BishopAccountability.org
 
 

Der Kampf Gegen Missbrauch Wird Noch Lange Dauern

Zeit
February 18, 2016

http://www.zeit.de/2016/06/kinderschutz-missbrauch-jesuit-wahrheit/komplettansicht

Alle diese Falle sind erschutternd. Besonders bewegt und emport aber hat mich die Geschichte von Marie Collins, meiner Kollegin in der papstlichen Kinderschutzkommission. Sie sprach auf unserem ersten gro?en Treffen an der Universitat Gregoriana 2012. Marie erzahlte, wie sie als 13-Jahrige von einem Kaplan missbraucht wurde, als sie im Krankenhaus lag. Ich wei? nicht, woher sie den Mut nahm, im Beisein ihres Mannes vor 120 Bischofen und 35 Ordensoberen die Ubergriffe des Taters zu beschreiben – dazu das Versagen der kirchlichen Stellen. Die trugen nicht nur dazu bei, dass Marie jahrzehntelang allein war mit ihrem Leid und sich sogar Selbstvorwurfe machte. Sie waren auch schuld, dass der Tater weitere Jugendliche missbrauchte.

Von vielen Bischofen habe ich gehort, dass die Begegnung mit Marie Collins fur sie ein Wendepunkt war. Von da an konnten sie die Opfer nicht mehr ignorieren. Doch weiter kommt Schreckliches ans Licht. Zuletzt: sexuelle Gewalt, die im Bistum Hildesheim verubt wurde, und verschiedene Arten von Missbrauch, unter denen Hunderte Domspatzen gelitten haben.

Hort das denn nie auf? Wie lange mussen wir uns noch emporen uber das, was Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche angetan wurde? Woher kommen Unwille und Unfahigkeit von Diozesanverwaltungen und Ordensleitungen, sich schnell und konsequent der Wahrheit zu stellen? Betroffene anzuhoren? Ihnen Recht zu verschaffen? Ich beobachte immer dieselben Muster von Vertuschung, Vermeidung, Verleugnung, Gegenangriff und Larmoyanz. Ja, auch jetzt, sechs Jahre nach der deutschen Aufklarungswelle zur sexuellen Gewalt in kirchlichen und nicht kirchlichen Institutionen, 14 Jahre nach dem Bekanntwerden der Skandale von Boston, 20 Jahre nach Irland und 30 nach Australien und Kanada.

Immer noch warten Betroffene jahrelang auf einen Bescheid, was aus dem kirchenrechtlichen Prozess geworden ist, den sie angestrengt haben. Weiterhin gibt es keine klare Verfahrensordnung, um katholische Bischofe oder Ordensobere zur Rechenschaft zu ziehen, die ihren rechtlichen Verpflichtungen zur Anzeige und Aufklarung von Missbrauch nicht nachkommen. Ich verstehe gut, wenn manchen Betroffenen der Mut sinkt, wenn innerhalb und au?erhalb der Kirche viele Menschen tief verstort sind.

Und dennoch. Was zuletzt aus meiner Heimatstadt Regensburg zu horen war, war eine gute Nachricht: dass die Diozese und die Stiftung Regensburger Domspatzen einen unabhangigen Rechtsanwalt beauftragt haben, alle Falle von Missbrauch aufzulisten. So unertraglich der Bericht fur die Betroffenen ist, so bitter auch fur die jetzige Kirchenleitung, endlich andert sich etwas.

Leider kommt diese Veranderung Jahre und Jahrzehnte zu spat. Noch gibt es in Regensburg solche, die das Unheil kleinreden. Aber ich denke an meine Kameraden aus der Grundschule, die spater das Domgymnasium besuchten und von deftigen Watschn und fliegenden Schlusselbunden erzahlten. Es ist gut, dass wir nun alles horen.

Vor einiger Zeit kamen Priester aus Suditalien zu mir, die entdeckt hatten, dass einer ihrer Mitbruder Jugendliche missbrauchte. Als sie dies dem Bischof anzeigten, wies er sie zurecht und verbot ihnen, daruber zu sprechen. Daraufhin gingen sie zur Polizei, doch deren Reaktion war: Was sagt der Bischof zu einer Anzeige? Der Fall hat mir deutlich vor Augen gefuhrt, wie schwierig Aufklarung dort ist, wo Kirche und Staat eine Symbiose eingehen, wo Korruption herrscht oder Autoritarismus.

Und es geht noch komplizierter. Als ich in Indien einen Vortrag hielt, vertraute sich mir danach unter Tranen eine Ordensfrau an. Sie leitete mehrere Waisenheime und hatte entdeckt, dass ein Erzieher – Sohn des Burgermeisters der Stadt und Hindu – Kinder sexuell missbrauchte. Vor ihrem Gewissen, vor dem Gesetz und auch gegenuber ihren europaischen Geldgebern ware sie verpflichtet gewesen, dies anzuzeigen. Doch sie konnte sich nicht dazu durchringen. Denn in ihrer Stadt leben 99 Prozent Hindus. Ginge die Katholikin zur Polizei, wurde die den Burgermeister informieren, der wiederum wurde eine Untersuchung gegen seinen Sohn abwenden und Gegenma?nahmen ergreifen. Die Furcht der Frau: eine Hetzkampagne gegen christliche Kinderheime oder die Schlie?ung oder gar Brandstiftung. Wie handelt man angesichts so eines Dilemmas?

Der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht zu schauen ist schwer. Dazu braucht man Mut und den Willen, etwas zu andern. Wenn kunftig Berichte uber Missbrauch vorgelegt werden – und es wird weltweit noch viele geben –, sind dies furchtbare Zeugnisse der Vernachlassigung menschlicher und christlicher Fursorge. Es sind aber auch Zeichen des Aufbruchs. Nur dort, wo die Eiterbeule aufgestochen wird, kann Heilung beginnen.

Jesus Christus wird auch als Arzt der Seele bezeichnet. Deshalb sollen sich Stellvertreter Christi auf Erden vor allem in den Dienst des Heilens und Versohnens stellen. Schon Papst Benedikt XVI. traf mehrfach Opfer von Missbrauch und ahndete einige eklatante Taten mit aller rechtlichen Konsequenz. Er verscharfte nicht nur das innerkirchliche Strafrecht, sondern forderte die katholische Kirche auf, sich an weltliches Straf- und Zivilrecht zu halten. Sein Entsetzen uber die Untaten von Priestern und uber die Versuche vatikanischer Behorden, die Priestertater zu schutzen, war ein Motor fur Veranderungen. So hielt die papstliche Universitat Gregoriana im Februar 2012 fur alle Bischofskonferenzen und Ordensgemeinschaften einen Kongress uber Missbrauch ab. Das ware ohne den Segen des Papstes unmoglich gewesen.

Alle Raume der Kirche mussen privilegierte Schutzraume sein

Papst Franziskus nun, dessen Herzensanliegen die Zuwendung zu den Kleinsten und Schwachsten ist, setzt neue Signale. Am sichtbarsten: die papstliche Kommission zum Schutz von Minderjahrigen, in der auch Betroffene mitarbeiten. Die Entstehung wurde im Dezember 2013 angekundigt, doch Ende Januar 2014 kam die scharfe Reaktion der UN-Kinderrechtskommission auf den viel zu spat eingereichten Report des Heiligen Stuhls, nun schien auf der Ebene der romischen Behorden alles blockiert. Bis wir bei Papst Franziskus Gehor fanden, dass rasches Handeln notig sei. Als Ubersetzer war ich dabei, als Franziskus sich im Sommer 2014 mit Betroffenen traf. Beruhrend war, dass er mich uber ein Jahr danach, im Oktober 2015, von sich aus fragte, wie es jenen gehe, mit denen er gesprochen hatte. Er hatte die Einzelnen klar vor Augen und beauftragte mich, Gru?e zu bestellen. Einem Mann sollte ich ausrichten, dass seine hinterlassene Postkarte der Pieta seither in der Gebetsecke des Papstes stehe.

Franziskus nennt die Kirche ein Feldlazarett, dessen Auftrag Barmherzigkeit sei. Doch uber die Missbrauchstater hat er mehrmals mit ungewohnlicher Scharfe geurteilt. Meine harteste Erfahrung mit Priestertatern ist, dass manche nicht nur abstreiten, Kinder missbraucht zu haben, sondern sich selbst als Opfer gerieren. Es gibt Tater, die meinen, dass ihnen Unrecht geschehe, weil sie den Opfern "nur Gutes tun wollten" oder weil diese mit dem Ubergriff "einverstanden waren". Die schlimmsten Tater, auch in der Kirche, sind Narzissten, denen jedes Gespur fur das Unheil, das sie anderen angetan haben, fehlt. Solchen Menschen zu begegnen ist schrecklich.

Ich furchte, es wird noch lange dauern, bis in der gesamten katholischen Kirche der Schutz von Minderjahrigen wirkt. Warum? Erstens wegen der schieren Gro?e und Vielfalt unserer Kirche. In Wahrheit funktioniert die gro?te Institution der Welt mit ihren gut 1,2 Milliarden Mitgliedern in etwa 200 Landern sehr dezentral. All die Schulen, Universitaten, Kindergarten und Waisenheime. All die kulturellen Unterschiede. Wie etwa in den asiatischen oder afrikanischen Gesellschaften das "Gesicht gewahrt" und "Autoritat geehrt" werden muss, macht Aufklarung nicht leicht.

In den letzten drei Jahren habe ich 30 Lander auf vier Kontinenten besucht, war eingeladen von Bischofskonferenzen, Ordensoberen, Universitaten. Meist gab es wenig Vorwissen zum Thema Missbrauch, aber gro?es Interesse. Zuweilen auch Abwehr. Im Herbst 2012 in Budapest teilte die kirchliche Hierarchie dem Veranstalter mit, meine Vortrage sollten nur im kleinen Kreis stattfinden. Und im Juli 2015 wollte der Veranstalter in Kigali, Ruanda, nicht, dass im Titel meiner Vortrage von "sexuellem Missbrauch" die Rede war. Wie sich herausstellte, wollten die Teilnehmer jedoch genau daruber sprechen. Ahnlich erging es mir im polnischen Krakau. Und bei einer Konferenz in Mexiko-Stadt erzahlten mir Priester, dass sie zwar in den USA an jahrlichen Fortbildungen zur Missbrauchspravention teilnahmen, den Sinn aber kaum verstanden. Das lag an der puritanischen Art, wie Sexualitat und Emotionen verklausuliert wurden.

Wir mussen also verschiedene Sprachen sprechen, wenn wir wirksam sein wollen. Und wir mussen die typischen Widerstande einer gro?en Institution gegen Veranderung und gegen Kritik an ihren Reprasentanten uberwinden. Die katholische Einstellung lautet oft noch: "Das losen wir unter uns. Das konnen nur wir wirklich verstehen." Hinzu kommt die Unsicherheit beim Thema Sexualitat und eine einseitige Vorstellung von Barmherzigkeit gegenuber Tatern. Dies sind die Wurzeln der systemischen Unfahigkeit unserer Kirche im Umgang mit sexueller Gewalt – aber auch die Grunde fur das Versagen in anderen sensiblen Bereichen, etwa beim Umgang mit Geld. Alle Christen und besonders die kirchlichen Amtstrager sollten sich auf Jesus besinnen: Ihm ging es zuerst um den anderen Menschen, nicht um sich selbst und sein Wohlergehen.

Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch wird noch lange dauern. Dabei mussen wir Abschied nehmen von der Illusion, dass blo?e Regeln und Leitlinien genugen. Wir brauchen echte Umkehr: Gerechtigkeit fur die Opfer und umfassende Pravention mussen gewollt sein. Sie durfen nicht als lastig abgehakt werden, sobald die Offentlichkeit wieder wegschaut. Alle Raume der Kirche mussen privilegierte Schutzraume sein. Warum ist es so schwer, diese Botschaft zu vermitteln? Weil es schmerzt, sich einzugestehen, wie viel Leid ausgerechnet Vertreter der Kirche den Jungsten und Verwundbarsten angetan haben. Wie viel Widerstand herrschte, wie viel Feigheit, blo? um ein "unbeschadetes" Bild der Kirche zu erhalten.

Erst jetzt machen sich die Kirchen Osteuropas auf den Weg der Aufklarung. In Afrika und Asien kommt etwas hinzu, was wir im Westen leicht ubersehen: Dort erleiden Kinder und Jugendliche vielfaltigen Schmerz. Sie haben kein sauberes Trinkwasser, sie hungern, sie schuften bis zur totalen Erschopfung, werden Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Krieg. In dieser Gewaltwelt ist sexueller Missbrauch kein isolierbares, einzigartiges Verbrechen, sondern Teil des umfassenden Elends der Kinder. Als ich dem Vorsitzenden der philippinischen Bischofskonferenz dazu gratulierte, dass er ein nationales Buro fur Kinderschutz einrichtet, entgegnete er sofort, safeguarding of minors musse mehr Bereiche umfassen als "nur" die Verhinderung sexueller Gewalt.

Doch auch dies sei erwahnt: Die katholische Kirche ist in vielen Landern die einzige gesellschaftliche Institution, die sich fur den Schutz der Kleinsten einsetzt. Darauf konzentriert sich seit 2012 das Centre for Child Protection. Es wurde mithilfe der Erzdiozese Munchen und der Deutschen Bischofskonferenz nach einer dreijahrigen Pilotphase in Rom angesiedelt. Das Zentrum will kunftige Verantwortungstrager der Kirche dafur sensibilisieren, dass Aufarbeitung, Intervention und Pravention von Missbrauch notig sind. Deshalb kooperieren wir auf vier Kontinenten mit Ausbildungsstatten der Kirche. Wir bieten ein E-Learning-Programm an und hoffen auf die Absolventen eines Diplomkurses, der jetzt an der Gregoriana startet. Derzeit wird in Rom auch die Ausbildungsordnung fur Priesterseminare revidiert. Ich erwarte, dass "menschliche Ausbildung" und "Missbrauchspravention" darin verankert werden.

Oft kommt es mir vor, als seien meine Arbeit und die meiner Kollegen kleine Steine, die wir in einen Ozean werfen. Wir hoffen, dass die Wellen sich ausbreiten. Das betrifft auch die Selbstreflexion der Kirche. Bis vor Kurzem gab es in der katholischen Theologie fast keine Auseinandersetzung mit Fragen, die der innerkirchliche Missbrauch aufwirft: Welche Rolle spielen Laien als "Wachter" uber das kirchliche Handeln? Wie heilen wir das Trauma jener Glaubigen, die von Priestern missbraucht wurden und nun an allem zweifeln? Erst allmahlich beginnen Theologen, die Realitat des Missbrauchs zu reflektieren.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich als Psychotherapeut auch selbst Hilfe brauche. Naturlich. Ich bekomme sie in der Supervision, durch Freunde und sehr viele Unterstutzer. Unverzichtbar ist mir das Gebet – und das Wandern in den Bergen. Ich durfte erleben, dass Betroffene sich mit der Passion Jesu identifizieren und trotz allem an Erlosung glauben. Ich wei? nicht, wie viele Menschen dazu imstande sind. Mich bestarkt, wenn die zutiefst Verletzten ins Leben zuruckfinden und nicht mehr "Opfer" genannt werden wollen.

Und die Tater? Die Offentlichkeit findet es unertraglich, wenn die schwerste Kirchenstrafe, die einen Priester treffen kann, die Entlassung aus dem Priesteramt, also die Laisierung ist. Es gibt aber noch ein anderes Problem: Die automatische Entlassung aus dem Dienst der Kirche kann das Risiko weiterer Gewalttaten erhohen. In vielen Orden verlieren deshalb Tater zwar ihre priesterlichen Funktionen, bleiben aber in Hausern des Ordens – schlie?lich muss der Orden seiner Pflicht nachkommen, sie an weiterem Missbrauch zu hindern.

Und wann hort das auf? Hort das nie auf? Widerstand gegen die Aufklarung von sexuellem Missbrauch wird es immer geben. Doch davon durfen wir uns nicht irremachen lassen. Das sind wir den Kindern schuldig – jenen, deren Leben durch Missbrauch zerstort wurde, und jenen, die sicher und glucklich aufwachsen wollen.

Papst Franziskus kritisiert US-Einwanderungsgesetze

Bei einer Massenpredigt vor 250.000 Menschen in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad de Juarez, hat sich Papst Franziskus kritisch zur Einwanderungspolitik der USA geau?ert: "Ein Schritt, ein Pfad gepflastert mit schrecklicher Ungerechtigkeit, Sklaverei, Kidnapping und Vernichtung.“, sagte er in Juarez.

 

 

 

 

 




.

 
 

Any original material on these pages is copyright © BishopAccountability.org 2004. Reproduce freely with attribution.