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Die Katholische Kirche Ein "Sexualsumpf"?

Die Welt
June 7, 2013

http://www.welt.de/geschichte/article116887321/Die-katholische-Kirche-ein-Sexualsumpf.html

Im Streit uber die Padophilie-Vorwurfe gegen die Grunen schlagt der Publizist Gotz Aly jetzt zuruck. Allerdings macht er sich dabei 75 Jahre alte Argumente von Joseph Goebbels zu eigen

Am 20. Juli 1933 unterzeichnen in Rom Hitlers Vizekanzler Franz von Papen (2. v. l.) und Kardinalstaatssekretar Eugenio Pacelli, der spatere Papst Pius XII., das Reichskonkordat, den Staatsvertrag zwischen dem Dritten Reich und dem Vatikan. Das Dokument ist heute hochst umstritten. Den Nazis selbst galt es aber als Einknicken vor der katholischen Kirche

Der Entlastungangriff musste kommen – das war klar, seit intensiv uber die hochst fragwurdige Nahe der Grunen zu padophilen Gruppen in den 1980er-Jahren gestritten wurde. Spannend war allein, wer ihn vortragen wurde und mit welcher Sto?richtung.

Seit Dienstag ist die Frage beantwortet: Der Publizist Gotz Aly hat in seiner Kolumne in der "Berliner Zeitung" die Ablenkungsoffensive eroffnet, und er zielt auf die katholische Kirche: Die "Sittlichkeitsprozesse" gegen Geistliche in den Jahren 1936/37 wurden "heute gern als Kirchenverfolgung abgebucht, die geistlichen Tater zu Opfern geadelt". Es sei Zeit, solchen "Beschonigungen ein Ende zu setzen".

Nun ist Aly als innovativer Kopf bekannt, der profunde Werke zur NS-Geschichte vorgelegt hat, zuletzt etwa eine Gesellschaftsgeschichte uber den Behindertenmord, die "Euthanasie". Andere seiner Werke dagegen, etwa "Hitlers Volksstaat", erregten zwar in der Offentlichkeit viel Aufsehen, erwiesen sich aber letztlich als massiv uberspitzt. Wissenschaftlich ausgedruckt: als thesengetriebene Uberinterpretation der Quellen.

Die "Sittlichkeitsprozesse"

Gotz Aly (Jg. 1947) gilt als innovativer Publizist, etwa fur sein aktuelles Buch "Die Belasteten", eine Gesellschaftsgeschichte des NS-Krankenmordes

Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Aly sich in aktuellen Debatten besonders engagiert. So etwa bei seiner sachlich in weiten Teilen unzutreffenden Apologie fur den Rhetoriker Walter Jens in der Debatte um dessen NSDAP-Mitgliedschaft.

Nun also die katholische Kirche und die "Sittlichkeitsprozesse". So nennt die historische Forschung jene Verfahren, mit denen die NSDAP und die Gestapo unter direkter Mitwirkung von Adolf Hitler und Joseph Goebbels in den Jahren 1936/37 massiven Druck auf die letzte gro?ere, noch nicht gleichgeschaltete Institution im Dritten Reich ausubten.

Zuvor hatte es bereits eine Prozesswelle wegen angeblicher Devisenvergehen gegeben – trotz des 1933 geschlossenen Reichskonkordats, dem Staatsvertrag zwischen Vatikan und NS-Regierung. Weitere antikatholische Kampagnen folgten. Doch der Vorwurf homosexueller Praktiken in Klostern und Bruderschaften, seinerzeit nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuches mit Haft bedroht, sowie des Missbrauchs von Schutzbefohlenen wog viel schwerer. Ist die Kirche doch durch Attacken in moralischen Fragen besonders verletzbar.

0,3 Prozent der Geistlichen

"Wahrend des Nationalsozialismus wurden padophile Vergehen recht konsequent verfolgt", behauptet Aly. Als Beleg fur diese These fuhrt er die Verfahren gegen Kirchenvertreter an: "1936/37 richteten sich Hunderte Prozesse hauptsachlich gegen katholische Geistliche und Laienbruder, insgesamt waren 1937 rund 2500 einschlagige Ermittlungsvorgange anhangig."

Die Verlasslichkeit dieser Argumentation unterscheidet sich nur marginal von der eines Joseph Goebbels', der in einer Rede in Berlin Ende Mai 1937 den "Sexualsumpf" im deutschen Klerus gegei?elt hatte. Denn Aly enthalt seinen Lesern gleich mehrere wesentliche Informationen vor. So wurden trotz der vielen Ermittlungsvorgange gerade einmal 64 Geistliche und 170 Laienbruder tatsachlich verurteilt. Der allergro?te Teil der Verfahren fuhrte dagegen nie zu einer Anklage, wurde eingestellt oder endete – selten – mit Freispruchen.

Au?erdem ging es auch keineswegs in allen Verfahren um Padophilie, also um den vollig zu Recht strafbaren sexuellen Missbrauch von Kindern. Eine gro?e Zahl der Ermittlungen richtete sich vielmehr gegen angebliche oder tatsachliche, einvernehmliche homosexuelle Kontakte zwischen erwachsenen Geistlichen oder Laienbrudern. Was immer man von Zolibat und katholischer Sexualmoral heute halten mag: Verurteilte schwule Geistliche waren auch in den 1930er-Jahren Opfer von NS-Verfolgung.

Teil des Kirchenkampfs

"Grob polemisch" nennt daher der Potsdamer Zeithistoriker Thomas Brechenmacher Alys Artikel. Er bewege "sich nicht auf der Hohe des Forschungsstandes". Der Experte fur Religionsgemeinschaften im 20. Jahrhundert stellt fest: "Das NS-Regime instrumentalisierte unzweifelhaft vorhandene Sexualvergehen einer Minderheit katholischer Priester und Ordensgeistlicher (weniger als 0,3 Prozent), um die katholische Kirche als Ganze zu diffamieren." Der NS-Apparats habe nicht tatsachliche Vergehen aufklaren und die dafur Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen. Vielmehr ging es darum, "einen weltanschaulichen Gegner moglichst effizient zu schwachen".

Zumal die deutschen Bischofe schon 1936/37 gerade nichts vertuschten, sondern im Gegenteil nach Kraften zur Aufklarung beitrugen – weil das die einzige Moglichkeit war, dem Angriff des NS-Kirchenministers Hanns Kerrl die Wucht zu nehmen. "Die einschlagigen Akten sind seit langem bekannt und waren auch Gotz Aly zuganglich gewesen", bemerkt Brechenmacher suffisant.

Nun wei? der streitlustige Berliner Publizist naturlich, dass er im Establishment der deutschen Geschichtswissenschaft als Au?enseiter gilt. Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass manche seiner Attacken auf den Beobachter wirken, als seien sie konzipiert nach dem Motto "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert".

Attacke auf Hans-Gunter Hockerts

Der Eindruck drangt sich jedenfalls auf, wenn man in Alys Artikel die Attacke auf die Dissertation des Zeithistorikers Hans-Gunter Hockerts uber die "Sittlichkeitsprozesse" liest, die 1971 erschienen ist. Der vor wenigen Jahren emeritierte Munchner Professor habe sich darum "gedruckt", dass "die strafrechtlichen Vorwurfe meist nicht aus der Luft gegriffen" waren. Genau den Beweis fur diese Behauptung bleibt Aly aber schuldig – etwa 90 Prozent der Ermittlungsverfahren fuhrten ja eben nicht zu einem Urteil, obwohl die deutsche Justiz 1936/37 schon langst nicht mehr unabhangig war.

Au?erdem wirft Aly Hockerts indirekt vor, dass er vor mehr als vier Jahrzehnten (eingereicht wurde die Dissertation schon 1969) andere Fragen in den Vordergrund stellte als man das heute tun wurde. Das ware so, als ma?e man Aly jetzt an seinen Schriften aus der Zeit als linker Aktivist – ein Irrweg, von dem er sich erfrischend offen in seinem Buch "Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zuruck" distanziert hat.

Alys Entlastungsangriff fur die moralisch bedrangten Grunen sto?t ins Leere, ahnlich wie 2004 seine Apologie fur Walter Jens. Zugleich geht er ein erhebliches Risiko fur seine offentliche Reputation ein, wenn er etwa das rabiate Vorgehen von Himmlers politischer Polizei verharmlost: "Gut moglich, dass die Gestapo auch fragwurdige Methoden benutzte." Unwillkurlich fragt man sich: Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Gotz Aly das Hohelied auf die Reichsautobahnen singt?

 

 

 

 

 




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