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Gute Stucke Zum Bosen Spiel

By Andreas Ohler
Zeit
January 30, 2016

http://www.zeit.de/2016/05/missbrauch-katholische-kirche-theater-berlin-kunst-kritik

Szenenfoto aus "Schlafe, mein Prinzchen", ein musikalischer Abend von Franz Wittenbrink, Urauffuhrung im Berliner Ensemble mit Dorothee Neff und Thomas Wittmann © Barbara Braun/Berliner Ensemble

Den neuesten Ermittlungsergebnissen zu den Misshandlungen bei den Regensburger Domspatzen zum Trotz: Mit dem Thema lasst sich in der Fluchtlingskrise kaum mehr ein ARD-Brennpunkt bestreiten. Mag sein, dass die Deutschen des Themas uberdrussig geworden sind seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsfalle an katholischen Schulen im Jahr 2010. Mag sein, dass demente oder tote Tater, finanziell ruhiggestellte Opfer und vernichtete Beweise wenig nachrichtentauglich sind. Zudem ist scheinbar viel passiert: Die Bistumer haben Untersuchungskommissionen eingerichtet. Allen ist klar: Seelische Schaden konnen nicht entschadigt werden, Opfer, die sich nicht abfinden konnen, konnen nicht abgefunden werden.

Wo die Offentlichkeit sich angeodet abwendet, springt dankenswerterweise das Theater in die Bresche: Sowohl im renommierten Berliner Ensemble als auch im Theater Bonn hatten in diesen Tagen Stucke Premiere, die den sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen zum Thema machen. Was kann Theater aufarbeiten, das Untersuchungskommissionen, Therapeuten und Gerichte nicht aufklaren konnen? Werden die Opfer nicht vorgefuhrt, indem sie auf die Buhne gezerrt werden?

Nein! Das Theater ist ein Raum der Vorstellungskraft. Dort konnen die Charaktere ihre Ambivalenzen ausspielen und auf der Buhne so widerspruchlich wirken, wie ihre Vorbilder in der Realitat sind, aber es nicht zeigen durfen. Da alles nur Spiel ist im Theater, konnen die verschiedensten Perspektiven durchgespielt werden. Auch die innere. Das Theater sieht in die Seelen der Menschen. Es stellt die Abgrunde heraus, die es dort findet.

Das Theater ist eine moralische Anstalt. Das glauben wir zumindest, seit es uns Friedrich Schiller eingeimpft hat. Seitdem tobt der Streit, was unter Moral zu verstehen sei. Ist das Theater, wie Schiller glaubt, eine "Schule der Sitten", eine "Verstarkung fur Religion und Gesetze", gerade dort, wo die Macht dieser Institutionen nicht hinreicht? Oder gilt das andere Schiller-Wort von der "Schule der praktischen Weisheit", die durch "Aufklarung des Verstandes die Irrtumer der Erziehung bekampft"?

Die Bistumer halten sich an den ersten Schiller-Satz und betreiben immer allerhand Aufwand, um Religion und Gesetze zu retten. Das Argument: Einzelne Verfehlungen innerhalb der Kirche besudeln Mutter Kirche nicht. Sie ist heilig. Auch im Bonner Aloisiuskolleg (AKO), wo jahrzehntelang Schuler missbraucht wurden, versuchten ehemalige Schuler mit einem offenen Brief das Renommee ihrer Schule zu retten. Damit fielen sie den Opfern in den Rucken. Laut Untersuchungsbericht hatte der Missbrauch System: 18 Ordensleute und zehn Mitarbeiter wurden als Tater identifiziert.

Der Theaterautor Thomas Melle, einst selbst Schuler am AKO, hat in der Werkstatt des Theaters Bonn sechs Jahre nach dem Skandal sein Stuck "Bilder von uns" auffuhren lassen. Es ist gro?es Theater auf kleiner Buhne. Warum? Weil es dort hinblickt, wo das Auge der Medien nicht hinreicht, und keine skandalsuchtige plumpe Nacherzahlung der Ereignisse liefert. Melle zeigt vielmehr den inneren Zwiespalt, mit dem sich Opfer herumschlagen mussen. Es wird deutlich, wie schwer es ist, sich sein Opfersein einzugestehen und beim Verdrangen nicht Schuld gegenuber anderen auf sich zu laden. Das namlich macht im Stuck ein ehemaliger Schuler, inzwischen erfolgreicher Talkmaster: Als er Nacktfotos von sich zugespielt bekommt, die sein einstiger Erzieher, ein Pater am Kolleg, aufgenommen hat, denkt der Medienprofi an Erpressung und verhort seine Mitschuler. Mehr noch: Ihn uberkommt die Angst, das Stigma des Missbrauchs konnte seinen Ruf beschadigen – wer will schon "du Opfer" genannt werden? Am Ende fuhrt die Rebellion gegen die eigene Betroffenheit zu einem weiteren Toten. Diese Dimension des realen Schreckens kann so eindeutig nur die Fiktion beleuchten.

Ahnlich im Berliner Ensemble. Dort behandelt der musikalische Abend "Schlafe, mein Prinzchen" von Franz Wittenbrink hochaktuell das Thema Missbrauch bei den Regensburger Domspatzen. Er zeigt in seinem Stuck die zerrissene Gefuhlswelt dieser Knaben zwischen Reinheit und Schmutz, glockenhellem Gesang und sadistischer Gewalt, herrlicher Kirchenmusik und falscher kirchlicher Herrlichkeit. Was fur eine Amplitude!

Beide Inszenierungen zeigen: Dem Missbrauch liegt oft ein missbrauchtes Bildungsideal zugrunde. Im Namen einer idealisierten Antike forderte im Aloisiuskolleg etwa ein Lehrer seine Schuler auf, hellenistische Junglingsposen nachzustellen – das sei Teil der asthetischen Erziehung! –, um sie anschlie?end nackt zu fotografieren. Er folgte ihnen in die Duschkabinen und kontrollierte ihre Hygiene: Der gesunde Geist ruhe nicht nur bei den Griechen in einem gesunden Korper. So verloren die Opfer nicht nur den Glauben an die Menschen, sondern auch den an die Kultur, in deren Namen solche Verbrechen verubt wurden.

Das Theater kann moglicherweise einigen Schulern den Glauben an eine Rettung durch Kultur zuruckgeben. Aber vielleicht ist das auch nur hehres Ideal.

 

 

 

 

 




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