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"Monstrose Unkeuschheit"

Zeit
June 13, 2013

http://www.zeit.de/2013/24/mertes-priester-missbrauch/komplettansicht

Wie Priester zu Tatern wurden – eine Bilanz des Missbrauchs in der katholischen Kirche

Machtmissbrauch durch sexualisierte Gewalt ist der monstrose Fall, der zwei Themen unubersehbar auf die Tagesordnung der Kirche setzt: Macht und Sexualitat. Da es bei sexualisierter Gewalt im Kern um den Missbrauch von Macht geht, kann man sogar zuspitzen: Die Schlusselfrage ist die nach dem Umgang mit Macht in der Kirche.

Wenn uber Macht in der Kirche gesprochen wird, kommt schnell der Hinweis, Kirche habe heute doch gar keine Macht mehr. In den Ohren der Opfer klingt das wie Hohn. Sie haben die missbrauchende und missbrauchte Macht der Kirche kennengelernt. Die geistliche Macht, welche die Kirche innehat, wirkt in die Welt hinein. Sie ist auch Macht. Schlie?lich geht es der Kirche ja um das Heil der Welt, nicht nur um das Heil der Kirche.

Im Sprechen uber Missbrauch wird immer wieder verraterisch deutlich, wie sehr der Kirchenbegriff hierarchiefixiert ist: "Die Missbrauche haben der Kirche geschadet" – ja, aber gerade deswegen, weil sie den Opfern geschadet haben, nicht weil sie dem Ansehen der Kirche geschadet haben.

Macht und Priestertum

Missbrauch priesterlicher Macht bringt eine besondere Fallhohe mit sich, weil die Priester fur eine Institution stehen, die hohe moralische Ideale predigt, gerade in Fragen der Sexualmoral. Ein Fu?ballverein stellt keine vergleichbaren Anspruche an seine Mitglieder oder gar an die Welt. Die besondere Fallhohe bei Priestertatern wird noch gesteigert, weil das Weihepriestertum nach katholischem Verstandnis die Priester von den ubrigen Getauften nicht nur dem Grad, sondern dem Wesen nach unterscheidet. Wer ontologisch hoher steht, fallt ontologisch tiefer.

Auch die kritische Offentlichkeit teilt diese Einschatzung. Das hat die Debatte der letzten Jahre deutlich gemacht. Unter dem Firnis der Sakularisierung ist die Vorstellung vom Priester als einem Menschen, der eine besondere Nahe zu Gott hat, lebendig geblieben. So ist die Wut der Offentlichkeit nach der Aufdeckung der Missbrauche nicht nur als Ausdruck von Kirchenfeindschaft zu verstehen, sondern auch als Ausdruck tiefer Enttauschung.

Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Priestertum und Missbrauch. Aber es gibt ein uberzogenes Priesterbild und Priesterverstandnis. Als Opfer versuchten zu sprechen, horten sie Satze wie: "So spricht man nicht uber einen Priester." Die uberzogene Aura des Priesterlichen schutzte die Tater. Die Priestertater ihrerseits hatten und haben in der Regel ein klares Bewusstsein fur ihre starke Position in der katholischen Kirche. Macht ermoglicht Nahe, geistliche Macht ermoglicht geistliche Nahe. Die Aura des Priesterlichen ist fur die Tater die Eintrittskarte in das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen – und dasselbe gilt letztlich fur alle seelsorglichen Verhaltnisse. Wer eine besondere Nahe zu Gott hat, ist besonders vertrauenswurdig. Schlie?lich ist Gott die Vertrauenswurdigkeit schlechthin.

Priester haben aber keine besondere Nahe zu Gott. Davon steht nichts im Evangelium, nichts in den Texten der Weiheliturgie. Sie strahlen auch keine besondere gottliche Energie aus. Wenn es uberhaupt so etwas gibt wie Menschen, die eine besondere Nahe zu Gott haben, so ist das unabhangig von der Weihe. Franziskus von Assisi war kein Priester. Teresa von Avila auch nicht. Das Problem liegt in dem Wort "besonders". Man kann es auch umgekehrt formulieren: Gott ist jedem Menschen besonders nahe. Die Gleichheit aller Menschen hebt ihre jeweilige Einzigkeit und Besonderheit nicht auf. Die Gleichheit der Menschen vor Gott ist bunt, nicht einfarbig.

Jesus war kein Tempelpriester. Aus der pharisaischen Synagogentradition stammend, schloss er sich Johannes dem Taufer an, der bewusst nicht im Tempel in Jerusalem wirkte, sondern in die Wuste an den Jordan ging. Jesus hielt erkennbar Distanz zum Tempel. Er trug ebenso wie Johannes keine priesterliche Kleidung. Den Gottesdienst holte er Mahl feiernd wieder in die Hauser der Menschen zuruck. Seine Kritik an den religiosen Eliten seiner Zeit passt heute auf kirchlichen Klerikalismus ebenso wie auf Bigotterie und Scheinheiligkeit. Gerade bei den religiosen Fuhrern waren ihm Frommelei und Eitelkeit untrugliches Indiz fur eine andere Innenseite: "Ihr seid wie Graber, die au?en wei? angestrichen sind, innen sind sie aber voll Knochen, Schmutz und Verwesung."

Macht und Sexualitat

Wie kommt es, dass die Kirche, deren Botschaft von Gottes bedingungsloser Liebe handelt, mit so vielen Liebeserfahrungen von Menschen auf Kriegsfu? steht? Eltern versto?en ihre Tochter, weil sie einen Mann heiratet, dessen erste Ehe gescheitert ist. Paaren wird die kirchliche Trauung verweigert, weil sie schon vor der Ehe zusammenleben und das nicht als Sunde sehen. Schwangere Schulerinnen fliegen von der katholischen Schule. Viele dieser Herzlosigkeiten haben mit der christlichen Lehre uberhaupt nichts zu tun.

Von Augustinus stammt der Satz: "Liebe, und tu, was du willst." Damit meinte er sicherlich nicht, dass alles geht. Es ist ein absurder Aspekt der gegenwartigen Diskussion in der katholischen Kirche, dass jede differenzierende, nachdenkliche Frage gleich als Pladoyer fur ein anything goes argumentativ totgeschlagen wird. Die sexuellen Missbrauche haben sehr deutlich gemacht, dass im Namen der Liebe etwas ganz anderes geschehen kann als Liebe; dass Sexualitat sich mit Machtinteressen verbinden kann, mit Gewalt, Schamlosigkeit und Selbstbespiegelung.

Ethische Ma?stabe fur den Umgang mit Sexualitat sind unumganglich. Aber muss die Alternative zum anything goes ein Regelwerk sein, dessen Anwendung in der Lebenswirklichkeit der Menschen oft den Preis herzloser Harte kostet oder – um diese Harte zu vermeiden – den Preis stillschweigend geduldeten Doppellebens? Mit all dem Verdrucksten, das fur viele Menschen inzwischen als typisch katholisch gilt?

Unkeuschheit

Ein kostbares Wort der kirchlichen Tradition ist "Keuschheit". Sie wird oft mit sexueller Enthaltsamkeit verwechselt. Das ist ein Missverstandnis. Ehepaare sind nicht unkeusch, wenn sie nicht sexuell enthaltsam leben. Die Liebe zum geliebten Menschen konkurriert eben nicht mit der Liebe zu Gott. In dem beruhmten australisch-amerikanischen Film Die Dornenvogel trennt sich der Kardinal von seiner Geliebten mit dem Satz: "Ich liebe Gott mehr als dich." Ich empfehle als Gegentext einen der Briefe Leon Bloys an seine Braut, veroffentlicht im Jahre 1922: "Sie haben mir geschrieben: ›Ich liebe Gott mehr als Sie.‹ Ich konnte Ihnen so etwas nicht schreiben, einfach deshalb, weil ich diese Teilung nicht vornehmen kann. Ich liebe Gott in Ihnen, durch Sie hindurch, Ihretwegen, ich liebe Sie vollkommen in Gott, wie ein Christ seine Gattin lieben soll. Die Idee, diese zweieinige Flamme der Liebe auseinanderzurei?en, das ist fur mich eine Klugelei, eine Grubelei, die mir uberhaupt nicht in den Sinn kommt."

Die priesterliche Enthaltsamkeit hat nur Sinn, wenn sie als Lebensform der Gottes- und Menschenliebe gelebt wird, als eine Lebensform, die das Herz weitet. Sexueller Missbrauch ist der monstrose Fall von Unkeuschheit. Von daher kann naher bestimmt werden, was "Keuschheit" meint: Respekt vor der Intimsphare, vor dem Lebensgeheimnis des anderen, auch vor dem Geheimnis seiner oder ihrer personlichen Beziehung zu Gott; absichtslose Zuwendung, "reines Herz". Unkeuschheit dagegen ist Manipulation, interessegeleiteter Blick auf die andere Person, Ubergehen von Schamgefuhlen, Ausnutzen von Unsicherheit, ubergriffige Nahe.

Es gibt unkeusche Formen von Seelsorge schon vor der monstrosen Grenzuberschreitung im sexuellen Missbrauch. Etwa den Versuch, ganz schnell ganz nah dran zu sein am anderen. Pastorale Strategien sind strukturell unkeusch, wenn sie von der Frage ausgehen: "Wie kommen wir an die Leute ran?" Die biblische Metapher vom Menschenfischen kann missbraucht werden. Doch es geht in der kirchlichen Seelsorge nicht darum, Menschen fur Interessen – fur volle Kirchen, fur Ordens- und Priesternachwuchs – einzuspannen. Es geht auch nicht darum, sie an ihrem eigenen Urteil vorbei fur etwas zu gewinnen, was man selbst fur sie fur das Beste halt.

Der Beichtstuhl ist nach wie vor der Ort, auf den ubergriffige Seelsorge besonders gern hinarbeitet. Mit eigenen Ohren hore ich immer wieder Berichte, dass es heute noch Priester gibt, die Sundenkataloge im Beichtstuhl abfragen, vornehmlich zu Themen der Sexualmoral. Wie die Missbrauchstater im Gro?en, so merken solche "Seelsorger" auch hier im Kleinen gar nicht, dass es ubergriffig ist, die moraltheologische Kasuistik zu gebrauchen, um im Beichtstuhl aktiv nach Regelubertretungen im Intimbereich herumzustochern: "Onanieren Sie? Wie oft? Tags? Nachts? Vor dem Fernsehen? Wann sonst noch?"

Kurzlich riefen Jugendliche bei mir an: Sie waren bei der Vorbereitung ihrer Firmung im Beichtstuhl so intensiv zum Themenbereich Sexualitat ausgefragt worden, dass sie sich bedrangt fuhlten. Durch die Debatte der letzten Jahre waren sie zugleich selbstbewusster geworden. Sie wagten, ihren Eindruck auszusprechen, dass der Priester sie ausfragte, weil er sich an den Antworten selbst erregte. Es ist eine Falle der kirchlichen Sexualmoral, dass sie wegen ihrer thematischen Verengung auf den Geschlechtsakt voyeuristische Interessen gerade bei denjenigen bedienen kann, die Moral mit gro?em Pathos predigen.

Keuschheit ist Reinheit des Herzens. Der keusche Seelsorger tritt der anvertrauten Person nicht mit der Verdachtigungsperspektive entgegen. Das unreine Herz hingegen verdachtigt den anderen, ein unreines Herz zu haben. Eine alte Geschichte aus der Monchstradition konfrontiert diesen Mechanismus: "Zwei Monche gehen eine morastige Stra?e entlang. Am Stra?enrand steht eine junge, hubsche Frau in kostbaren Gewandern. Sie will offensichtlich auf die andere Stra?enseite, traut sich aber nicht in den Morast. Der eine der beiden Monche hebt sie auf, tragt sie uber die Stra?e und setzt sie dort ab. Die beiden Monche gehen weiter. Nach einiger Zeit sagt der eine vorwurfsvoll: Bruder, wie konntest du als Monch die Frau anfassen? Darauf der andere: Ich habe die Frau uber die Stra?e getragen und abgesetzt. Du aber tragst sie noch immer mit dir herum!"

Uberwindung der Gewalt

Die Vision vom Reich Gottes antwortet auf das gravierendste Problem im Zusammenleben der Menschheit: Gewalt. Gewalt zerstort Vertrauen. Die Praxis Jesu weist einen Weg, wie die durch Gewalt beschadigten Vertrauensressourcen unter Menschen und Volkern wieder neu zum Sprudeln gebracht werden konnen. Dabei bedeutet "Reich Gottes" nicht einfach die Wiederherstellung eines ursprunglich heilen, paradiesischen Zustandes der Gewaltlosigkeit. Vielmehr geht die Perspektive nach vorn: Im Reich Gottes werden Menschen und Volker, die zueinander kein Vertrauen mehr aufbringen konnen und sich deswegen in der Spirale gegenseitiger Gewalt verstrickt haben, versohnt. Die Versohnung ist mehr als die blo?e Abwesenheit von Misstrauen und Gewalt. Die Versohnung ist eine Steigerung gegenuber dem friedlichen Urzustand vor der ersten Gewalttat.

Die Realitat der Versohnung zeigt sich im Evangelium in den gro?en Festmahlern, die Jesus feiert. Zum einen fordert das Evangelium, den Dienst am Mammon ganz zu lassen und stattdessen den eigenen Reichtum zu teilen – eindrucklich dargestellt in den gro?en Speisungen mitten in der Wuste, die dadurch moglich werden, dass einige beginnen, alles, was sie dabeihaben, zu geben. Der Dienst am Mammon versklavt, das Teilen befreit aus diesem Dienst. Zum anderen sammeln sich in den Festmahlern diejenigen, die zu keinem Clan gehoren. Mit der Einladung zu den Festmahlern gehoren sie aber zugleich zu einem neuen Clan, zu den wahren "Schwestern und Brudern" des einen Vaters im Himmel. Das Reich Gottes ist also verbunden mit der Uberwindung trennender Gegensatze zwischen Clans, Gruppen und Nationen. Sie spielen keine Rolle mehr. Trotzdem ist fur Jesus das Reich Gottes keine gesetz- und strukturlose Gro?e. Doch im Reich Gottes herrscht das Gesetz, um den Menschen zu dienen. Es ist zusammengefasst im Gebot der Nachstenliebe.

Das Evangelium schlagt als Alternative zur Gewalt den Weg der Gewaltlosigkeit vor: Sie meint aber gerade nicht Resignation gegenuber der Gewalt, sondern Widerstand gegen sie. Man kann die "Leistung" Jesu am Kreuz so beschreiben: Dem Misstrauen und der Gewalt, die auf ihn prallen, gelingt es nicht, sein Vertrauen zu besiegen. Sein Tod ist kein au?erliches Opfer, sondern versohnende Hingabe des Lebens, weil er bis zum Schluss aus Vertrauen lebt. Gott ist vertrauend.

 

 

 

 

 




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