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Warum Kinder Ihre Peiniger Schutzen

The Focus
August 28, 2013

http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/krankheitenstoerungen/tid-33162/das-lange-schweigen-der-missbrauchsopfer-warum-kinder-ihr-quaelendes-geheimnis-hueten_aid_1082603.html

Kaum etwas fällt so schwer, wie über sexuellen Missbrauch zu sprechen

Opfer sexueller Gewalt outen sich oft erst Jahrzehnte nach der Tat. Kinder und Jugendliche können die Schweigemauer aus Scham und Loyalität zum Täter kaum überwinden. Sie halten sich ohnehin für die eigentlich Schuldigen.

Und wieder war es ein katholischer Priester: Der frühere Pfarrer der bayerischen Gemeinde Reichertshofen wurde verhaftet, weil der dringende Verdacht besteht, dass er ein Kind sexuell missbraucht hat. Mindestens siebenmal soll er sich zwischen 1998 und 2001 an einem Jungen vergangen haben, der damals noch keine 14 Jahre alt war. Das Opfer hat all die Jahre geschwiegen, und erst als Erwachsener den Mut gefunden, seinen Peiniger preiszugeben. Ähnlich sieht es in einer Reihe von Missbrauchsfällen aus, die derzeit quer durch die Republik vor Gericht verhandelt werden: Zwischen der Tat und ihrer Entdeckung liegen Jahre oder Jahrzehnte des Schweigens. Warum ist das heute immer noch so wie vor 30, 40 Jahren? Damals hatten Kinder keine Stimme gegenüber Erwachsenen, Autoritätspersonen gar, wie dem fürsorglichen Lehrer oder dem gütigen Pfarrer. Aber heute, im 21. Jahrhundert?

Missbrauchsopfer sehen Schweigen als einzige Möglichkeit

Für Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, spielt die größere Aufmerksamkeit, die den Worten von Kindern heute geschenkt wird, eine untergeordnete Rolle im Zusammenhang mit Missbrauch. „Kinder, die sexuell missbraucht werden, befinden sich meist in einem gewaltigen Loyalitätskonflikt und sie haben Schuldgefühle. Diese zentralen Gefühle sind nicht anders als vor Jahrzehnten“, sagt er. „Dass Kinder heute ernster genommen werden, kann sogar dazu führen, dass sie erst recht schweigen.“ Ab einem gewissen Alter sei ihnen klar, welchen Riesenwirbel ihre Aussagen auslösen würden. Das vergrößere nur den kindlichen Loyalitätskonflikt.

Kinder geben sich selbst die Schuld

Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen findet fast immer in einem Umfeld statt, in dem das Opfer sich geschützt fühlt. Die Täter sind Verwandte, gute Bekannte, Vertrauenspersonen, denen das Kind mit seinem naiven Wunsch nach Nähe, Zuneigung und Aufmerksamkeit begegnet. „Bekommt das Kind als Antwort einen sexuellen Übergriff, wird es sofort seinen eigenen Wunsch in Frage stellen: Wenn einer so eklig reagiert, muss auch mein Wunsch abstoßend und eklig sein“, erklärt der Psychiater. Kinder würden sich immer als Auslöser sehen, wenn etwas Schlimmes in ihrem Umfeld passiert. Im Fall von sexueller Annäherung: Ich bin schuld, ich habe den verführt. Mit diesem ausgeprägten kindlichen Schuldgefühl spielen erwachsene Täter, wenn sie behaupten, dass das Kind sie angemacht und aufgereizt hätte. Wie soll ein Kind also jemandem anvertrauen, dass „der Onkel“ etwas Böses gemacht hat, wenn es doch selbst schuld daran ist? Es schweigt und hütet das Geheimnis.

Schuldgefühl, Scham und drohende Täter

Wenn ein Kind etwa ab dem Grundschulalter Schamgefühl entwickelt, und zuvor vielleicht schon von Eltern oder Großeltern gesagt bekommen hat, wie „Pfui“ das Spielen mit den Genitalien ist, kommt zum Schuldgefühl die Scham und verstärkt das Schweigen über verbotene Begegnungen. In einer solchen Grundstimmung wirken auch die Drohungen von Tätern, ja nichts zu sagen. „Die Opfer realisieren, dass sie mit einer Äußerung das Leben eines Erwachsenen zerstören könnten“, sagt Michael Schulte-Markwort. „Also schweigen sie weiter.“

„Der Wunsch nach Zuneigung und der Wunsch nach Sexualität trennt die Kinder- von der Erwachsenenwelt. Sexuelle Handlungen von einem Erwachsenen an einem Kind sind das größte Missverhältnis zwischen diesen beiden Welten“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Dennoch betten die Täter ihre Übergriffe oft in eine Atmosphäre von scheinbarem Vertrauen und Zuneigung ein. Sie geben den Opfern das Gefühl, ganz besonders zu sein, besser, schöner, erwachsener als die anderen und stürzen das Kind dadurch in einen großen Loyalitätskonflikt. „Ein Kind kann sich dadurch sehr aufgewertet fühlen, auch als Komplize und Mitwisser eines großen Geheimnisses. Es weiß zugleich, dass etwas Verbotenes geschieht.“

Irgendwann kommt die verdrängte Erinnerung hoch

Wenn dieses „Geheimnis“ nicht durch Zufall auffliegt, wird der Missbrauch irgendwann enden – etwa, weil der Täter das Interesse am heranwachsenden Kind verliert oder die Situation ihm zu riskant wird. Dann zieht sich die Erfahrung des Missbrauchs tief ins Unterbewusstsein des Opfers zurück und schlummert dort lange Jahre. „Oft kommt die verdrängte Erinnerung erst im Rahmen einer Therapie zurück“, sagt der Hamburger Klinikchef. „Missbrauchsopfer entwickeln sehr oft Störungen, deren Ursache die sexuellen Übergriffe in der Kindheit sind.“ Dazu gehören Selbstverletzungen, Depressionen oder Angststörungen.

Mit dem Sprechen über Missbrauch beginnt die Aufarbeitung

Manchmal löst ein Betroffener sein Schweigen auch bewusst und viel früher. „Wenn Scham und der Abgrenzungsversuch zum Täter ins Ungleichgewicht geraten, sprechen Opfer über das, was ihnen angetan wurde“, erklärt Michael Schulte-Markwort. „Das kann schlicht mit der Reifung kommen oder etwa durch echte Verliebtheit und Vertrauen zum Partner.“ Dann können sich die Opfer von falscher Scham und Loyalität lösen, und anfangen, das Erlebte zu verarbeiten.

  Was den jungen Mann aus Bayern dazu bewogen hat, sein Schweigen nach all den Jahren zu brechen, geben die Ermittlungsbehörden nicht bekannt. Vielleicht hilft es ihm für die Bewältigung seiner Erlebnisse zu wissen, dass sich sein heute 48jähriger Peiniger vor Gericht verantworten und jetzt bereits die Schmach seiner öffentlich gewordenen Taten erleben muss – als Häftling im Untersuchungsgefängnis.




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