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Auf Hollenfahrt

By Claudia Keller
Der Tagesspiegel
April 30, 2013

http://www.tagesspiegel.de/politik/oeffentliche-anhoerung-zum-kindesmissbrauch-auf-hoellenfahrt/8146138.html

Ein Kreuz als Zeichen gegen den Missbrauch legten die Teilnehmer der Anhorung. - Foto: promo

Sie wollten sich nicht in irgendeinem Tagungszentrum irgendwo in Berlin treffen. Fur die erste gro?e offentliche Anhorung zur Aufarbeitung von Fallen sexuellen Kindesmissbrauchs sollte es ein prominenter Ort sein. So haben der Unabhangige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung und die Betroffenenverbande die Akademie der Kunste am Pariser Platz ausgewahlt – das „Wohnzimmer der Republik“. Das Signal ist wichtig: Menschen, die als Kinder in Schulen, in Sportvereinen, von Priestern oder vom eigenen Vater gedemutigt, misshandelt und missbraucht wurden, werden nicht mehr an den Rand gedrangt. Die Raume der Akademie der Kunste sind hell und von viel Glas umgeben.

„Dass wir aus den dunklen Raumen unserer Seele in dieses Gebaude, in dieses Licht kommen konnen, ist ein starkes Stuck“, sagte Mathias Bubel von der Initiative „Eckiger Tisch“, in der sich seit 2010 Betroffene versammeln, die an Jesuitenschulen sexuelle Gewalt erlebt haben.

Bubel fallt es bis heute schwer, uber seine Erfahrungen zu sprechen. Bei der Anhorung am Dienstag setzte er immer wieder an, umkreiste das Thema. So geht es vielen Betroffenen. Hedda Feddersen, eine gestandene Frau Mitte 40, beruflich erfolgreich, erzahlte unter Tranen, wie sie schon als kleines Madchen mit drei Jahren in ihrer Familie missbraucht wurde. Wie sie das Erlittene abspaltete. Arzte diagnostizierten schwere traumatische Belastungsstorungen, Feddersen stemmte sich immer wieder gegen Selbstmordgedanken, seit 23 Jahren macht sie Therapien – „alles selbst bezahlt“. Jetzt konne sie ganz gut leben, sagt sie. Doch als sie jetzt Entschadigung uber das Opferentschadigungsgesetz beantragte, glaubte man ihr nicht. Zwei Tage soll sie sich nun einem Gutachter stellen, obwohl sie bereits ein Dutzend Gutachten und Diagnosen vorgelegt hat. „Ich werde weiterkampfen“, sagte sie, „vielleicht werden die mich bewusstlos aus dem Raum tragen, aber ich werde denen nichts ersparen“.

„Aufgearbeitet ware die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursache beseitigt ware“, zitierte Moderator Matthias Katsch den Philosophen Theodor W. Adorno. Katsch musste am Canisius-Kolleg sexualisierte Gewalt erleben und ist heute Sprecher des „Eckigen Tischs“. Da die Ursache nicht beseitigt sei, bleibe der Bann bestehen, schrieb Adorno weiter. „Wir mussen diesen Bann brechen“, sagte Katsch, „wir mussen das Giftdepot des Missbrauchs trocken legen“. Katsch und viele andere Betroffene fordern seit drei Jahren eine Unabhangige Kommission, die die Falle, in denen systematisch Ubergriffe geschahen, aufklart. Johannes-Wilhelm Rorig, der Unabhangige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, hat sich die Forderung jetzt zu eigen gemacht. „Die Aufarbeitung gehort ganz oben auf die politische Tagesordnung“, sagte er am Dienstag. „Nur wenn wir genau hinschauen, was war und ist, konnen wir Kinder und Jugendliche besser schutzen.“ Konkret fordert er, dass die Bundesregierung Anfang nachsten Jahres eine Kommission beruft, die Institutionen ubergreifend Missbrauch aufarbeitet. Auch der Tatort Familie und auch die sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Internet sollen untersucht werden.

Auf Rorigs Einladung kamen am Dienstag 250 Betroffene, Opferinitiativen und Wissenschaftler in die Akademie der Kunste am Pariser Platz. Die Anhorung zeigte deutlich, wie schwer sich Institutionen wie Kirchen, Sportvereine, aber auch Schulen und andere kommunale Einrichtungen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit tun. Erst recht ist es fur Betroffene schwierig, diesen Prozess anzusto?en. Nur wer uber ein finanzielles Polster verfugt und emotional einigerma?en stabil ist, kann die Auseinandersetzung mit den Taterinstitutionen wagen.

Anselm Kohn, der zusammen mit seinen Geschwistern vom Stiefvater missbraucht wurde, einem evangelischen Pastor, erzahlte von seiner „Hollenfahrt“ in den vergangenen drei Jahren. Zusammen mit anderen Opfern des Pastors erreichten die Kohn-Bruder mit sehr viel Ausdauer und Energie, dass die neu gegrundete evangelische „Nordkirche“ eine Aufklarungskommission einsetzte. Bevor sich die neue Bischofin das Thema zu eigen gemacht habe, seien sie in der evangelischen Kirche gegen Mauern gelaufen.

„Aufklarung kann nur von au?en kommen“, sagte Jesuitenpater Klaus Mertes. „Nur von au?en lasst sich die Black Box offnen“. Denn Aufklarung fuhre innerhalb einer Institution zur Spaltung. Das tue sich eine Institution freiwillig kaum an. Mertes wei?, wovon er spricht. Vor drei Jahren hat er als erster Missbrauchsfalle am Berliner Canisius-Kolleg offentlich gemacht und wurde dafur innerhalb der katholischen Kirche mehr als einmal als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. „Eine unabhangige Untersuchungskommission ware auch fur Institutionen eine gro?e Hilfe, um in der Aufklarung voran zu kommen“, sagt Mertes. Das vorzeitige Ende einer gro? angelegten Aufklarungsstudie der katholischen Kirche und das Zerwurfnis mit dem Kriminologen Christian Pfeiffer zeigte im Januar, wie schwer sich die Institutionen mit der Aufarbeitung tun.

Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik fuhrte aus, dass es auch seiner Zunft gut tate, die Vergangenheit systematisch aufzuarbeiten. Die Verfehlungen an der Odenwaldschule stunden exemplarisch fur eine Denkrichtung in der Erziehungswissenschaft, die Ubergriffe auf Kinder in Kauf genommen oder gar als Befreiung gefeiert habe. Der Historiker Christian Sachse studiert seit Jahren Akten Jugendheime aus der DDR. Er wunscht sich eine Instanz, die ihn ermachtigt, die gewonnenen Erkenntnisse strafrechtlich nutzen zu konnen.

Wie sinnvoll es sein kann, wenn der Staat die Aufklarung in die Hand nimmt, zeigte sich in Irland. Dort hat eine beim Obersten Gerichtshof angesiedelte Untersuchungskommission zehn Jahre lang mit einem dutzend Anwalten Akten durchforscht, Interviews gefuhrt und gesellschaftliche Hintergrunde analysiert. „Als der Bericht 2009 veroffentlicht wurde, war das Land zutiefst schockiert“, sagte der Vorsitzende Richter Sean Ryan am Dienstag am Pariser Platz. Dass Kinder in irischen Kinderheimen, Schulen und Vereinen so systematisch, perfide und chronisch sexuell missbraucht wurden, hatte keiner geahnt. Der Regierungschef ubernahm die Verantwortung fur den Staat und entschuldigte sich bei den Opfern. Ein enorm wichtiger Schritt sei das gewesen. Er habe gesellschaftlich viel verandert.

Die deutsche Realitat jenseits des Pariser Platzes sieht ernuchternd aus. Am Montag hatte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erklart, dass sie von einer Unabhangigen Untersuchungskommission nichts halte. Das passt ins Bild, das viele Betroffene von der Politik haben: Das Thema interessiert nicht wirklich, in den anderthalb Jahren seit dem Ende des Runden Tischs hat sich wenig getan, jetzt ist Wahlkampf und das Interesse erst recht woanders. Weder die Justizministerin noch die CDU-Bundesfamilienministerin, die den Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch getragen hatten, lie?en sich bei der Anhorung am Dienstag blicken. Bundesprasident Gauck schickte ein Gru?wort. Auch von den anderen Parteien kam keiner. Die Auftritte in den kommenden Tagen beim Kirchentag sind den Politikern wichtiger.

Dabei ist nach wie vor vieles unklar, was langst hatte auf den Weg gebracht werden konnen. Betroffene, die in Institutionen missbraucht wurden, wissen nach wie vor nicht, wie sie an Hilfsleistungen kommen konnen und wer zahlt. Eigentlich sollte jede Institution fur die Opfer in ihrem Bereich aufkommen. Doch bislang sind die Kirchen und die Odenwaldschule die einzigen, die die Hilfen organisiert haben. Vor einigen Monaten fiel auf, dass gemeinnutzige Organisationen steuerrechtlich gar nicht ohne weiteres Zahlungen fur Hilfeleistungen an Einzelpersonen vornehmen durfen. Warum fallt das erst jetzt auf? Nun gibt es Uberlegungen, ob Lander, Kommunen, Kirchen und die anderen Trager von Jugendeinrichtungen pauschale Summen in einen Fonds einzahlen sollen.

Am 1. Mai startet aber auch endlich ein zweiter Fonds, der ebenfalls am Runden Tisch vor eineinhalb Jahren vollmundig angekundigt wurde: der Fonds fur Menschen, denen in ihrer Familie Schlimmes angetan wurde. Der Bund stattet diesen Fonds mit 50 Millionen Euro aus, wie Bundesfamilienministerin Kristina Schroder (CDU) stolz verkundete. Soll es also kunftig zwei Fonds geben? Einen fur die Opfer aus dem familiaren Bereich und einen fur die Opfer der Institutionen? Oder doch besser einen gro?en, gemeinsamen Fonds? Und was ist uberhaupt mit den 50 Millionen Euro, die eigentlich die Lander noch zum Familien-Fonds beisteuern wollten? Au?er Mecklenburg-Vorpommern und Bayern ist bislang kein Land dazu bereit.

Die Verhandlungen seien noch nicht abgeschlossen, sagt ein Sprecher des Familienministeriums. Noch seien mehrere Modelle denkbar. Man warte auf Vorschlage der Lander. In den Landern wartet man auf Vorschlage der Bundesfamilienministerin. Auf Referentenebene wird hektisch verhandelt. „Es wurde viel Zeit verschenkt“, sagt Johannes-Wilhelm Rorig, der Unabhangige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Auch ob seine Stelle verlangert wird, ist nicht geklart. Sie lauft mit dem Ende der Legislaturperiode aus, spatestens am 31. Dezember. Ohne ihn, furchten viele Betroffene, werde sich gar nichts mehr tun.

 

 

 

 

 




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