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Die bösen Geister der Kindheit

By Simon Hehli
NZZ
January 26, 2016

http://www.nzz.ch/schweiz/aktuelle-themen/die-boesen-geister-der-kindheit-ld.4495

Im Institut Marini herrschte Zucht und Ordnung – und ein Klima, das den sexuellen Missbrauch beförderte.

Luftaufnahme des Schlosses Montet, das über zwanzig Jahre lang als katholisches Waisenheim diente.

[The evil spirits of childhood. Abuse has been uncovered in the Swiss Dioceses of Lausanne, Geneva and Freiburg.]

Die Aufarbeitung von sexuellen Misshandlungen an Kindern beschäftigt die katholische Kirche seit Jahren. Ein Historikerbericht hat nun im Bistum Lausanne, Genf und Freiburg eine weitere schmerzliche Geschichte ausgeleuchtet, die sich vor längerer Zeit abspielte. Im Zentrum steht das Waisenhaus und Pensionat Marini im Freiburger Broyebezirk. Dieses war von 1929 bis 1955 der direkten Verantwortung des Bistums unterstellt. Das Institut ist zwar seit 1979 geschlossen. Aber weil frühere Bewohner den heutigen Bischof Charles Morerod über ihre traumatischen Erfahrungen berichteten, veranlasste dieser eine detaillierte Untersuchung der Vorfälle.

Die Historiker haben sich durch die Archivbestände gearbeitet und mit vierzehn Zeitzeugen gesprochen. Ihr Résumé lautet: «Die Übereinstimmung der Zeugnisse und die Enthüllungen der Archive bestätigen, dass sich Misshandlungen sowie schwerwiegende und wiederholte sexuelle Missbräuche während der untersuchten Periode im Institut Marini ereignet haben, und dass die Hauptsorge der Verantwortlichen darin bestand, diese zu vertuschen.»

Uneheliche «Kinder der Sünde»

Im Heim lebten zum untersuchten Zeitraum über hundert Kinder und Jugendliche. Sie stammten vorwiegend aus einem schwierigen familiären Umfeld. Rund die Hälfte kam von ausserhalb des Kantons Freiburg; Gefühle der Angst, der Hilflosigkeit und des Trennungsschmerzes seien weit verbreitet gewesen, schreiben die Forscher. Viele der Kinder litten unter einer doppelten Stigmatisierung: Sie waren nicht nur arm, sondern auch noch unehelich zur Welt gekommen, also sogenannte «Kinder der Sünde». Für das Wohlergehen dieser Kinder interessierte sich die Gesellschaft kaum.

Die Heimbewohner mussten im landwirtschaftlichen Betrieb harte körperliche Arbeit leisten – auch weil das Institut pro Kind nur einen geringen Unterhaltsbetrag bekam. Zudem waren sie einem rigiden Disziplin- und Strafsystem unterworfen. «Die Kinder fürchteten vor allem die Brutalität gewisser Aufseher, welche demütigende öffentliche Sitzungen organisierten, wo die entblössten Kinder mit der Peitsche geschlagen wurden», steht im Bericht. Das Essen war karg, der Alltag monoton und von religiösem Gehorsam geprägt. Die Überwachung durch das Bistum war nachlässig und weil im Institut vor allem Berufsanfänger tätig waren, die einen raschen Jobwechsel anstrebten, gab es eine hohe Fluktuation. Das war für die Betreuung der Kinder nicht förderlich.

Missbrauch durch die Direktoren

In diesem Mikrokosmos konnte sich eine Kultur ausbreiten, die den sexuellen Missbrauch beförderte. Die Historiker haben für die Jahre von 1932 bis 1955 21 Fälle von sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen dokumentieren können – und elf nachweisbare Täter, darunter zwei aufeinanderfolgende Priester-Direktoren und zwei Institutsgeistliche. Schon damals gab es Beschwerden und Anzeigen, doch lediglich zwei Personen mussten sich in den 50er Jahren vor Gericht verantworten: ein Kleriker und ein Laienaufseher.

Für die Opfer waren die Folgen der Misshandlungen gravierend. «Für Kinder, die über sexuelle Fragen nichts wissen, sind die ersten Erfahrungen von Missbrauch äusserst destabilisierend, dies umso mehr als die religiöse Erziehung häufig eine immer wiederkehrende Sichtweise von Reinheit und Abscheu des Körpers vermittelt», schreiben die Studienautoren. Die Gefühle könnten so weit gehen, dass die Betroffenen «in Schande, Schmerz und mit totalem Verlust von Selbstvertrauen» glaubten, ihrem Peiniger anzugehören. Die Zeugen berichteten von ihrer eigenen Machtlosigkeit und damit einer totalen Asymmetrie der Beziehungen, weshalb die Historiker konstatieren: «Die Peiniger profitieren von ihrer Macht als Aufseher, ihrer Autorität als Lehrer oder vom Respekt und Gehorsam, die einem Mann der Kirche gebührt.»

Alles unter den Teppich kehren

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Sexualität noch weitgehend tabuisiert. Die Opfer schwiegen meist aus Scham – und wenn sie doch die Missetaten anprangerten, stiessen sie auf Unglauben. Gleichzeitig verfolgte auch die katholische Kirche die Strategie, alles unter den Teppich zu kehren. Wenn sich die Gerüchte nicht mehr einfach ignorieren liessen, wurde der fehlbare Priester versetzt, jedoch nicht weiter bestraft. Das oberste Ziel war es, den Skandal zu vertuschen.

Ein Teil der Opfer hat im Zusammenhang mit der Aufarbeitung zum ersten Mal über ihre weit zurückliegenden Erlebnisse berichtet. Die Historiker schreiben leicht pathetisch, einige Zeugen hätten dank ihrem Mut und ihrem Lebenswillen und manchmal auch dank ihrer Revolte vermocht, diese in der Kindheit erlebten Schwierigkeiten in einen Gewinn für ihr Leben zu verwandeln. Andere hätten sich an einige kurze Momente des Glücks in dieser gestörten Kindheit geklammert, um ein Lebensprojekt zu entdecken und zu verwirklichen. «Andere schliesslich ringen immer noch, um sich von den bösen Geistern ihrer Vergangenheit zu befreien.»




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