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Eine Tickende Zeitbombe

Freitag
February 17, 2016

https://www.freitag.de/autoren/christian-fueller/eine-tickende-zeitbombe

Ehemaliger Domkapellmeister Georg Ratzinger (in schwarz) mit seinem Bruder Papst Benedikt XVI

Der Faktor liegt bei zehn. Jede Institution, die in Missbrauchsverdacht gerat, sollte sich diese Zahl vor Augen halten. Wer sexuelle Gewalt gegen Kinder nicht aufklart, der wird mit zehnfacher Wucht von den Spatfolgen bestraft. Als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass es bei den beruhmten Regensburger Domspatzen zu Schlagen und sexuellen Ubergriffen im Namen des Herrn gekommen war, da reagierte die Kirche, wie sie halt reagiert. Sie lie? sich missmutig auf eine interne Revision der Falle ein. Nach einem Jahr Suche fand sie 78 Betroffene und eine Handvoll Tater. Zur Veroffentlichung des Berichts lud sie nur ausgewahlte Presseleute ein. Und die Uhr begann zu ticken.

Jetzt, knapp funf Jahre spater, schatzt ein unabhangiger Aufklarer die Zahl der Opfer auf 700. Konkret nachweisen kann er bereits 231 Falle von korperlicher Gewaltanwendung und 50 Falle von sexueller Gewalt, sprich Missbrauch. Der Fall der Domspatzen macht deshalb so sprachlos, weil er die katholische Kirche bis hinauf zum Vatikan kontaminiert. Es gibt ehemalige Domspatzen, die den fruheren Domkapellmeister und Bruder von Papst Benedikt XVI. beschuldigen, ein Sadist zu sein. Sie beschreiben im Detail, wie brutal Georg Ratzinger zugeschlagen hat – und behaupten: Er kannte das System des sexuellen Missbrauchs, aber er klarte nicht auf. Mit dem Chef der Glaubenskongregation im Vatikan, Kardinal Ludwig Muller, sitzt der oberste Regensburger Halbaufklarer inzwischen an der Spitze der romisch-katholischen Inquisition. Ein bisschen mehr Inquisition im Namen der vielen Opfer unter den Domspatzen hatte man sich gewunscht.

Der Fall Regensburg ist aber keine katholische Besonderheit. Alle Institutionen, die sexuellen Missbrauch duldeten oder sogar propagierten, kennen die verschleppte Aufklarung. So war es an der Odenwaldschule, wo 1999 die ersten Berichte weggenuschelt wurden. Elf Jahre spater zwang eine Neuauflage des Skandals die Schule dann in die Knie. So war es bei den Grunen, die zwar im Jahr 2013 mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wurden. Aber in Berlin-Kreuzberg, dem Zentrum der Missbrauche, warten an die 1.000 Opfer immer noch darauf, anerkannt zu werden. Die Grunen haben inzwischen einige von ihnen entschadigt. Aber in den Annalen der Alternativen Liste tickt die Zeitbombe weiter. Sie wird, wenn sie einst explodiert, viele hinwegrei?en.

Was konnen die Institutionen lernen, was die Gesellschaft? Da helfen keine warmen Worte, sondern ein Blick auf den kalten und gnadenlosen Mechanismus der unabhangigen Aufklarung in Gro?britannien. Dort haben die Behorden im Fall des Radio-DJs Jimmy Savile gezeigt, wie man auch grausamste und verworrenste Systeme sexuellen Missbrauchs im Nachhinein grundlich ausleuchten kann: durch Kommissionen, die von au?en fachkundig besetzt werden, die Interviews von amtlich bestellten Ermittlern fuhren lassen – und zeitnah Berichte veroffentlichen. Durch diese offiziellen Dokumente hat jedes Savile-Opfer heute die Genugtuung, sagen zu konnen: Hier steht es schwarz auf wei?, ich wurde missbraucht, es ist geschehen. In Deutschland ist das weder an der Odenwaldschule noch bei den Grunen noch bei den Domspatzen moglich, ohne Verleumdungsklagen zu riskieren. Es ist fur die Opfer von gro?ter Bedeutung, diese Form von Anerkennung zu bekommen – wenn schon ihr Leben verpfuscht ist und die Tater wegen Verjahrung nicht belangt werden konnen. Gute Berichte konnen auch den Institutionen helfen. Denn wer nicht radikal aufklart, riskiert den Untergang.

 

 

 

 

 




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