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Gibt Es Eine Zukunft Fur Die Prugelknaben?

By Jurgen Herda
Onetz
February 3, 2016

http://www.onetz.de/regensburg-in-der-oberpfalz/politik/missbrauchsskandal-bei-den-domspatzen-gibt-es-eine-zukunft-fuer-die-pruegelknaben-d1193626.html

Domspatzen in "Jungvolk"-Uniformen auf dem Obersalzberg nach einem Konzert fur den "Fuhrer" 1938: (vorne von links) Reichsminister Bernhard Rust, Adolf Hitler, Theobald Schrems und Martin Miederer. Bild: Wikipedia/CC

Fur die einen war das Internat ein Ort des Terrors, fur die anderen eine pragende Schule des Lebens. Wie konnen die Erfahrungen der Domspatzen so weit auseinanderklaffen? In einem Kuratorium gehen jetzt Bistum und Opfer aufeinander zu.

Weiden/Regensburg. Die Fakten liegen auf dem Tisch. An den Zahlen, die Rechtsanwalt Ulrich Weber vorgelegt hat, kommt keiner vorbei: Nach seinen Hochrechnungen sollen zwischen 1953 und 1992 etwa 700 Buben im Etterzhausener Internat oder im Regensburger Gymnasium der Domspatzen korperlich oder psychisch misshandelt worden sein. Weber halt auch rund die Halfte der 67 vorliegenden Vorwurfe sexuellen Missbrauchs fur "hochstplausibel".

Die Offenheit, die der vom Bistum beauftragte Aufklarer bei seiner ersten Pressekonferenz an den Tag legte, hat Michael Sieber, Sprecher der Missbrauchsopfer, uberrascht: "Herr Weber scheint integer und in der Sache kompetent zu sein." Die Zahlen des Weidener Juristen halt er dennoch fur zu niedrig: "In meiner Internatszeit in den 60ern sind keine zehn Prozent ohne korperliche Strafe davongekommen." Viele hatten ihr Trauma tief in sich vergraben. Die Gruppe der Missbrauchsopfer, die sich im Juni 2010 erstmals in einem kleinen Kreis traf, sei dennoch bestandig angewachsen. Am Montag kam es zum ersten Aufeinandertreffen von Opfern und Verantwortlichen aufseiten der Kirche: Ein Beratungskuratorium mit sechs Opfervertretern, dem Bischof, Generalvikar Michael Fuchs, vier Mitgliedern des Stiftungsvorstands des Chors und zwei Mediatoren versuchten unter Leitung von Rechtsanwalt Weber Losungen auszuloten. Um mogliche Kompromisse nicht zu konterkarieren, wurde Stillschweigen vereinbart. Nur so viel: Die Gesprache verliefen konstruktiv und zielfuhrend, erklart Weber.

Szenenwechsel: "Die Berichterstattung uber die Domspatzen finde ich einfach unfair", argert sich Karl Unterstein, selbst Domspatz von 1940 bis 1944. Deutschlands altester Knabenchor werde nur noch in einem Atemzug mit Missbrauch erwahnt. Die Leistung des Internats gehe vollkommen unter. "Das haben die Domspatzen nicht verdient", sagt er. Erst vor kurzem habe er das Weihnachtskonzert besucht und sei hin und weg gewesen. Weltklasse kommt nicht von ungefahr.

Ich war sieben Jahre bei den Domspatzen und brauchte 14 Jahre, um die Erlebnisse wieder loszuwerden.

Sekundartugenden gelernt

Strenge Zucht im Dienst einer guten Sache? "Die Zeit bei den Domspatzen lehrte mich Punktlichkeit, Disziplin, Sorgfalt, Rucksichtnahme, Durchhaltevermogen und Verstandnis fur mein fast 40-jahriges Berufsleben", sagt der diplomierte Maschinenbauer aus Weiden. "Watschen, Kopfnusse und Ohrenziehen waren zwar Alltag." Als "Gewalt" wurde er diese korperlichen Zuchtigungen aber nicht beschreiben. "Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand geprugelt wurde", sagt er.

Eine Watschen hat noch keinem geschadet? Michael Sieber ordnet Untersteins Empfinden in die Verhaltnisse des Zweiten Weltkriegs ein: "Da hatte er es bei den Domspatzen wahrscheinlich besser, als irgendwo anders in diesem Land." In allen NS-Organisationen, wie Hitlerjugend oder bei den Flakhelfern, sei Gewalt an der Tagesordnung gewesen. Im Gegensatz zum Rest der Bevolkerung sei Hitlers Elitechor unter Leitung von Domkapellmeister Theobald Schrems gut versorgt gewesen. Dass "die alltaglichen Ohrfeigen" allerdings notwendig waren, um junge Menschen zu Flei?, Disziplin und Punktlichkeit zu erziehen, halt er fur eine Legende. "Man kann diese Sekundartugenden auch mit guten Argumenten vermitteln."

Zu sagen, "da sei mal einem die Hand ausgerutscht", sei grob verharmlosend: "70 Dritt- und Viertklassler mussten zweimal am Tag in Reih und Glied antreten", erinnert er sich an das pseudomilitarische Zeremoniell. "Ich kann warten", habe der damalige Direktor Johann Meier gesagt, wenn noch die kleinste Unruhe war. "Wenn ihm was nicht gepasst hat, hat er den Kopf so zurechtgeruckt, dann gab's eine Watschen, dass die Jungs in die Knie gingen - wenn einer weggezuckt ist, wurde richtig geprugelt."

Karl Unterstein halt solche Erinnerungen fur Nestbeschmutzung von "Weicheiern". Ihm selber habe die strenge Ordnung fur seinen spateren Beruf geholfen. "Es gab dort einen Zeitplan von sechs Uhr fruh bis zehn Uhr abends", sagt er. "Da lernte man Punktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und die Konsequenz, Dinge durchzuziehen." Als Chefingenieur fur die Union-Brauerei in Dortmund habe er die erworbene Prazision genutzt. Durchsetzungsvermogen brauchte er in seiner Tatigkeit fur Lowenbrau.

Seit gut 20 Jahren ist Unterstein Fordermitglied der Sangerknaben. Die Unterstutzung der Domspatzen beenden? Kam fur ihn nie in Frage. "Ich unterstutze die Domspatzen, weil es ein toller Chor ist."

Zukunft fur die Spatzen?

Michael Sieber kann bis heute kein Konzert der Domspatzen genie?en: "Ich musste daruber nachdenken, was bei diesen Jungs wieder alles schieflaufen konnte." Psychischer Druck sei nach wie vor gang und gabe." Reihenweise wendeten sich Eltern an ihn, die ihre Kinder aus dem Internat nahmen. "Als mir ein Junge seine Geschichte schilderte, sagte ich ihm: Du erzahlst meine Geschichte von vor 45 Jahren. Systematisch hat sich nicht viel geandert."

Nur wenn das Beratungskuratorium des Bistums zu einer schonungslosen Aufarbeitung wie in Kloster Ettal bereit sei, sehe er eine Chance fur die Zukunft der Domspatzen: "Wir haben alle zusammen jetzt schon mehr als 200 000 Euro investiert", sagt er. Ihn interessierten die angebotenen 2500 Euro als finanzielle Wiedergutmachung nicht. "Ich werde, wenn notig, alle privaten Mittel aufwenden, um so viel Wahrheit wie moglich ans Licht zu befordern."

 

 

 

 

 




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