethik, so die Umfrage. Geschatzt werde den Angaben zufolge das soziale Engagement der Kirche. Die Zehn Gebote und die Nachstenliebe wurden „in allen Milieus“ als wichtige Werte angesehen. Die Befragten wunschten spirituelle Orientierung und seelsorgerische Begleitung von ihrer Kirche. Die Munchner Medien-Dienstleistung hatte die Studie 2012 in Auftrag geben. Partner war das Heidelberger SINUS-Institut, das ein Milieumodell der deutschen Gesellschaft entwickelt hat. Bereits 2005 ist aus dieser Kooperation eine Studie entstanden, die nun aktualisiert wurde.

 

 

 

 

 




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