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„Manche leiden ein Leben lang“

Morgenweb
January 20, 2015

http://www.morgenweb.de/nachrichten/politik/manche-leiden-ein-leben-lang-1.2065706

Der Missbrauchsskandal hat die katholische Kirche viel Vertrauen gekostet.

[An Interview with Harald Dressing, a psychiatrist who is leading an interdisciplinary study of sexual abuse within the German Catholic church.

It is known that the Freiburg diocese paid 736,000 euros to 130 victims. There are 185 documented victims, including children in care.

The Speyer diocese has reported 53 cases of sexual abuse. In 33 cases, the victims have received material benefits and 15 cases were closed without resolution and four are still in process. Overall, the diocese so far has paid 223,000 euros.

In the Mainz diocese, 277,000 have been paid. Forty-two victims submitted applications and three were rejected. Two applications are still being examined.]

MANNHEIM. Vor fünf Jahren kam der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche ans Licht. Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing leitet die interdisziplinäre Studie, die die Kirche in Auftrag gegeben hat: "Wir sind völlig unabhängig", sagt er, das stehe so im Vertrag. Die Studie läuft seit einem halben Jahr, Ergebnisse sollen Ende 2017 vorliegen.

Was tragen Sie zur Studie bei?

Harald Dreßing: Unsere Aufgabe besteht unter anderem darin zu beschreiben, wie die Akten in den Bistümern geführt werden, wie groß das Ausmaß des Missbrauchs ist, aber auch wie das Thema Sexualität in der Priesterausbildung verankert ist.

Ihr Team hat 46 Opfer befragt.

Dreßing: Ja. Dabei zeigt sich, dass manchen trotz der stattgefundenen Traumatisierung eine gute Lebensführung gelingt, andere leiden ihr ganzes Leben. Wenn die Betroffenen darüber sprechen, sind ihre Verletzungen sehr präsent.

Wie erschütternd sind solche Gespräche für beide Seiten?

Dreßing: Wir sind als Profis geschult. Dennoch ist das eine sehr belastende Aufgabe, in erster Linie jedoch für die Opfer. Wir führen und begleiten sie, so dass die Gespräche manchmal eine befreiende Funktion haben. Vergessen werden die Opfer das Geschehene nie.

Ihr Projekt soll herausfinden, ob Strukturen und Dynamiken in der katholischen Kirche Missbrauch begünstigen oder begünstigt haben. Haben Sie eine Vermutung, wie die Antwort aussehen könnte?

Dreßing: Eine Hypothese hierzu ist, dass Priester, die Missbrauch begehen, sehr unreife Menschen sind, die sich mit ihrer Sexualität nicht ausreichend auseinandergesetzt haben. Wenn sie später in Beziehungen mit Jugendlichen Macht ausüben können, ist das Risiko für Missbrauch erhöht. Gegebenenfalls müssten solche Aspekte in der Priesterausbildung stärker beachtet werden.

Besitzen Täter aus dem Bereich Kirche noch ein funktionierendes Gewissen?

Dreßing: Das ist unterschiedlich. Auffällig ist, dass viele Priester Vorwürfe sehr schnell einräumen und dann große Schuldgefühle haben. Eine völlige Gewissenlosigkeit kann man nicht annehmen.

Wie beruhigen Täter ihr Gewissen?

Dreßing: Etwa indem der Missbrauch in spirituelle Aktivitäten eingebettet wurde, was auf die Betroffenen besonders schlimme Auswirkungen hat. Weil hier nicht nur eine sexuelle Grenzüberschreitung stattfindet, sondern auch eine Störung von Spiritualität und Glauben. Etwa wenn die Beichte benutzt wird, um Vertrauen zu gewinnen und dann sexuelle Übergriffe zu begehen.

Beobachten Sie Verdrängen, Leugnen oder Verharmlosen?

Dreßing: Die Täter sind in eine sehr große Institution eingebunden, die sich nach außen eher abschottet. Verschleppung und Vertuschung hat es zumindest in einigen Fällen gegeben.

Galt das auch für Verantwortliche?

Dreßing: Ja. Der Missbrauchsbeauftragte, Bischof Ackermann, spricht davon, dass die Kirche eine Kultur der Achtsamkeit entwickeln muss. Hier sind erste Schritte getan, aber man ist noch nicht am Ziel. Die Kirche muss also hellhörig sein.

Wie sieht die Bereitschaft zur Kooperation auf der Seite der Täter aus?

Dreßing: Deren Bereitschaft, sich zu öffnen, ist wesentlich geringer als bei den Opfern, aber auch hier haben wir schon erste Interviews geführt.

Sind auch diese Gespräche für Sie erschütternd?

Dreßing: Ja, weil ein Würdenträger, der sexuelle Enthaltsamkeit und Demut predigt, zu solchen Verbrechen fähig ist. Auch wenn wir wissen, dass Menschen zu allem fähig sind.

Können Sie frei arbeiten?

Dreßing: Wir sind völlig unabhängig. Im Vertrag ist festgehalten, dass wir alle unsere Ergebnisse unabhängig publizieren.

Wie beurteilen Sie die Konsequenzen, die die katholische Kirche aus dem Missbrauchsskandal gezogen hat?

Dreßing: Es gibt sehr viel Bemühen, Strukturen zu verändern. Positiv hervorzuheben sind die Leitlinien im Umgang mit sexuellem Missbrauch, dass Fälle an die Strafverfolgungsbehörden zu melden sind, sofern die Opfer nicht widersprechen. Früher wollte man das intern regeln. Die Schaffung und Schulung von Präventionsbeauftragten ist ebenfalls ein großer Fortschritt, weil das Thema präsent bleibt. Auch die Einrichtung von Missbrauchsbeauftragten als Ansprechpartner von Opfern sehe ich positiv.

Wie klappt das?

Dreßing: Ein Teil unserer Aufgabe besteht darin, zu prüfen, wie das umgesetzt wird. Und ob die Opfer damit zufrieden sind, was ihnen zur Aufarbeitung angeboten wird. Hier muss die Kirche genau hinhören, was die Betroffenen wollen. Das kann nicht nur in der Zahlung einer Geldsumme bestehen.

Sondern?

Dreßing: In einer ehrlichen Anerkennung des Leides. Manche Opfer wünschen sich das noch stärker.

Sind Sie katholisch?

Dreßing: Ja.

Würden Sie Ihre Kinder heute der katholischen Kirche anvertrauen?

Dreßing: So viel Vertrauen hätte ich.




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