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Die Aufklarung Stockt

By Katja Tichomirowa
Frankfurter Rundschau
April 27, 2013

http://www.fr-online.de/missbrauch/kindesmissbrauch--die-aufklaerung-stockt,1477336,22607458.html

Mahntafeln an einer Straße in der Nähe der Odenwaldschule in Hessen. Über zwanzig Jahre lang wurden Schüler des reformpädagogischen Internats von Lehrern und Betreuern missbraucht



Vor zwei Jahren hat der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch seine Arbeit abgeschlossen. Doch die Aufklärung ist ins Stocken geraten. Die Opfer wollen eine neue Aufarbeitungskommission. Am Dienstag werden sie erstmals über die Forderung beraten.

Matthias Katsch ist ein wunderbarer Gesprächspartner, souverän, wortgewandt und ein aufmerksamer Zuhörer. Sprechen hilft, sagt er, und dass er sich einmal entschieden hat, es zu tun, hat sein Leben verändert.

2009 traf er einen früheren Schulkameraden, sie entdeckten die alte Freundschaft neu und sie sprachen über etwas, dass sie einander jahrelang verschwiegen hatten. Beide waren ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs und sie waren Opfer sexueller Übergriffe geworden, die an der Schule jahrelang unentdeckt blieben. Dass sich Katsch, Jahrgang 1963, und zwei seiner früheren Mitschüler entschlossen, ihre Erfahrungen dem damaligen Leiter des Jesuitenkollegs, Pater Klaus Mertes, zu offenbaren setzte nicht nur diesem Schweigen ein Ende. Es setzte Biografien in Bewegung, wie Matthias Katsch sagt.

Ein Brief, den Mertes daraufhin an mehr als 600 ehemalige Schüler schrieb, löste einen der großen Missbrauchsskandale aus, die 2010 zur Einrichtung des Runden Tisches Sexueller Kindesmissbrauch führten. Zwei Jahre ist es her, dass das Gremium seinen Abschlussbericht vorlegte – zufrieden mit den Ergebnissen und mit der Umsetzung der Beschlüsse sind die Betroffenen aber nicht. Sie fordern nun eine unabhängige, umfassende und systematische Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an Schulen, in Sportvereinen, kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen – am besten durch einen Untersuchungsausschuss. Am Dienstag werden sie diese Forderung bei einem öffentlichen Hearing in der Berliner Akademie der Künste debattieren.

Das Bedürfnis zu sprechen, ist nicht nur unter den Betroffenen groß. „Es ist nicht eingebildet“, sagt Katsch. „One in five“ heißt eine Kampagne des Europarats. Jeder fünfte Europäer, davon geht man heute aus, hat in seiner Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erfahren. „Denken wir uns noch eine oder zwei Bezugspersonen hinzu, sind wir bei der Hälfte der Bevölkerung, die zumindest weiß, wovon die Rede ist“, sagt Katsch. „Wer sich das vor Augen hält, versteht, warum das Thema, nachdem es einmal an die Oberfläche gekommen ist, sich dort auch beharrlich hält.“

Das Schweigen brechen

Matthias Katsch arbeitet nach diversen beruflichen Stationen heute als Coach, er berät Unternehmen, die vor Veränderungen stehen. Auf seiner Homepage zitiert er Charles Dickens: „Selbst eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig.“ In seinem Leben hat er die schwere Tür geöffnet. „Für mich war es eine relecture, eine neue Sicht auf mein Leben. Ich habe angefangen, meine eigene Geschichte neu zu lesen nachdem mir klar wurde, was dir damals geschehen ist, hatte Auswirkungen. Ich verstehe mich jetzt besser“, sagt Katsch.

Das Sprechen ist indes kein Selbstzweck. Für das Aufbrechen und die Aufarbeitung eines Traumas braucht man ein Gegenüber. „Es war wichtig, dass Pater Mertes sich dem gestellt hat“, sagt Katsch. „Er hat den Druck von uns genommen mit einem einzigen Satz: Wir glauben euch und wir fordern euch auf, zu sprechen.“ Mertes habe immer deutlich gemacht, dass er auf der anderen Seite stehe. „Für uns war aber wichtig, dass auf der anderen Seite überhaupt jemand war.“

Man könne bedauern, dass vieles nicht vorankomme. „Die Politik tut sich schwer in unserem föderalen Kuddelmuddel zu Lösungen zu kommen.“ Es seien die immer gleichen Fragen, auch die gleichen Bilder, sagt Katsch. Meist kommt er im Winter nach Berlin, wenn sich die Aufdeckung des Skandals jährt: „Es ist immer Januar in Berlin und es liegt Schnee.“

Und doch: Die Sache ist in Bewegung. „Wir hätten uns 2010 nicht träumen lassen, dass wir das Thema sexueller Missbrauch einmal in der Akademie der Künste diskutieren werden“, sagt er. Mehr noch, mit der Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission ist die Aufarbeitung an einen entscheidenden Punkt gekommen. Mit dem vorläufigen Scheitern des Aufklärungsprojekts der katholischen Bischofskonferenz, die im Januar dem Kriminologen Christian Pfeiffer den Auftrag zu einer Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche entzog, sei deutlich geworden, dass viele Institutionen damit überfordert sind, Aufklärungsarbeit an sich selbst zu leisten, sagt Katsch.

Auch Institutionen brauchen Hilfe

Das heiße nicht, dass man sie aus der Pflicht entlasse, man könne ihnen aber nicht die Auswertung der Forschungsergebnisse selbst überlassen. Dafür müssten sich die Institutionen Hilfe holen. Es gehe darum „sich ehrlich zu machen und etwas zu lernen aus den Fehlern, die gemacht wurden“, fordert er. „Wir brauchen eine Untersuchungskommission, die die Umstände systematisch angeht, dabei wissenschaftlich vorgeht, aber den gesellschaftlichen und politischen Aspekt nicht aus den Augen verliert.“

Katsch wünscht sich für eine solche Kommission einen staatlich definierten Auftrag. „Wenn es einen solchen Untersuchungsauftrag gibt, der gesetzlich fixiert ist, dann würde auch die Kirche, würden Vereine und Schulen kooperieren“, glaubt er. Für ein Gesetz bräuchte man eine Mehrheit im Bundestag. „Das müsste zu erreichen sein.“ Das Bewusstsein dafür ist da. „Wenn nicht jetzt, dann nie“, sagt er.






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