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DAS Opfer Hat Lebenslang

By Maximilian Ditz
The Explizit
March 26, 2013

http://www.explizit.net/Gesellschaft/Das-Opfer-hat-lebenslang


Seitdem Ende Januar 2010 Fälle von sexuellem Missbrauch am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt wurden, lässt die Debatte über dieses Thema die Öffentlichkeit nicht mehr los. Im Dezember 2012 veröffentliche die Deutsche Bischofskonferenz eine forensisch-psychiatrische Studie zur Analyse der sexuellen Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland und zuletzt berichteten die Medien Anfang März über die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie des Klosters Ettal. Bei all diesen Studien, so könnte man den Eindruck haben, gehe es nur darum, wie in Zukunft Übergriffe verhindert werden können. Eigentlich sind die Kirche, die Sportverbände und andere Einrichtungen aber auch dazu verpflichtet, den Opfern zu helfen. Von keiner der Institutionen ist zu erfahren, was wirkliche Hilfe für  Opfer von sexuellem Missbrauch wäre und ob sie entschieden genug umgesetzt werde. Über diese Problematik sprach explizit.net mit Veit Schiemann vom  „WEISSEN RING“, einer bundesweit agierenden Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und ihre Familien.

Im Interview geht es unter anderem um den sexuellen Missbrauch und die Folgen für die Opfer, über psychologische und andere Hilfsangebote des „WEISSEN RINGS“, über den Aufarbeitungsprozess des kirchlichen Missbrauchsskandals und über die Errichtung des sog. „Ergänzenden Hilfesystems“ (EHS), welches das Ergebnis des „Runden Tisches gegen Missbrauchs“ ist.

explizit.net: Wo fängt sexueller Missbrauch an? Welche Bandbreiten gibt es?

Veit Schiemann: Sexueller Missbrauch fängt einmal altersmäßig an, wird also strafrechtlich vom Alter her definiert. Das Zweite ist, dass man eine Situation ausnutzt. Der sexuelle Kontakt unter Volljährigen ist nicht nach dem Gesetz verboten, wenn er beiderseitigem Willen entspricht. Beim sexuellen Missbrauch ist einer der Partner nicht in der Lage einzuschätzen, ob er das will oder nicht. Es wird quasi vom Täter die Situation ausgenutzt. Das hat man beispielsweise bei Abhängigkeitssituationen, wie im weitesten Sinne beim Verhältnis Lehrer – Schüler, Trainer – Vereinsmitglied bzw. Mannschaftsmitglied, Vater bzw. Mutter – Kind. Der sexuelle Missbrauch beginnt mit der sexuellen Handlung. Die sexuelle Handlung muss aber nicht unbedingt tatsächlich der körperliche Kontakt sein, sondern die sexuelle Handlung kann auch darin bestehen, dass der Täter oder die Täterin – es gibt immer beide Seiten, das darf man nicht vergessen – eine Handlung an sich selber vor dem Kind oder vor dem Opfer vornimmt. Auch das ist sexueller Missbrauch.

explizit.net: Welche möglichen Folgen hat sexueller Missbrauch für die Opfer und ist eine vollkommene Heilung des „seelischen Schmerzes“ überhaupt möglich?

Veit Schiemann: Eine vollkommene Heilung ist bei Kriminalitätsopfern niemals möglich. Wir haben ein Plakat, darauf steht: „Das Opfer hat lebenslang!“ Das Problematische daran ist, jemand kann eine Tat verarbeitet haben, lebt mit der Verarbeitung dieser Tat völlig „normal“ und auf einmal Jahrzehnte später kommt es zu einer Retraumatisierung oder ein sog. posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) tritt auf, d. h. potenziell schwebt über diesen Opfern immer das Damoklesschwert. Es kann immer wieder zu einem Ausbruch des Traumas kommen. Bei Opfern sexuellen Missbrauchs ist das Problem, dass diese ein Leben nach der Missbrauchstat führen, aber sich erst Jahrzehnte später als Opfer outen können. Vielfach ist es so, dass sie sogar ein relativ normales Leben geführt haben, zwar bestimmte Probleme haben und das auf irgendetwas zurückgeführt haben, aber sich selber gar nicht mehr vergegenwärtigt haben, dass sie Missbrauchsopfer waren und das gar nicht mehr gewusst haben.

Die Bandbreite der möglichen Folgen sexuellen Missbrauchs ist schier unerschöpflich. Körperliche Symptome, von der Schwangerschaft mal abgesehen, sind körperliche Verletzungen. Auch diese müssen erst einmal verheilen. Das ist die eine Sache. Dann hängen vielleicht auch noch Operationen dran. Wir haben es mitgekriegt: Die Vergewaltigte in Indien ist an ihren Verletzungen gestorben. Wenn das Kind während des sexuellen Missbrauchs auch noch geschlagen wird, dann ist das quasi eine Tat. So muss man dann auch die Folgen daraus ableiten. Aber, wenn die körperlichen Sachen verheilt sind, haben Sie die ganzen „seelischen Schmerzen“, wie Sie das genannt haben. Diese können von psychosomatischen Schmerzen über Hautausschläge, über Schlafstörungen, Depressionen, Selbstmordgedanken, Selbstmordausführungen und so weiter gehen. Alles von A bis Z ist komplett dabei.

explizit.net: Welche psychologischen Hilfen, Therapien oder sonstigen Ansätze gibt es, um den Missbrauchsopfern möglichst effizient zu helfen?

Veit Schiemann: Je nachdem, ob sich das Trauma schon verfestigt hat, kommt es darauf an, welche Hilfe die Opfer brauchen. Sie haben zum einen die psychologische Hilfe, die notwendig ist, um wieder eine Form von Beziehung überhaupt und zum Geschlechtspartner aufbauen zu können. Sie haben, wenn bei ihnen auch körperliche Probleme mit hinein spielen, natürlich auch rein normalmedizinische Dinge, die geklärt werden müssen. Vielleicht ist das Missbrauchsopfer in seinem Zimmer missbraucht worden und kann aus psychologischen Gründen dieses Zimmer nicht mehr betreten ohne beispielsweise irgendwelche Anfälle zu kriegen und kommt nicht aus dem Mietvertrag heraus. Dann muss natürlich mit dem Vermieter geredet werden. Das kommt dann ganz auf den Einzelfall an, aber die tatsächlichen Hilfen sind hauptsächlich psychologischer Art.

Wir vom „WEISSEN RING“ stimmen unsere Hilfe immer individuell auf den einzelnen Fall ab. Wir haben ein bestimmtes Portfolio, aus dem wir schöpfen können. Hier gehört beispielsweise auch ein sog. kostenloser Hilfescheck für eine psychotraumatologische Erstberatung dazu. In dieser Erstberatung wird ein Plan für psychologische Hilfe und Therapie aufgesetzt. Es wird gefragt: „Wie kann dieser Person mit konkret diesem Problem geholfen werden?“ Das ist bei jedem einfach anders.

Man muss sich vorstellen, wir sind keine Therapeuten, sondern wir versuchen, den Menschen erstmal wieder einen positiven Weg aufzuzeigen. Ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein stehen. Dort, wo unsere Hilfen, unsere Power quasi erschöpft ist, zögern wir nicht, sondern zücken dann quasi einen Scheck, der für die Erstberatung ist und diese finanziert. Damit können die Opfer zu einem frei wählbaren Therapeuten gehen und mit diesem dann die Erstberatung machen, d. h. für den Körper: Eine psychologische Hilfe ist da, die gestartet wird. Und natürlich werden dann Kostenträger für die Gesamttherapie gesucht. Die Krankenkassen kommen hierbei infrage oder je nach dem wie die Tat stattgefunden hat, auch die Versorgungsämter nach dem sog. „Opferentschädigungsgesetz“.

Das ist dann wirklich Einzelfall bezogen, also Einzellfallhilfe. Effizient helfen, das kann man hierbei gar nicht. Es ist davon auszugehen, dass die Opfer Jahre danach noch psychologisch betreut werden müssen. So etwas hat man nicht nach drei Wochen hinter sich gebracht.

explizit.net: Die Katholische Kirche hat bis jetzt die Opfer von sexuellem Missbrauch z. T. finanziell entschädigt und der damalige Papst Benedikt XVI. hat sich offiziell entschuldigt. Auch wurden neue Leitlinien im Umgang mit sexuellem Missbrauch und ein umfangreiches Präventionskonzept für die Zukunft erarbeitet. Die Deutsche Bischofskonferenz hat außerdem im Dezember 2012 die Studie „Sexuelle Übergriffe durch katholische Geistliche in Deutschland – Eine Analyse forensischer Gutachten 2000-2010“ veröffentlicht. Wie sinnvoll ist eine solche Herangehensweise Ihrer Meinung nach?

Veit Schiemann: Der ehemalige Papst hat sich entschuldigt. Das war sehr wichtig. Die finanzielle Entschädigung ist auch wichtig, weil sie gleichzeitig eine Anerkenntnis der Schuld darstellt. Vielen in kirchlichen Institutionen Missbrauchten war dies vor allen Dingen wichtig. Dabei ging es nicht ums Geld. Das hilft, aber mehr auch nicht. Wichtig ist, dass die Institution anerkennt, dass diese Menschen Opfer sind. Sie sind nicht Opfer einer Person, sondern des Systems. Wichtig ist auch, dass die Kirche sich entschuldigt hat, wie mit den Opfern umgegangen worden ist und wie mit den Tätern umgegangen worden ist. Dass die Täter in Schutz genommen wurden usw.

Eine umfangreiche Aufklärung hilft diesen Menschen natürlich. Die wissenschaftlichen Studien und Dokumentationen sollen der Kirche helfen, so etwas zukünftig zu verhindern, aber beispielsweise ist die Kirche auch jetzt Mitglied des sog. „Ergänzenden Hilfesystems“ (EHS).

Das sog. EHS ist gerade in der Einrichtung. Hier geht es darum, dass die Bundesministerien eine Clearing-Stelle einrichten, wo Opfer von institutionellen und familiären Missbrauch sich hinwenden und einen Antrag auf „Unterstützung in der Therapie“ oder „Individuelle Unterstützung“ stellen können. Institutionen wie die Kirche haben zugesagt, die Entscheidung dieser Clearing-Stelle zu akzeptieren. Wenn also diese Clearing-Stelle sagt: „Wir haben hier ein Opfer, das ist innerhalb der Kirche missbraucht worden und das braucht jetzt 10.000 Euro für die Therapie, dann zahlt dies die Institution Kirche. Und zwar ohne Diskussion.

Diese Stelle wird ab Mai 2013 eingerichtet werden. Sie ist zunächst auf drei Jahre ausgerichtet. Es wird in jedem Bundesland Anlaufstellen geben, welche durch den „WEISSEN RING“ besetzt werden. Es steht noch nicht fest, wie viele das sein werden. Diese unterstützen die Antragssteller, sprich die Opfer von sexuellem Missbrauch in Institutionen und in der Familie, bei der Antragsstellung. Unsere Mitarbeiter, die dafür ausgebildet worden sind, leiten dann alles an die Clearing-Stelle weiter und die wiederum entscheidet.

Die Clearing-Stelle wird mit Fachleuten aus den verschiedenen Ministerien zusammengesetzt, aber auch aus Mitarbeitern des „Hilfefonds für Opfer von sexuellem Missbrauch“, aber auch aus Opferschutzorganisationen, wie beispielsweise dem „WEISSEN RING“. Das ist gleichsam ein Ausschluss des „Runden Tisches“.

explizit.net: Viele kirchliche Missbrauchsopfer haben erst Jahrzehnte nach der eigentlichen Tat, den Übergriff gemeldet und angezeigt. Nach und nach wurden es immer mehr Menschen, die eine Anzeige erstatteten. Gibt es dafür eine (psychologische) Erklärung?

Veit Schiemann: Es gibt eine psychologische Erklärung. Die Opfer schützen sich selbst, indem sie die Tat vor sich verheimlichen. Sie können die Tat quasi noch nicht nach außen geben. Sie können sich nicht outen, ohne völlig zusammenzubrechen. Das ist ein Schutzmechanismus. Dadurch, dass die ersten Opfer – es gab viel mehr Missbrauchsopfer in allen Bereichen nicht nur in den Kirchen – sich tatsächlich geoutet haben, wurden es dann immer mehr. Die Medienberichterstattung war voll davon. Zuerst wurde die Odenwaldschule im Kontext von sexuellem Missbrauch erwähnt, dann ein Kloster und schließlich war es überall. Dadurch, dass die Gesellschaft ein Klima zugelassen hat, das diese Missbrauchsopfer nicht als Verlierer angesehen hat oder ihnen sogar eine Mitschuld unterstellt worden ist, trauten diese sich nicht zu outen. Erst als die Missbrauchsopfer als das wahrgenommen wurden, was sie waren, nämlich Opfer eines Täters, hat das dazu geführt, dass viele den Mut gehabt haben sich auch zu öffnen.

explizit.net: Die Katholische Kirche hat Ende 2012 die eingerichtete Missbrauchshotline im Bistum Trier nach zwei Jahren wieder eingestellt, weil sich angeblich kaum mehr betroffene Personen gemeldet haben. Wäre es von Seiten der Opfer Ihrer Meinung nach sinnvoll gewesen, eine solche Hotline eine längere Zeit oder sogar auf Dauer bestehen zu lassen?

Veit Schiemann: Bei der Missbrauchshotline der Kirche haben sich viele gemeldet. Aber viele haben sich auch wo anders gemeldet. Dass sich bei der von der Kirche eingerichteten Hotline angeblich nicht mehr genug Personen gemeldet haben, könnte daran liegen, dass nur diejenigen angerufen haben, die sich zu später Zeit erst geoutet haben. Im Prinzip ist es folgendermaßen: Es gibt Stellen wie den „WEISSEN RING“. An uns kann sich jeder Zeit ein Opfer wenden. Insofern ist es nicht so wichtig, ob es dann die Missbrauchshotline der Kirche noch gibt oder nicht.

Die Hotline hat erst einmal eine entsprechende Medienwirkung gezeigt. Man muss ganz ehrlich sagen, dass das auch eine Aufgabe dieser Hotline war. Eine weitere war es natürlich auch den Opfern zu zeigen: „Wir Kirche erkennen dich an! Wir merken, dir ist Leid passiert und dir ist durch uns Leid passiert.“

explizit.net: Ist es nicht auch vorstellbar, dass kirchliche Missbrauchsopfer eine gewisse Scheu haben, bei einer vom Bistum geschalteten Hotline anzurufen?

Veit Schiemann: Das Hauptproblem dieser Hotline war, dass diejenigen, die Angst vor der Kirche bekommen haben, dort eben nicht angerufen haben und dann schlicht und ergreifend, wenn sie sich outen wollten, bei anderen angerufen haben, beispielsweise bei uns.

explizit.net: Wenn kirchliche Amtsträger Sie nach Ihrem Rat als Experte im Umgang mit den Opfern von sexuellem Missbrauch fragen würden, was würden Sie ihnen antworten?

Veit Schiemann: Ich würde ihnen raten, von all der Intransparenz weg zu gehen. Ich würde ihnen raten, transparent zu sein und offen mit der Problematik umzugehen, die Opfer anzuerkennen und sie das auch spüren lassen und sie tatsächlich auch für ihr Leid angemessen entschädigen.

explizit.net: Glauben Sie, dass sich an dem Umgang der Kirche im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch durch die Wahl des neuen Papstes Franziskus etwas ändern wird?

Veit Schiemann: Der neugewählte Papst ist als sog. „Papst der kleinen Leute“ erwähnt worden. Und meine Hoffnung ist tatsächlich, dass er hingeht und solche Problematiken anders angeht als sein Vorgänger, der das ja sehr gerne sehr wissenschaftlich betrachtet hat. Andererseits muss man sagen, Benedikt hat dankenswerterweise die Schuld der Kirche anerkannt und darauf kann der neue Papst aufbauen. Ich hoffe, er tut es. Die Kirche will sich ja einsetzen für die sozial Benachteiligten, für die Leidenden der Welt. Dafür hat die Kirche jetzt jemanden direkt vor der eigenen Haustür.

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