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Politik Lasst Opfer Von Missbrauch Im Stich

By Miriam Hollstein
Welt
February 20, 2013

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Aus den vollmundigen Versprechen des Runden Tisches ist bislang nichts geworden. Die Betroffenen sind empört

Seit Monaten streiten Bund und Länder um die Umsetzung des 100-Millionen-Hilfsfonds

Es gibt Tage, da muss sich Johannes-Wilhelm Rörig wie der tragische griechische Held Sisyphos persönlich vorkommen. Tage, an denen der Stein, den der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs seit gut einem Jahr den politischen Berg hinaufrollt, krachend wieder herunterfällt. Dieser Mittwoch dürfte wieder einmal so ein Tag werden.

Am Vormittag treffen sich die ehemaligen Teilnehmer des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch, um darüber zu sprechen, was aus den Empfehlungen geworden ist, die sie vor einem Jahr vereinbart hatten. Den Vorsitz des Treffens haben Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU), Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) und die Staatssekretärin des Bundesbildungsministeriums, Cornelia Quennet-Thielen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Bilanz verheerend ausfallen dürfte.

Im März 2010 hatte die Bundesregierung nach einer Welle der Enthüllungen über Missbrauchsfälle in katholischen und anderen Institutionen die Einrichtung eines Runden Tisches beschlossen. Im Herbst 2011 legte dieser seinen Abschlussbericht vor. Was darin vorgeschlagen wurde, klang gut: zum Beispiel die Einrichtung eines 100-Millionen-Euro-Fonds, der den Opfern schnelle Hilfe leisten sollte – etwa bei Therapien, die nicht vollständig von den Krankenkassen abgedeckt werden.

Außerdem war im Bundeskabinett bereits im Frühjahr beschlossen worden, die Schadenersatzansprüche der Opfer zu verlängern. Ein Gesetzentwurf sah unter anderem vor, die zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von drei auf 30 Jahre zu verlängern. Als Leutheusser-Schnarrenberger ihn vorlegte, gab es dafür viel Applaus. Experten hielten ihn für überfällig. Denn wer als Kind missbraucht wird, verdrängt das traumatische Erlebnis häufig. Ins Bewusstsein gelangt es oft erst dann wieder, wenn man selbst eine Familie gründet und, gespiegelt durch das eigene Kind, begreift, welches Unrecht man erlebt hat.

Doch aus den Vorhaben ist nicht viel geworden. Seit 14 Monaten streitet der Bund mit den Ländern über die Umsetzung des vereinbarten Hilfefonds. 50 Millionen wollte der Bund übernehmen, 50 Millionen sollten von den Ländern kommen. Bislang gibt es aber keine Einigung. Weil die Länder ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, sagen die einen. Weil der Bund keinen Plan für die Struktur des Fonds vorlegen konnte, sagen die anderen. Wer recht hat, bleibt unklar. Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Manuela Schwesig (SPD), die als Vertreterin der Länder beim Runden Tisch dabei war, hat nach Informationen der "Welt" ihre Teilnahme am Bilanztreffen kurzfristig abgesagt.

Familienministerin Schröder forderte am Dienstag die Länder auf, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Die Bundesregierung stehe zu ihrer Zusage von 50 Millionen Euro, sagte Schröder in  Sie sei dafür, dass man das Geld notfalls auch ohne Finanzzusage der Länder zur Verfügung stelle. Aber auch die Unterstützung des Familienministeriums kennt Grenzen. Gern hätte der Missbrauchsbeauftragte gemeinsam mit der Ministerin die Kampagne "Kein Raum für Missbrauch" organisiert. Das Ministerium lehnte ab: Man plane eine eigene Kampagne.

Der Gesetzentwurf zur Reform der Verjährungsfristen hängt nach der ersten Lesung im Rechtsausschuss fest. Warum, konnte nicht einmal die Bundesjustizministerin dem Missbrauchsbeauftragten erklären. Am 23. Januar gab es ein Treffen zwischen Rörig sowie den drei Ministerinnen, die beim Runden Tisch federführend waren. Damals war noch Annette Schavan als Bundesbildungsministerin dabei. Man habe versucht, eine "gemeinsame Linie" zu finden, sagt Rörig. Das sei aber nur "zum Teil erfolgreich gewesen". So bekam er keine feste Zusage, dass sexueller Missbrauch über das Ende der Legislatur systematisch aufgearbeitet werden wird.

Spätestens im Dezember 2013 endet die Amtszeit von Johannes-Wilhelm Rörig als Missbrauchsbeauftragter. Wird sie nicht verlängert, wird der Jurist auf seinen eigentlichen Posten als Unterabteilungsleiter im Bundesfamilienministerium zurückkehren. Aber Rörig will nicht aufhören, ohne wirklich etwas für die Opfer erreicht zu haben. Noch in diesem Monat will er sich an die Vorsitzenden aller Bundestagsparteien wenden. Sein Ziel ist es, dass sich die nächste Regierung im Koalitionsvertrag verpflichtet, dass sie sich weiter um die Opfer sexuellen Missbrauchs kümmern wird. Beim Hilfsfonds müsse der Bund notfalls auch ohne die Länder in Vorleistung gehen, fordert Rörig. Und bei der zivilrechtlichen Verlängerung der Schadenersatzansprüche müsse man unter Umständen ohne die Zustimmung des Bundesrats auskommen.

Die Opferverbände reagieren mit wachsender Verbitterung auf die Situation. "Es ist beschämend, wie hier Grundsatzdebatten auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden", schrieb Matthias Katsch, Vorsitzender des "Eckigen Tisches", bereits im Dezember an die Mitglieder des Runden Tisches. Dass die Versprechen bislang noch nicht umgesetzt seien, löse bei den Betroffenen "Erstaunen und Unverständnis" aus.




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