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In Sekten wird jedes Mitglied zum Spitzel

Welt
November 12, 2014

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Das finstere Innenleben mancher Sekten konnten die Gäste Sandra Maischbergers erläutern. Dass kein aktives Sektenmitglied in die Sendung kam, war allerdings ein Nachteil

Maischberger und ihren Gästen gelang es nicht, Faszination und Gemeinsamkeiten von dubiosen Glaubensgemeinschaften zu entschlüsseln. Dafür erschütterten die Erfahrungsberichte von Aussteigern.

Empörung kann heilsam sein. Sie kann Aufmerksamkeit wecken, Handlungsbedarf erkennbar machen, sie hilft womöglich auch dabei, dass sich eine Gesellschaft wieder selbst vergewissert darüber, nach welchen Normen sie leben, was sie zulassen will oder nicht.

Bei Sandra Maischberger hörte man vieles, über das sich zu empören war, und einiges, über das sich nur fassungslos der Kopf schütteln ließ. Die Diagnose, die Sendung habe sich in Eskalationsstufen aufgebaut, wäre womöglich ein ganz klein wenig zynisch, aber auch nicht vollkommen falsch.

Zunächst sprach Maischberger mit Doris Wagner, die in einem vom Vatikan anerkannten Orden Gehorsamsdrill und Psychoterror erlebte, der offensichtlich auf die Auslöschung der eigenen Persönlichkeit zielte: "Ich hatte mir nach fünf Jahren abtrainiert, Sätze zu sagen, die mit 'Ich will' oder 'Ich will nicht' beginnen."

Den Tiefpunkt erreichte ihre Tortur dann allerdings mit dem jahrelangen Missbrauch durch ein männliches Mitglied des Ordens – in der Logik der Gemeinschaft eine doppelt demütigende Situation, weil den Schwestern die Verantwortung oblag, die Gefühle der Brüder gefälligst im Zaum zu halten: "Die Frauen sind die Versucherinnen", fasste Wagner es zusammen.

"Für Lügen kriegst du's richtig"

All dies führte bei ihr schließlich zu einem endgültigen Bruch nicht nur mit ihrem Orden, sondern auch mit dessen Dachorganisation: "Der Kirche als Institution kann ich kein Vertrauen mehr entgegenbringen", sagte Wagner bestimmt. Sie verzichtete darüber hinaus bewusst darauf, den Namen der Gemeinschaft zu nennen, in der sie so gelitten hat – eine Entscheidung, die auch hier respektiert werden soll.

Die Zwölf Stämme jedoch sind womöglich vielen Zuschauern ein Begriff gewesen. Die Medien hatten intensiv berichtet, als die Polizei etwa 40 Kinder vom Sitz der Gemeinschaft im bayerischen Gut Klosterzimmern aus der Obhut ihrer Eltern nahm, denen vorläufig das Sorgerecht entzogen worden war. Christian Reip, der in die Sekte geboren worden war und mittlerweile ausgestiegen ist, beschrieb es bei Maischberger so: "Ich hatte keine Kindheit, sondern einen 18 Jahre langen Albtraum."

Es habe keinen Tag gegeben, erzählte Reip, an dem er nicht geprügelt worden wäre. Kleinste Anlässe genügten, "für Lügen kriegst du's richtig". Und überhaupt, unter Berufung auf die Bibel gelte: "Man kann sein Kind gar nicht zu häufig disziplinieren." Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoße, werde bestraft, wem dies auffalle, der erhalte Privilegien. Die Folge: "Jeder ist Spitzel."

Trieb der Guru eine Frau in den Selbstmord?

Reip, dies war offensichtlich, ist ein Versehrter, jemand, dem das Geschehen heute noch mächtig zusetzt und der sich keine Mühe gab, seine Äußerungen irgendwie diplomatisch zu verpacken: "Jeder kann dich verarschen, jeder kann dich über den Tisch ziehen" – vielleicht ist die Einpflanzung eines so unerschütterlichen Misstrauens das größte Verbrechen von Reips Peinigern gewesen.

Von Ordensgemeinschaften mit dem Segen des Papstes – wobei erwähnt sei, dass das Ergebnis einer Untersuchung der Vorfälle, einer sogenannten apostolischen Visitation, noch nicht vorliegt – über sich selbst als urchristlich bezeichnende Sekten führte die Diskussion dann in die Welt der Esoterik, in der sich die Frau von Joachim Huessner mit so bizarren wie grausamen Folgen verlor.

Zunächst wurde sie bei einem Meditationskurs von einem Fremden angesprochen. Bald war sie dem Glauben verfallen, der Mann sei eine Inkarnation Christi und sie selbst eine von Petrus. Er beauftragte sie, Anführerin einer neuen Glaubensgemeinschaft zu sein. Sie verließ Mann und Kinder, drei Wochen nach der Scheidungsverhandlung nahm sie sich das Leben.

Angesichts dieser Schicksale ist es legitim, sich zu empören. Gleichzeitig aber kann Empörung eben nicht nur heilbar sein, sondern blind machen für Differenzierungen und Zusammenhänge. Um ebendiese herzustellen, hatte Maischberger etwa mit Sabine Riede die Chefin der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen eingeladen.

Einblicke in eine hermetische Welt

"Die Menschen deuten in der Meditation ihre Rauschgefühle, die nur eine Ausschüttung von Dopamin sind, als göttliche Erfahrungen" – so erklärte Riede zum Beispiel die Attraktivität bestimmter esoterischer Angebote. Insgesamt kam sie jedoch ein wenig zu kurz in der Sendung.

Gary Lukas Albrecht, Pfarrer und Sektenbeauftrager der katholischen Kirche, wurde von Maischberger zwar immer wieder mit kritischen Fragen bedacht, er konnte sich diesen aber auch leicht, womöglich allzu leicht entwinden. "Durch die Esoterik verlieren wir ein wenig die Deutungshoheit", beklagte er etwa. Die Kirchen erzögen dagegen "zum kritischen Glauben". Nun: Darüber ließe sich schon diskutieren.

Wie wichtig Maischberger eine kontroverse Diskussion tatsächlich gewesen ist, sei aber dahingestellt. Den Anwalt der Zwölf Stämme hätte sie gerne in der Sendung gehabt, dieser wurde aber am Tag der Aufzeichnung von seinen Mandanten zurückgepfiffen. Vielleicht ging es ohnehin eher darum, Einblicke in die hermetische Welt kleiner, sektenähnlicher Gruppierungen zu geben, die weniger bekannt – und weniger klagefreudig – sind als etwa Scientology.

Um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und sich den Psychodynamiken zu widmen, die in den einzelnen Gemeinschaften wirken, fehlten die Zeit und ein klarerer Fokus. Hilfreich schien zumindest die Definition von Albrecht, der dann von einer Sekte sprechen wollte, wenn Mitglieder in ihrem Umfeld "nicht mehr zu dem stehen können, was sie sind und was sie selber ausmacht".




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