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Papst Ohne Gnade?

Zeit
October 3, 2014

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Franziskus wird fu?r sein hartes Durchgreifen beim Thema Missbrauch von den Medien gefeiert. Doch es bleiben Zweifel am Aufkla?rungswillen des Papstes. VON JULIUS MULLER-MEININGEN, ROM

Papst Franziskus wahrend einer Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom | © Claudio Peri/EPA/dpa

Der Vatikan ist der kleinste Staat der Welt. Aber dass hier Gut und Bose so nahe beieinanderwohnen, ist doch eine Uberraschung. Franziskus lebt im zweiten Stock des Gastehauses Santa Marta an der gleichnamigen Piazza im Schatten des Petersdoms. Seit Dienstag vor einer Woche hat hier auch Jozef Wesolowski sein vorubergehendes Zuhause. Der ehemalige Erzbischof und papstliche Nuntius in der Dominikanischen Republik sitzt im unmittelbar an Santa Marta angrenzenden Gebaude des Vatikan-Tribunals im Hausarrest. Beide – der Papst und der bislang hochste wegen sexuellen Missbrauchs belangte Pralat – haben denselben Blick aus dem Fenster. Er geht auf eine Tankstelle.

Der Papst kennt keine Gnade mehr. So lautet das beinahe einhellige Urteil uber die spektakulare Festnahme des Monsignore, die zum Symbol fur die Null-Toleranz-Politik des Papstes bei Missbrauchsfallen geworden ist. Der Fall des 66-jahrigen Wesolowski erregte weltweit Aufsehen: Erstmals wurde ein so hoher Pralat wegen Kindesmissbrauchs dingfest gemacht, erstmals wurde ein Kleriker im Vatikan festgenommen. Der Pole wird des sexuellen Missbrauchs von mindestens vier Kindern und Jugendlichen im Alter von zwolf bis 17 Jahren in Santo Domingo beschuldigt. Er soll fur Geld Oralsex mit ihnen gehabt und den Jungen beim Onanieren zugesehen haben. Von der Glaubenskongregation wurde Wesolowski deshalb bereits im Juni in den Laienstatus zuruckversetzt. Bei dem vatikanischen Strafprozess, der fruhestens Ende des Jahres beginnt, drohen Wesolowski bis zu sieben Jahre Haft.

Auch der Urheber dieser kompromisslosen Linie war schnell ausgemacht. Vatikansprecher Federico Lombardi beeilte sich, Franziskus personlich fur die Festnahme verantwortlich zu machen. Der Arrest sei auf "ausdrucklichen Willen des Papstes" erfolgt. Aus dem Klerus und aus den Medien bekam Franziskus mal wieder viel Lob: "Das ist ein Paradigmenwechsel", urteilte der emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper, der zu einer Art Haus- und Hoftheologen des Papstes aus Argentinien geworden ist. "Die Zeit der Verschleierung ist vorbei", schrieb der "Corriere della Sera". Franziskus habe der Padophilie in der katholischen Kirche mit diesem symbolischen Akt endgultig den Krieg erklart.

Die Vorwurfe gegen Wesolowski sind gravierend: Einem an Epilepsie erkrankten Jungen habe der Monsignore Medikamente im Gegenzug fur sexuelle Dienste gegeben. Im Computer des Ex-Pralaten wurde ein etwa 100.000 Dateien umfassendes Archiv mit Kinderpornos gefunden. Die Vatikan-Ermittler wollen nun die gesamte Vergangenheit Wesolowskis durchleuchten, der 1972 von Karol Wojtyla, dem spateren Johannes Paul II., zum Priester geweiht worden war und von 1999 an als papstlicher Botschafter nach Bolivien und spater nach Kasachstan entsandt wurde. Wie sein Vorganger Benedikt XVI. hat sich auch Papst Franziskus bei dieser Problematik immer wieder deutlich positioniert. Im Marz setzte er eine achtkopfige papstliche Kommission zum Thema ein.

Die Irin Marie Collins ist Mitglied in dieser Kommission. Die Katholikin wurde als 13-Jahrige von einem Kirchenmann missbraucht und soll die Sicht der Opfer in der Arbeitsgruppe vertreten, die sich ab dem 4.?Oktober erneut im Vatikan versammelt. Sie sagt nach der Festnahme Wesolowskis: "Niemand, der Minderjahrige sexuell missbraucht hat, sollte frei herumlaufen, ohne juristisch zur Rechenschaft gezogen worden zu sein."

Der Satz war eine kaum zu uberhorende Kritik. Wesolowski war nach Bekanntwerden der Vorwurfe noch uber ein Jahr lang auf freiem Fu?. Der Heilige Stuhl hatte den Polen im August 2013 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Santo Domingo abgezogen und nach Rom beordert. Nur wenige Tage spater wurde der Fall von einem TV-Sender in Santo Domingo veroffentlicht. Wahrend die fur Disziplinarma?nahmen gegen Priester zustandige Glaubenskongregation den Fall fortan in Rom untersuchte, wohnte der Pole vollig unbehelligt im Priesterhaus Casa del Clero in der Via della Scrofa, gleich bei der Piazza Navona in Rom. Victor Masalles, Weihbischof von Santo Domingo, zeigte sich uberrascht, als er den ehemaligen Nuntius im vergangenen Juni in der romischen Innenstadt spazieren gehen sah. "Das Schweigen der Kirche hat das Volk Gottes verletzt", schrieb der Bischof auf seinem Twitter-Account uber die Begegnung.

Wenige Tage spater gab der Vatikan bekannt, Wesolowski sei von der Glaubenskongregation aus dem Priesterstand entlassen worden. Internationale Medien begannen sich fur den Fall zu interessieren, darunter auch die New York Times. Was nach der Festnahme als kompromisslose Linie des Papstes gelobt wurde, wirkt vor diesem Hintergrund eher wie der Versuch einer Schadensbegrenzung.

Das Verhalten des Vatikans wirft Fragen auf. Warum uberlie? man den Fall nicht der Justiz in Santo Domingo, wie Vertreter der Opfer vehement forderten? In den Leitlinien der Glaubenskongregation zum Umgang mit sexuellem Missbrauch hei?t es dazu, Falle mussten angezeigt werden, wenn dies die Landesgesetze erfordern. Die dominikanische Justiz war im Sommer 2013 nicht sogleich von der Kirche informiert worden, sondern wurde erst durch einen Fernsehbericht darauf aufmerksam. Weil immer mehr Widerspruche zutage kamen, vervielfaltigten sich auch die Begrundungen fur die Festnahme. Von "Fluchtgefahr" war im Vatikan nun die Rede und nicht mehr vom "ausdrucklichen Willen des Papstes". Warum aber war Wesolowski dann uber ein Jahr lang auf freiem Fu?? Der Hinweis, der ehemalige Nuntius habe als Staatsburger des Vatikans und Botschafter Diplomaten-Immunitat genossen und sei deswegen nach Rom uberstellt worden, dient nur bedingt als Erklarung. War der Kirche wieder mehr an der Rettung des eigenen Rufs gelegen als am Schutz der Opfer? So hatte es der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen bemangelt.

Dazu gesellen sich die Fragen uber die Zuverlassigkeit der Vatikanjustiz. Bevor es zu einer Anklage kam, wurde der Fall Wesolowski viele Monate lang geheim von der Disziplinarabteilung der Glaubenskongregation verhandelt, die aus nachvollziehbaren Grunden nicht offentlich arbeitet und im Jahr 2013 etwa 600 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs durch Priester gemeldet bekam. In dieser Zeit hatte Wesolowski aber langst Spuren verwischen oder eine Flucht planen konnen.

Der Vorrang eines kanonischen Prozesses, an dessen Ende Wesolowskis Entlassung als Priester stand, ist aus Sicht der Kirche verstandlich. Aber haben die Opfer, wie ihre Vertreter in Santo Domingo gefordert haben, kein Recht auf einen ordentlichen Strafprozess ohne Verzogerungen? Franziskus lie? im vergangenen Jahr den vatikanischen Strafenkatalog fur sexuellen Missbrauch verscharfen. In ein vatikanisches Strafverfahren kann der Papst jedoch stets personlich eingreifen oder den Verurteilten begnadigen. So wie es Benedikt XVI. 2012 mit seinem untreuen Kammerdiener Paolo Gabriele tat. Rechtsstaatlichen Grundsatzen halt ein Strafverfahren im Vatikan, dessen Herrschaftssystem einer absolutistischen Monarchie gleicht, kaum Stand.

Nur zwei Tage nach der Festnahme Wesolowskis gab der Papst eine weitere drastische Entscheidung bekannt. In Paraguay setzte er den Bischof von Ciudad del Este, Rogelio Ricardo Livieres Plano, mit sofortiger Wirkung ab. Der Bischof, Mitglied des Opus Dei, hatte unter anderem einen in den USA wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Priester zu seinem Generalvikar gemacht und offentlich gegen Vorwurfe verteidigt. Im Vatikan wird gegen drei weitere Bischofe wegen Kindesmissbrauchs ermittelt. Das alles spricht dafur, meinen die Beobachter, dass Franziskus Ernst macht mit dem Kampf gegen Missbrauch in der katholischen Kirche.

Nicht eindeutig ist jedoch, ob der Papst selbst die Welle der Aufklarung losgetreten hat oder ob er moglicherweise die Dynamik nicht im Griff hat. Einem einflussreichen Besucher riet Franziskus vor Kurzem, nach der Methode eines Torwarts zu handeln: "Man muss den Ball aus der Richtung fangen, aus der er kommt", sagte er. Kritiker werfen Franziskus vor allem zu viel Spontaneitat vor. Nun drangt sich die Frage auf, ob Bergoglio auch bei den Missbrauchsfallen eine ganz eigene Taktik verfolgt: eine passive Verteidigungshaltung mit medienwirksamen Reflexen im letzten Moment.

Die unterschiedlichen Lager in der katholischen Kirche, Liberale und Konservative, haben langst ihre Fallstricke gespannt, uber die noch so manches Schwergewicht stolpern konnte. Im klerikalen Fadenkreuz befindet sich gerade etwa der australische Kardinal George Pell, den Franziskus in seinen innersten Machtzirkel geholt hat. Obwohl als extrem konservativ bekannt, wurde der Australier vom Papst in dessen neunkopfigen Kardinalsrat berufen. Franziskus machte Pell au?erdem zum Chef des neu geschaffenen Wirtschaftssekretariats und damit zu einer Art vatikanischem Finanzminister.

Nun wurde der Kardinal, der sich schon fruher gegen nie bewiesene Missbrauchsvorwurfe zur Wehr setzen musste, von einer Untersuchungskommission in Canberra befragt, die sich auch den von Pell 1996 eingefuhrten Entschadigungszahlungen fur Opfer sexueller Gewalt in der Erzdiozese Melbourne widmet. Kritiker sehen darin ein "System zur Kontrolle der Opfer", bei dem "Verbrechen kleingeredet, die Wahrheit versteckt und die Opfer manipuliert, eingeschuchtert und ausgenutzt" wurden. Bei seiner Befragung Ende August verglich Pell die katholische Kirche mit einem Transportunternehmen, das rechtlich nicht dafur haftbar gemacht werden konne, wenn seine Lkw-Fahrer unterwegs Frauen belastigen. Die Emporung uber den Vergleich war gro?, die innerkirchliche Opposition gegen Pell wachst. Soll mit den Angriffen auf den Kardinal auch Franziskus getroffen werden?

Kritisiert wird der Papst auch, weil er den belgischen Kardinal Godfried Danneels zur Synode eingeladen hat. Danneels, dessen liberale Positionen etwa bei der Homo-Ehe bekannt sind, soll bei dem programmatischen Treffen der Bischofe zum Thema Familie und Sexualitat mitwirken. Ob er dafur wirklich geeignet ist, bezweifeln manche. Im Mai 2010 hatte Daneels nachweislich ein Missbrauchsopfer, den Neffen des ehemaligen Bischofs von Brugge, Roger Vangheluwe, aufgefordert, die Vorwurfe gegen seinen Onkel erst einmal nicht offentlich zu machen.

Fur die Aktionen seiner engsten Mitarbeiter ist Franziskus nicht verantwortlich, vor allem, wenn es sich um altere Begebenheiten handelt. Aber das Bild vom Aufraumer Jorge Mario Bergoglio, der sich jahrzehntealten Praktiken der Vertuschung in der katholischen Kirche entgegenstellt, ist nur mit Muhe aufrechtzuerhalten. Wenn nicht alles tauscht, dann stehen Franziskus die wirklich unruhigen Zeiten erst noch bevor.

 

 

 

 

 




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