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Ein Missbrauchsopfer Wehrt Sich

By Julia Haak
Berliner Zeitung
February 27, 2014

http://www.berliner-zeitung.de/berlin/katholische-kirche-ein-missbrauchsopfer-wehrt-sich,10809148,26413526,item,0.html

Ein 15-Jahriger wurde von einem Pfarrer der Herz Jesu Kirchengemeinde in Tegel missbraucht. Das Erzbistum nennt das Opfer den „Beschuldigenden“. Foto: BLZ/Markus Wachter

Manche Wunden heilen nie. Wenn sie nach Jahren wieder aufbrechen, kommt es fur Beteiligte oft uberraschend. So ist es auch in einem Missbrauchsfall, der die katholischen Kirchengemeinden Peter und Paul in Potsdam und Herz Jesu in Tegel betrifft. In der katholischen Kirche muss jetzt ein alter Fall neu aufgerollt werden, weil das Opfer plotzlich Druck macht. Ein des sexuellen Missbrauchs beschuldigter Gemeindepfarrer war rehabilitiert worden, obwohl der Kirchenleitung bekannt war, dass er tatsachlich einen Jungen zu einer sexuellen Handlung genotigt hatte.

Ihren Anfang nimmt diese Geschichte, als der damals 15 Jahre alte Stefan Luttke sich von der Wohnung des Geistlichen auf den Heimweg macht. Was er auf diesem Weg erlebt, wird fur ihn zu einem Alptraum, der ihn bis heute schwer belastet. Denn der Junge wird unterwegs sexuell missbraucht – von einem Kaplan seiner Kirchen- gemeinde in Potsdam, seinem Wohnort. An diesem Tag begleitete der erwachsene Mann den Jungen nach Hause. Uber das, was damals geschah, hat Stefan Luttke lange geschwiegen. Er wurde daruber krank. Er sagt, er habe damals nicht daruber sprechen konnen. Jetzt allerdings hat er nicht nur den Tater angezeigt, er beschuldigt auch das Berliner Erzbistum, den Fall vertuscht zu haben.

Heute ist Stefan Luttke in der Lage, uber jenen Abend im Jahr 1997 in Potsdam Auskunft zu geben. Er sitzt in einem Berliner Cafe und spricht au?erlich ruhig uber das, was ihm passiert ist. „Die Tat fand an einem Sommerabend auf dem Heimweg von einem Treffen einer Firmgruppe in seiner Wohnung statt“, sagt er. Der Kaplan habe ihn um einen Spaziergang durch den Park gebeten. Er habe davon gesprochen, dass doch nichts dabei sei, sich nackt voreinander zu zeigen. Irgendwann hatte er den 15-Jahrigen wohl soweit, dass er ihn anfassen konnte. Es sei zur gegenseitigen Masturbation gekommen, sagt Luttke.

Jahrelang verdrangt

Der Tater habe spater weitere Annaherungsversuche unternommen, die er aber abgeblockt habe, sagt Luttke. Er versuchte, das Geschehene zu verdrangen. Bis ins Jahr 2010. Damals, als die Zeitungen voll mit Missbrauchsgeschichten waren, als heraus kam, dass einige Priester am Berliner Canisius Kolleg jahrzehntelang Schuler sexuell missbraucht hatten, als telefonische Hotlines eingerichtet und Ansprechpartner fur Betroffene benannt wurden, geschah etwas mit Stefan Luttke. Er rief bei diesen Hotlines an: bei der Bundesregierung und auch bei der katholischen Kirche. Er erzahlte sein Erlebnis vom Heimweg. Bei dem Telefonat mit der Kirche bat er darum, den Fall ans Berliner Erzbistum weiterzugeben, um weitere Ubergriffe des Mannes, der mittlerweile als Pfarrer die Herz Jesu Gemeinde in Tegel leitete, zu verhindern. Luttke wollte dabei anonym bleiben.

Letzteres klappte nicht. Ein Jahr spater erhielt er einen Brief des Pfarrers seiner Heimatgemeinde in Potsdam, in dem dieser auf den Missbrauch Bezug nahm. Wie er Kenntnis davon erlangt hat, kann das Erzbistum heute nicht erklaren.

Stefan Luttke sah keine Moglichkeit zu reagieren. 2010 wurde er zweimal wegen psychischer Probleme stationar im Krankenhaus behandelt. Das Erzbistum agierte ohne sein Zutun. Die Kirchenleitung nahm den Pfarrer vorerst aus dem Dienst und leitete eine kircheninterne Untersuchung ein. Berliner Tageszeitungen, darunter auch diese Zeitung, haben damals daruber berichtet. Es schien ein Fall zu sein, in dem die Kirche alles richtig machte.

Was weiter passierte, drang bisher nicht nach drau?en. Das Polizeiprasidium Potsdam und die Berliner Polizei nahmen Kontakt zu Luttke auf. Er habe aber damals wegen seines Gesundheitszustands keine Aussage machen konnen, sagt Luttke. Im April vergangenen Jahres veroffentlichte das Erzbistum dann plotzlich im Rahmen eines im Gottesdienst verlesenen Publicandums die Mitteilung, dass die staatlichen und kirchlichen Untersuchungen gegen den Pfarrer „ergebnislos eingestellt worden“ seien. „Fur Ihren Pfarrer steht der Wiederaufnahme seines priesterlichen Dienstes nichts mehr entgegen. Damit ware auch eine Ruckkehr in die Aufgaben des Pfarrers dieser Gemeinde moglich“, hei?t es in der Verlautbarung. Mit Hinweis auf seinen angegriffenen Gesundheitszustand habe der Pfarrer jedoch dem Kardinal seinen Verzicht auf die Pfarrei Herz Jesu angeboten. Kardinal Woelki habe den Verzicht angenommen.

Luttke erscheint dies im Nachhinein als schlechter Scherz. „Fur mich als Opfer war diese Vermeldung wie ein zweiter Missbrauch“, sagt er. Im vergangenen September fand er schlie?lich die Kraft und wandte sich ans Erzbistum. Was er dort erlebte, empfindet er als Skandal. Er sei auf einen Missbrauchsbeauftragten getroffen, der ihm im Gesprach signalisiert habe, es lohne sich doch nicht, gegen Windmuhlen anzukampfen. Au?erdem wurde ihm klar, dass man im Erzbistum sehr wohl wusste, dass man keinen Unschuldigen rehabilitiert hatte.

Die Kirche der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde in Tegel. Foto: Markus Wachter / Waechter

Stefan Luttke erfuhr davon in einem Gesprach mit dem Generalvikar Tobias Przytarski am 5. Dezember 2013. Luttke hatte um dieses Gesprach gebeten. Anwesend waren auch ein mit Luttke befreundeter Anwalt und der Missbrauchsbeauftragte der Kirche Pater Josef Schulte. In diesem Gesprach raumte der Generalvikar ein, dass der beschuldigte Priester im Jahr 2010 in einer Unterredung mit dem damaligen Weihbischof Matthias Heinrich und dem Dompropst Stefan Dybowski die Tat wie von Luttke geschildert zugegeben hatte. Weil er am Ende aber ein Gesprachsprotokoll nicht unterzeichnete, hat das Erzbistum das Tateingestandnis offenbar als nicht vorhanden bewertet. „Weder der Weihbischof noch der Dompropst, die Zeugen des Tateingestandnisses wurden, ubermittelten ihr Wissen an die Staatsanwaltschaft Potsdam, sondern legten den Fall zu den Akten“, sagt Luttke. Er bezeichnet das als Behinderung der Arbeit der Staatsanwaltschaft.

Stefan Luttke hat die Sache bei der Staatsanwaltschaft Potsdam Mitte Dezember dann selbst angezeigt. Am 8. Januar wurde er als Zeuge vernommen. Mit Datum vom 3. Februar teilt der zustandige Staatsanwalt Stefan Luttke mit, dass er das Verfahren eingestellt habe, da die angezeigte Straftat verjahrt sei.

Stefan Luttke lasst die Sache aber keine Ruhe. Er reagiert empfindlich auf Formulierungen seitens des Erzbistums wie „minderschwerer Fall“ oder man habe ja den Tater nicht ewig beurlauben konnen. Er will jetzt Offentlichkeit. „Die Situation der Opfer wird sich wenig andern, wenn sie zurecht, aber auch tragisch – in Deckung bleiben, wahrend die Tater offen agieren konnen“, sagt er. Luttke greift Kardinal Rainer Maria Woelki an, dem er im vergangenen September in einem Brief seinen Fall schilderte. Woelki gab die Sache an den Generalvikar, der Luttke dann zu besagtem Gesprach einlud. Luttke sieht die Verantwortung fur den zweifelhaften Umgang des Erzbistums mit dem Fall bei Woelki. Wider besseren Wissens wolle Woelki einen Sexualtater wieder als Priester einsetzen, sagt Luttke. So ein Erzbischof sei falsch in seinem Amt, sagt Luttke. Luttke erwartet von der Kirche eine Entschuldigung.

Mangelhafte Aufklarung

Eine Nachfrage beim Erzbistum bestatigt Luttkes Sicht der Dinge in weiten Teilen. „Der Vorwurf wurde im Wesentlichen bestatigt“, sagt Erzbistums-Sprecher Stefan Forner zum Gesprach der Kirchenvertreter mit dem Pfarrer. Das Ergebnis des Gesprachs sei aber fur eine juristische weitere Verfolgung der Tat untauglich gewesen. Offenbar hatten die Kirchenvertreter dem Pfarrer zuvor nicht deutlich gemacht, dass dieses Gesprach kein seelsorgerisches, sondern Teil eines Verfahrens sein wurde. Erst als der Mann zum Schluss zur Unterschrift aufgefordert wurde, sei ihm das klar geworden und er weigerte sich, so die Darstellung des Bistums. Die Aufzeichnung sei mittlerweile der Staatsanwaltschaft zugeleitet worden. Forner bezeichnet die mangelhafte Aufklarung des Taters als Fehler.

Als Fehler muss man auch die vollstandige Rehabilitierung des Pfarrers im vergangenen Jahr bezeichnen. Mittlerweile sieht es die Kirche selbst so. „Es ist nachvollziehbar, dass der Wortlaut des Publicandums den Beschuldigenden verargert und verletzt hat. Insbesondere die Formulierung, die kirchliche Untersuchung sei ,ergebnislos’ eingestellt. Dies ist allenfalls in einem engen strafrechtlichen Sinn richtig. Wir nehmen die erneute Verletzung des Opfers mit Bedauern wahr und ernst“, teilte das Erzbistum am Donnerstag mit.

Wieder eingesetzt wird der Priester als Seelsorger nun offenbar nicht mehr. Zuletzt sei er in der Verwaltung tatig gewesen, sagt Sprecher Forner. Zurzeit ist er krank. Aus Rom sind im vergangenen Jahr Auflagen gemacht worden. Ein forensisches Gutachten soll erstellt werden, damit sei der Tater einverstanden. Bewegung kommt in die Sache aber erst, seit Luttke aktiv geworden ist. „Alles hat sich grundlegend geandert durch das Melden des Opfers“, so Forner. Das Erzbistum hat noch einmal den Vatikan eingeschaltet. In Rom sei angefragt worden, wie man mit den zuletzt getroffenen Entscheidungen – gemeint ist die rehabilitierende Verlautbarung – umgehen solle. Eine Antwort steht aus.

 

 

 

 

 




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