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Wie eine Zeitung die Kirche zum Hinschauen brachte

By Alexander Görlach
Die Welt
December 2, 2015

http://www.welt.de/vermischtes/article149525244/Wie-eine-Zeitung-die-Kirche-zum-Hinschauen-brachte.html

Eine Sonderausgabe des "Boston Globe" zum Rücktritt von Kardinal Law am 13. Dezember 2002

Eltern, an der Spitze Suzy Nauman, demonstrieren im Mai 2002 gegen die katholische Kirche von Boston

Die echten Journalisten des "Boston Globe", die den Skandal aufdeckten, posieren mit Regisseur Thomas McCarthy (Mitte): (v.l.): Ben Bradlee Jr., Mike Rezendes, Sacha Pfeiffer und Walter "Robby" Robinson

Michael Keaton und Mark Ruffalo bei der Premiere von "Spotlight" in Los Angeles

[with video]

2002 stießen Journalisten in Boston auf Erschütterndes: 80 Priester hatten sich, teils über Jahrzehnte, an ihren Schutzbefohlenen vergangen. Der Beginn des Missbrauchsskandals der katholischen Kirche.

Wenn man durch Bostons Straßen schlendert, fallen einem die vielen Kirchtürme auf, die der Stadt einen großen Teil ihrer europäischen Anmutung geben. Die Omnipräsenz der sakralen Architektur spiegelt die Bedeutung der katholischen Kirche in der Ostküstenmetropole wieder. Diese Türme sind nun die trutzigen und unheimlichen Statisten in "Spotlight", ein Dokumentarspielfilm, der den Missbrauchsskandal in der katholischen Erzdiözese von Boston zum Thema hat.

Vor knapp 15 Jahren stießen Journalisten des "Boston Globe" auf ein Nest aus sexueller Gewalt und Vertuschung: Geistliche, die sich an Kindern vergingen, und eine Öffentlichkeit, die weggeschaut hat. Spotlight, Suchscheinwerfer, ist der Name der Reportergruppe beim "Boston Globe" und der Titel des Films. Mit dem Streifen nun sind das Leid der Betroffenen und ihrer Familien zurück im Lichtkegel.

Rund 80 Priester, so finden es die Journalisten im Team von Reporterlegende Walter Robinson, gespielt von Michael Keaton, heraus, haben sich über mehrere Jahrzehnte an den Schutzbefohlenen in ihren Pfarreien und Schulen vergangen.

Es braucht einen Outsider

Dieser im Jahr 2002 bekannt gewordene Missbrauchsskandal hatte Sprengkraft über das beschauliche Boston hinaus. Überall in den Vereinigten Staaten gingen nach dem Bericht in der Zeitung Opfer von Missbrauch an die Öffentlichkeit. Das ist also ein explosiver, ein sensibler Stoff, den Regisseur Tom McCarthy, der auch das Skript zusammen mit Josh Singer geschrieben hat, nun als Mischform aus Spiel- und Dokumentarfilm auf die Leinwand bringt.

Der Film wählt keine Übertreibung, sondern geht mit den Journalisten den Weg der Recherche, minutiös, kleinteilig, bis am Ende die ganze Wahrheit auf dem Tisch ist: Der Missbrauch hatte System, die Kirchenoberen wussten Bescheid. Weil der Film so authentisch trocken ist, wie journalistische gründliche Arbeit sein kann, müssen die handelnden Charaktere durch den detailreichen Stoff tragen: Mark Ruffalo spielt den heißspornigen Journalisten Michael Rezendes. Er hat die Aufgabe, den kauzigen Opferanwalt Mitchell Garabedian (gespielt von Stanley Tucci) dazu zu bewegen, mit der Zeitung zusammenzuarbeiten.

Polizisten, die wissen, welches Spiel gespielt wird, Betroffene, die aus Scham schweigen, Anwälte, die Opfer und die Kirche vertreten und verschwiegene außergerichtliche Einigungen erzielen, und, auch das ist Teil dieser Wahrheit, eine Zeitung am Ort, die es jahrelang nicht wagt, gegen die mächtige katholische Kirche vorzugehen: In dieser Konstellation des Wegschauens fühlen sich die Glieder der Kirchenhierarchie sicher. Ins Rollen bringt die Enthüllungen der neue Herausgeber der Zeitung, Marty Baron, gespielt von Liev Schreiber ("Wolverine", "X-Men"), der nicht aus Boston kommt. "Es braucht einen Outsider", heißt es an einer Stelle im Film. Nur jemand, der nicht mit der Stadtgesellschaft verwoben ist, kann es sich leisten, den Honoratioren auf die Füße zu treten.

Erst Benedikt XVI. traf sich mit Opfern

Der neue Herausgeber war so sehr Outsider, dass den Bostoner Lokalmedien damals die Aussage, dass Baron der erste Herausgeber des "Globe" jüdischen Glaubens war, Meldungen wert waren.

Die Eruptionen in Boston erschütterten in Folge die gesamte katholische Welt. Die Sturheit des Herausgebers Baron und des Spotlight-Chefs Robinson, so lange zu recherchieren, bis klar würde, ob es sich um Einzelfälle oder Missbrauch mit System handele, war vom richtigen journalistischen Riecher getrieben. Auch katholische Einrichtungen in der Bundesrepublik waren betroffen. In der Folge der Berichte des "Boston Globe" wurden die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus vor der Weltöffentlichkeit gezwungen, sich des Themas Kindesmissbrauch anzunehmen.

Als Kardinal Ratzinger hatte der spätere Benedikt XVI. in seiner damaligen Rolle als Chef der Glaubenskongregation die Aufgabe, einen Maßnahmenkatalog zu erarbeiten, um straffällig gewordene Priester aus dem Dienst nehmen und an die Strafverfolgungsbehörden überstellen zu können. Dies geschah noch während des Pontifikats von Johannes Paul II., währenddessen allerdings Missbrauchsopfer selbst noch mit spitzen Fingern angefasst wurden. Benedikt XVI. war der Erste, der sich mit Opfern traf, Papst Franziskus setzte diese Begegnungen fort, jüngst wieder bei seinem USA-Besuch Ende September.

Die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten hat sich positiv über den Film geäußert. Durch die Arbeit der Journalisten sei schmerzlich ans Licht gekommen, was versteckt gewesen sei. Vor dem Abspann zeigen die Filmemacher eine Einblendung, in welchen Städten und Ländern es ebenfalls strukturierten, von der Kirchenhierarchie gedeckten, Kindesmissbrauch gegeben habe. Journalistisch korrekt verfehlt das seinen dramaturgischen Effekt nicht.

Wird ein Name aus dem Film geschnitten?

Die öffentliche Diskussion ist in den USA voll entbrannt, was ein Spielfilm, der dokumentarisch ist, oder ein Dokumentarfilm, der auf wahren Begebenheiten beruht, darf und was nicht: In dem Film wird ein Anwalt, der Fälle für die Kirche außergerichtlich regelte, in negativem Licht gezeigt. Ein Mitarbeiter einer katholischen Schule in Boston wird im Film so eingeführt, als habe er keine Aufklärung leisten wollen.

Jack Dunn wird mit seinem vollen Namen genannt, ein fiktiver Dialog wird ihm, der echten Person, in den Mund gelegt. Medienstimmen zufolge war Dunn aber einer der wenigen in Boston, der von Anfang an an einer Aufarbeitung der Missbrauchsfälle mitgewirkt hatte. Sein Anwalt versucht nun durchzufechten, dass der Name seines Mandanten aus dem Film geschnitten wird.

"Spotlight" kommt Ende Februar 2016 in die deutschen Kinos. Die katholische Kirche kann sich auch hier darauf einstellen, dass dann in der Bundesrepublik darauf geschaut werden wird, was geschehen ist, seit der Missbrauch 2010 von einer katholischen Berliner Schule zum ersten Mal thematisiert wurde. In den USA melden sich immer noch Opfervertreter zu Wort, die öffentlich kritisieren, dass die Kirche nicht vollumfänglich an der Aufklärung mitwirke.




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