BishopAccountability.org
 
 

Zeit Ist Kein Ma? Fur Seriositat

Kirchen Zeitung
November 12, 2015

http://kiz-online.de/content/zeit-ist-kein-ma%C3%9F-f%C3%BCr-seriosit%C3%A4t

Der Arzt und evangelische Theologe Dr. Bernd Deininger therapiert seit fast 25 Jahren katholische Geistliche. Fur die Kirchenzeitung erklart er, wie ein Mensch zum Tater wird und warum es wichtig ist, die Opfer zu stutzen.

Der ehemalige Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen, soll einen Jungen uber mehrere Jahre hinweg schwer sexuell missbraucht haben. Viele der ehemaligen Weggefahrten sind schockiert. Hatten sie nicht etwas merken mussen? Wie konnte er nach au?en hin ein ganz normales Leben als Bischof fuhren?

Gerade Kleriker setzt an sich selbst so hohe moralische und ethische Anspruche, dass die Scham bei einem Fehltritt extrem massiv sein kann. Das kann sogar so weit gehen, dass Erinnerungen komplett aus dem Gedachtnis geloscht werden oder mit einer sogenannten „Deck- Erinnerung“ an ein schones Erlebnis ummantelt werden. Es gibt Madchen, die den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater so tief ins Unbewusste gedruckt haben, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnen. Denn der Vater muss ja ein guter Mensch gewesen sein. Auch ein Bischof kann als Tater die Taten soweit ins Unbewusste drucken, dass er sich selbst nicht mehr bewusst daran erinnern kann und nach au?en ein normales Leben fuhren kann. Er wird dann vielleicht andere Symptome korperliche oder seelischer Natur gehabt haben. Zum Beispiel eine Korperkrankheit wie Durchfall, sehr starker Bluthochdruck oder eine Herzkrankheit. An psychischen Krankheiten kommen Depressionen, Panikattacken und Schmerzkrankheiten oft vor, wenn Tater ihre Taten verdrangen. So oder so muss der Preis fur das Verdrangte, egal ob vom Tater oder Opfer, immer bezahlt werden. Viele meiner Patienten, die Kleriker sind und sexuell ubergriffig waren, kommen nicht wegen dem sexuellen Missbrauch zu mir in die Klinik. Sondern wegen Depressionen oder Panikattacken. Erst nach einigen Monaten Behandlung sto?en wir dann auf die verdrangten Erinnerungen.

Manche kritisieren, dass sich das Opfer erst jetzt nach so langer Zeit gemeldet hat. Der Bischof ist tot und kann sich nicht mehr wehren. Es gehe dem vermeintlichen Opfer nur um Geld und die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit.

Die Zeitspanne, nach der sich ein Opfer meldet, sagt gar nichts uber die Seriositat der Vorwurfe aus. Zum Beispiel begeben sich auch erst 70 Jahre nach dem Krieg Kriegskinder jetzt bei mir in Behandlung und erzahlen von ihren Traumata. Vieler meiner Patienten trauen sich erst dann zu sprechen, wenn die Tater verstorben sind, weil sie dann nicht mehr mit dem Tater direkt konfrontiert werden konnen. Die Scham ist sehr gro?. Gerade bei diesem konkreten Fall in den 50er und 60er Jahren war es zu der Zeit schwierig, sich der Familie oder anderen anzuvertrauen. Fruher wurde Vergewaltigungsopfern Vorwurfe gemacht, sie hatten es provoziert. Fur die Familien war ihr Ruf in der Offentlichkeit wichtiger als heute. Die Opfer wussten, dass sie keine Solidaritat zu erwarten hatten. Das ist zum Gluck heute anders. Ich sehe keinen Grund an den Schilderungen des Opfers zu zweifeln. Es ist kaum moglich, sich eine konsistente Missbrauchsgeschichte auszudenken. Daruber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass es noch mehr Opfer von sexuellen Ubergriffen durch den Bischof gegeben hat. Eigentlich ist die Triebkraft bei sexuellen Ubergriffen namlich zwischen dem zwanzigsten und drei?igsten Jahr am Gro?ten. Ich gehe daher davon aus, dass das nur die Spitze des Eisberges ist.

Wie ist ein Mensch uberhaupt dazu fahig, einem anderen so etwas anzutun? Noch dazu einem Kind, das der eigenen Fursorge anvertraut ist?

Dr. Bernd Deininger ist als Psychoanalytiker auf den Bereich der Therapie von sexuell ubergriffigen Klerikern spezialisiert. Foto: MVZ/ Pegnitz

Ich habe in all meinen Jahren Berufserfahrung kaum Tater kennengelernt, die nicht zuerst auch Opfer gewesen sind. Es gibt Ersttater, die zwar selbst keinen Missbrauch erlebt haben, aber in ihrer Entwicklung in einem kindlichen Stadium stehen geblieben sind. Sie konnen sich keine „erwachsene“ Beziehung vorstellen oder zutrauen, weil sie sich innerlich wie Kinder fuhlen und auch nur von Kindern verstanden fuhlen. Diese Form der Padophilie ist therapierbar. Eine andere Form der Padophilie ist so zu verstehen, dass sie genetisch angelegt ist und deshalb nur bedingt zu therapieren ist. Diese Form trifft aber nur auf etwa 10 Prozent der Falle zu. Der Rest, fast 90 Prozent, war selbst Opfer sexueller Gewalt in der Kindheit – bei den meisten spielt auch Inzest eine gro?e Rolle. Ich habe zum Beispiel gerade einen Pater in Behandlung, der ab seinem funften Lebensjahr immer wieder durch seinen alteren Bruder anal penetriert wurde. Bei einem anderen Fall vermutete der Tater, dass er der Sohn seines Gro?vaters war, der seine Mutter vergewaltigt hatte. Er hatte keine konstante Bezugsperson bis auf eine Tante, die ihn aber – wie er spater feststellte – als Schutzschild gegen sexuelle Ubergriffe durch den Gro?vater missbrauchte. Solche Dinge passieren nur in Familien, in denen die Mitglieder untereinander in ihrer Beziehung stark beeintrachtigt sind und darum emotionslos miteinander umgehen.

Trotzdem wird nicht jedes Opfer spater auch ein Tater. Gibt es psychologische Erklarungen, wie ein solches Verhalten erworben werden kann?

Meist wird eine solche Storung in der fruhen Kindheit entwickelt. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um ein Entwicklungsdefizit, das in den ersten funf bis sechs Jahren nach der Geburt erworben wird. Tritt ein Trauma im Leben eines Sauglings auf, bevor das Kind mit Sprechen anfangt, entwickelt das Kind spater einen Selbstwertkonflikt. Und mit Trauma meine ich sexuellen Missbrauch, Gewalt oder Vernachlassigung. Es gibt bestimmte Krankheitsbilder, die mit einem solchen Selbstwertkonflikt zusammen laufen konnen, wie Borderline- Storungen oder narzisstische Personlichkeitsstorungen. Ein Saugling braucht bis zum Spracherwerb eine positiv besetzte, verlassliche Bezugsperson, um sein eigenes gesundes Ich zu entwickeln. Forscher gehen davon aus, dass das Gefuhl fur das eigene Ich zusammen mit der Sprachfahigkeit entsteht und darum diese Phase miteinander zusammenhangt. Die meisten Kleriker, die sexuell ubergriffig geworden sind, haben einen Selbstwertkonflikt. Nach dem Spracherwerb beginnt die sogenannte „orale Phase“, in der das Kind sich von der einen positiv besetzen Figur in seinem Leben unabhangig macht und andere Personen entdeckt. Scheitert dieser Prozess aufgrund der oben genannten Faktoren und ist schon zuvor eine Schadigung eingetreten, kann ein Autonomie- Abhangigkeitskonflikt in der Psyche des Kindes entstehen. Suchte, Depressionen und Essstorungen haben oftmals hier ihre Wurzeln. Die meisten Tater, die ich therapiere, weisen haufig einen ungelosten Autonomie- Abhangigkeitskonflikt auf. Darum haben sie sich als Kinder selbst in Abhangigkeitsverhaltnisse zu Personen gesetzt, zu denen sie aufblicken konnten. Zum Beispiel als Ministrant zu einem Priester oder in der Schule zu einem Lehrer. Aufgrund der Schadigungen, die sie in den ersten Lebensjahren erfahren haben, bauen sich die spateren Tater Mechanismen auf, die sie lebensfahig machen. Sie tragen diese ungelosten Konflikte mit sich herum und wehren den Konflikt durch Verdrangen ins Unbewusste ab, bis sie in eine Notsituation kommen. Sei es Stress, sei es die direkte Konfrontation mit ihrem Tater. Ihre Abwehrmechanismen versagen und sie bilden ein Symptom aus. Oft suchen sie als Opfer dann Kinder aus, die ihnen selbst als Kind ahneln

Egal ob Bischof oder Priester: Fur viele Kleriker ist Gott, die Liebe zu ihm und der Glaube Lebensinhalt. Wie kann das mit sexuellem Missbrauch zusammen passen?

Viele Tater haben als Kinder erlebt, dass ihre Eltern keine emotionale Beziehung zu ihnen hatten. Ihnen wurde gesagt, dass sie storen. Dass sie abgetrieben werden sollten. Dass die Mutter den ganzen Tag die Treppe rauf und runter gesprungen ist, in der Hoffnung, dass das Kind stirbt. Franzosische Studien haben gezeigt, dass in einem solchen Fall der Fokus, die Suche nach einem dich liebenden Menschen, nach au?en auf einen imaginaren Punkt gerichtet werden kann. Eine symbolische Figur, die dich annimmt und liebt. Und fur Kleriker ist diese Figur oft Gott, der sie wie ein Vater umarmt und schutzt. Oft spuren Menschen, die eine psychische Problematik haben, dies unbewusst und suchen einen Rahmen, in dem sie sich auch als Au?enseiter aufgenommen fuhlen. Die Kirche gibt diesen Menschen den Raum, weil sie eine starke Integrationskraft hat. Skurrile Typen und Au?enseiter werden hier aufgenommen. Ahnlich ist es bei Tierpflegern im Zoo, die ihre Sehnsuchte auf Tiere ubertragen. Gott als den eigenen Vater anzusehen, verstarkt die Scham nach einem Ubergriff noch einmal. Gerade aufgrund ihres hohen Selbstanspruchs und der Liebe zu Gott, wird die Scham ubermachtig.

Hat das Zolibat irgendetwas mit sexuellem Missbrauch zu tun?

Der Hauptfaktor, der zu sexuellen Ubergriffen durch Kleriker der Katholischen Kirche fuhrt, ist die psychische Storung, die die Tater haben. Sicherlich macht das Zolibat es schwerer fur die Tater, Zugang zu ihrer Triebhaftigkeit zu finden und sich dem zu stellen. Ein Mensch muss meiner Meinung nach die Moglichkeit haben, sich sexuell aktiv verhalten zu durfen und Sexualitat nicht immer nur zu transzendieren. Hat er die nicht, macht es das fur ihn schwerer und noch schambehafteter, wenn etwas schief lauft. Aber als Hauptfaktor ist das Zolibat nicht zu begreifen.

Wie leben Opfer nach einem sexuellen Missbrauch weiter, wenn sie nicht selbst zu Tatern werden?

Viele der Opfer werden durch die Taten fur den Rest ihres Lebens beziehungsunfahig, erleben Sexualitat immer nur destruktiv. Sie konnen in einer Partnerschaft keine wahre Lebensfreude verspuren und leiden unter Depressionen oder Schmerzkrankheiten. Durch einen therapeutischen Prozess konnen sich die Opfer dem Erlebten stellen und analysieren, warum sie Opfer geworden sind. Opfer fuhlen oft ein extrem gro?es Schamgefuhl, weil sie unbewusst spuren, dass etwas an ihnen der Grund ist, warum sie Opfer geworden sind. Warum wird aus einer Gruppe von 20 Ministranten nur einer Opfer, aber die anderen nicht? Sie denken, dass das ihr Schicksal war und sie kein Recht haben, ihr Leid nach au?en zu tragen. Viele halten darum jahrzehntelang still und sagen nichts. In der Analyse stellt sich dann heraus, dass besonders oft Kinder Opfer geworden sind, die schon vor dem Missbrauch dazu geneigt haben, destruktiv zu sein oder sich zu unterwerfen und an Autoritaten zu glauben. Sie au?ern dann oft, dass sie sich auch schon immer, ahnlich wie die Tater, selbst als Au?enseiter gefuhlt haben.

Das Bistum Hildesheim versucht durch ein umfangreiches Schulungsprogramm sexuellen Missbrauch in kirchlichen Strukturen durch haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeiter zu verhindern. Wie kann man ihrer Meinung nach dieses Ziel erreichen?

Ich pladiere dafur, dass eine grundlegende Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie fur manche Berufsgruppen Pflicht sein sollte. Kleriker, Padagogen und Polizisten sind Berufsgruppen, bei denen ich das fur sinnvoll halten wurde. Pravention muss dahin gehen, dass in „Erst- Interviews“ und Gruppensitzungen alle Priesteramtskandidaten sich zunachst mit ihrem eigenen Leben auseinandersetzen. Bei einer Untersuchung mit elf angehenden Priestern wurde herausgefunden, dass nur zwei von ihnen ohne fruhkindliche Storungen waren und als nicht auffallig betrachtet werden konnen. Arbeitet man diese fruhkindlichen Storungen auf, kann man sich von den Defiziten befreien. Auf rund 60 Falle von sexuell ubergriffigen Klerikern, die ich therapiert habe, kommen bisher nur zwei Ruckfalle.

Fragen: Marie Kleine

Zur Person:

Dr. Bernd Deininger (Jahrgang 1946) ist Leiter der Klinik fur Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Krankenhaus Martha- Maria in Nurnberg und als Psychoanalytiker auf den Bereich der Therapie von sexuell ubergriffigen Klerikern spezialisiert.

 

 

 

 

 




.

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.