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Papst empfängt Schweizer Missbrauchsopfer

Der Bund
March 25, 2015

http://www.derbund.ch/schweiz/standard/Papst-empfaengt-Schweizer-Missbrauchsopfer/story/11243712

Abendtoilette in der «Rettungsanstalt der verwaisten und verwahrlosten Jugend» auf Schloss Kasteln AG

Ein Zeichen aus Rom: Der Papst empfängt ehemalige Schweizer Heimkinder, die in kirchlich geführten Institutionen missbraucht wurden. Im politischen Ringen um einen Wiedergutmachungsfonds ist dieses Signal wichtig.

Der heutige Mittwoch ist für Guido Fluri, einst selber Heimkind, ein besonderer Tag. Ein Tag, der ihm Hoffnung gibt, wie er sagt. Seit Jahren kämpft der Unternehmer für die Wiedergutmachung des Leids, das die Vormundschaftsbehörden mit Zwangsmassnahmen Tausenden von Menschen zugefügt haben. Bis 1981 wurden in der Schweiz Kinder ohne Gerichtsbeschluss den Eltern weggenommen und in Heime gesteckt, Frauen zur Sterilisation oder Abtreibung gezwungen und Jugendliche ohne Schuldspruch in geschlossenen Anstalten «versorgt».

Heute Mittwoch nun reist Fluri mit zwei 67-jährigen Geschwistern, die als Kinder in kirchlich geführten Heimen in der Schweiz misshandelt worden sind, nach Rom, wo die Gruppe bei einer Generalaudienz mit Papst Franziskus teilnehmen wird. «Die Einladung kam vom Vatikan selbst.» Fluri hatte den Papst vor Weihnachten schriftlich darüber orientiert, dass in Bern am 19. Dezember die Wiedergutmachungsinitiative eingereicht werde – das Volksbegehren verlangt einen 500-Millionen-Fonds zur Entschädigung der schweren Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses «dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte». Kurz darauf lud der Heilige Stuhl zur Audienz nach Rom. «Für mich war das ein Zeichen, dass für den Papst die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle ein persönliches Anliegen ist.»

Das Parlament überzeugen

Die Reise nach Rom fällt in eine wichtige Phase der schweizerischen Wiedergutmachungsdebatte. Mit der im Dezember eingereichten Initiative hat Fluri dem Bundesrat einen substanziellen Gegenvorschlag abgerungen. Im Januar erklärte sich die Regierung bereit, die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen mit 250 bis 300 Millionen Franken zu entschädigen; noch vor der Sommerpause will sie dazu einen Gesetzesvorschlag in die Vernehmlassung schicken. Ob die Initiative am Schluss zurückgezogen wird, hängt aber davon ab, ob der bundesrätliche Vorschlag im Parlament eine Mehrheit findet. Genau daran arbeitet Fluri – und erhofft sich vom Signal aus Rom zusätzlichen Schub.

So soll der Besuch beim Papst «noch mehr Opfern den Mut und die Kraft geben, sich erstmals aus ihrer Isolation herauszuwagen», sagt Fluri. Auch in katholischen Institutionen kam es zu vielen Missbräuchen und Misshandlungen.

Die Einladung nach Rom soll «all diejenigen Kräfte stärken, die sich für Gerechtigkeit und letztlich für eine Wiedergutmachung einsetzen». Fluri denkt etwa an katholische Bundesparlamentarier, die noch wanken, und die Schweizer ­Bischofskonferenz, deren Engagement stark ins Gewicht fällt und die bereits mit ihrem Fachgremium Justitia et Pax im Unterstützungskomitee sitzt. Im Parlament unterstützen namhafte CVP-Vertreter das Anliegen, darunter Fraktionspräsident Filippo Lombardi und Barbara Schmid-Federer, die Schwester von Abt Urban, Vorsteher des Klosters Einsiedeln. Sie erhalten nun Support von der Parteispitze: «Ich bin grundsätzlich dafür, die Opfer finanziell zu entschädigen», sagt CVP-Präsident Christophe Darbellay. Die Verteilung der Gelder müsse aber gut organisiert sein. «Ein Giesskannenprinzip kommt nicht infrage.»

Ähnlich sieht es CVP-Nationalrat Markus Ritter. Der St. Galler, der den einflussreichen Bauernverband präsidiert, ist für das Anliegen der Wiedergutmachungsinitiative eine Schlüsselfigur. «Ich bin grundsätzlich mit einem Entschädigungsfonds einverstanden.» Ritter setzt sich für einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative ein, wie ihn auch der Bundesrat will. Viele Opfer seien alt. «Wir müssen rasch eine Lösung finden.» Gelingt es ihm und seinen Mitstreitern, nebst der Linken auch die Mitteparteien und eine Minderheit aus FDP und SVP zu gewinnen, wird sich das Parlament auf die bisher umstrittene finanzielle Entschädigung einigen.

Bauern fürchten Pauschalurteil

Das Parlament werde aber nicht darum herumkommen, klare Kriterien aufzustellen, wer alles eine Entschädigung erhalten solle, sagt Ritter. Neben Missbrauchsopfern, die zweifellos Schweres erlebt hätten, habe es auch Kinder gegeben, «die es gemessen an damaligen Verhältnissen gut hatten bei einer Bauern­familie». Viele Bauern kritisieren die Idee einer finanziellen Entschädigung. Sie befürchten, dass ihr Berufsstand, für den viele Verdingkinder arbeiteten, in der Öffentlichkeit pauschal verurteilt werde. Mit Ritters Engagement soll sich die Skepsis legen. In der SVP-Fraktion gibt es einzelne Bauernvertreter, die das Anliegen unterstützen, so die Nationalräte Max Binder und Hansjörg Walter. «Der Bund muss die Entschädigung übernehmen», sagt Binder. Er engagiere sich auch für die Wiedergutmachungsinitiative, um zu verhindern, dass am Ende die Bauern bezahlen müssten. Er geht aber davon aus, dass sich die SVP-Mehrheit gegen eine finanzielle Entschädigung stellen wird.

Volksabstimmung verhindern

Das Gleiche dürfte für die FDP gelten. Er hoffe, eine «qualifizierte Minderheit» seiner Fraktion für die Wiedergutmachung zu gewinnen, sagt FDP-Ständerat Joachim Eder, der im Initiativkomitee sitzt. Auch für ihn ist aber klar, dass das Parlament nur Geld spricht, wenn die Verteilung klar geregelt ist. Jeder Fall müsse von einer unabhängigen Kommission geprüft werden.

SP-Nationalrätin Ursula Schneider Schüttel, ebenfalls Mitglied des Initiativkomitees, wird es einfacher haben, ihre Fraktion zu überzeugen. Wie die Grünen dürfte die SP hinter dem Entschädigungsfonds stehen. «Die Diskussion darf sich aber nicht nur um das Finanzielle drehen.» Die historische Aufarbeitung und der Zugang zu Archiven sei für die Opfer genauso wichtig. Viele warteten darauf, «dass endlich einmal jemand öffentlich sagt: Du hattest recht. Dir wurde unrecht getan.»

Fast niemand sagt offen, warum eine Mehrheit im Parlament für den Gegenvorschlag auch noch wichtig ist: Kommt die Initiative vors Volk, drohen unappetitliche Auseinandersetzungen. Die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen könnten ein zweites Mal traumatisiert werden, wenn die Gegner den Wunsch nach Wiedergutmachung öffentlich kritisieren – und gleichzeitig unter den Opfergruppen ein Streit ausbrechen sollte, welche denn nun am meisten gelitten habe.




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