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Pädophile Priester und das Schweigen der Schafe

By Lucas Wiegelmann
Welt
February 24, 2016

http://www.welt.de/kultur/kino/article152593856/Paedophile-Priester-und-das-Schweigen-der-Schafe.html

"Ich bin hier, weil ich die Sache ernst nehme": Reporterin Sacha Pfeiffer trifft sich immer wieder mit dem Leiter einer Missbrauchsopfer-Vereinigung – aber der fürchtet, dass seine Informationen am Ende sowieso unter den Teppich gekehrt werden. Es wäre nicht das erste Mal

Der Informant: Reporter Michael Rezendes (Mark Ruffalo) trifft den misstrauischen, aber extrem gut informierten Opferanwalt Mitchell Garabedian. Den gibt es übrigens wirklich. Im Film wird er gespielt von Stanley Tucci

Was werden die katholischen Abonnenten sagen? "Robby" Robinson (Michael Keaton, links) und sein Kollege Michael Rezendes (Mark Ruffalo)

[with video]

Der Film "Spotlight" mit Michael Keaton feiert die Reporter, die den Missbrauchsskandal der Kirche in Boston aufdeckten. Der Cast sieht aus wie bei einem Comic-Film. Aber Superkräfte hat hier keiner.

Stellen Sie sich vor, Ihr Pfarrer kommt morgen zu Besuch. Stellen Sie sich nicht irgendeinen Priester vor, einen gesichtslosen Mann mit schwarzem Hemd und weißem Kragen, sondern wirklich Ihren Pfarrer. Den Mann, den Sie vielleicht hin und wieder im Gottesdienst sehen. Der vielleicht Ihre Kinder getauft hat oder jedes Jahr auf dem Adventsbasar das Waffeleisen bedient oder vor einiger Zeit nach dem Tod Ihres alten Schulfreundes eine tröstliche Rede gehalten hat.

Vielleicht haben Sie sogar irgendwann schon einmal bei ihm gebeichtet. Vielleicht ist es schon Jahre oder Jahrzehnte her, und als Sie fertig waren mit Ihren bescheidenen Vergehen, mit dem Neid auf den Mercedes des Nachbarn oder mit den unprofessionellen Gedanken, die der Anblick ihrer hübschen neuen Kollegin in Ihnen hin und wieder auszulösen pflegt, hat der Priester Ihnen die Absolution erteilt, nicht mit Worten, sondern mit seinem Wesen, mit seiner Aura, er war die Mensch gewordene Vergebung. Er hat Ihnen die Hand auf die Stirn gelegt. So etwas tun sonst nur Mütter, wenn ihr Kind Fieber hat. So eine Berührung war das.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass dieser Mann ein Schwerverbrecher ist?

Eines der Missbrauchsopfer im Film "Spotlight", ein dicker Mann Mitte 30, erzählt einmal, wie sein Pfarrer nachmittags zum ersten Mal bei ihnen zu Hause war und wie glücklich ihn das gemacht hat. "Es war", sagt der dicke Mann, "als wäre Gott vorbeigekommen."

Die Kirche: Mitwisserin, Beihelferin

Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, dass die Vorkommnisse des Berliner Canisius-Kollegs in Deutschland den Missbrauchsskandal der katholischen Kirche ins Rollen brachten. In anderen Ländern kam die Sache schon etwas früher heraus. Priester waren massenhaft sexuell übergriffig gewesen, und die Bürokratiemaschine Kirche vertuschte einen Fall nach dem anderen mit kaltblütiger Akribie.

Indem sie die Täter diskret immer und immer wieder in neue Gemeinden versetzte, ließ sie bereits entstandenes Unrecht ungesühnt – und ermöglichte immer neues Unrecht. Die katholische Kirche: Mitwisserin. Beihelferin. Über Jahrzehnte, weltweit.

Im Film "Spotlight" geht es um den Missbrauchsskandal in Boston 2002. Er gilt als dringender Oscar-Kandidat, ist unter anderem als "Bester Film" nominiert. "Spotlight" tut so, als würde er erzählen, wie Journalisten damals das schreckliche Geheimnis lüfteten, wie das Schweigen der Täter und der Opfer endlich gebrochen wurde. Aber eigentlich geht es um etwas ganz anderes, etwas Wichtigeres. Es geht um die Frage, wie das Schweigen nur so lange halten konnte.

Walter "Robby" Robinson hat als Chefreporter ein privilegiertes Leben beim "Boston Globe". Er ist dispensiert von den lästigen morgendlichen Redaktionskonferenzen, deren Länge in keinem guten Verhältnis zu ihrem Ertrag steht (ein Phänomen, das es glücklicherweise nur im Film gibt). Er kann es sich leisten, monatelang keinen einzigen Artikel zu liefern. Er ist sein eigener Herr.

Wenn nicht heute, dann eben morgen

Robby, gespielt von Michael Keaton, leitet das Investigativteam des "Globe", das sich, etwas melodramatisch, "Spotlight" nennt, "Scheinwerfer". Es soll Licht ins Dunkel bringen in alle möglichen Missstände, die in einer amerikanischen Großstadt so anfallen. Robbys "Spotlight"-Team besteht aus drei Reportern, die Storys über Baupfusch, Vetternwirtschaft im Rathaus oder Umweltsünden der Industrie recherchieren, meistens von ihrem kleinen Gruppenbüro aus.

Nicht, dass sie nicht engagiert wären. Aber ihre gemütliche Abgeschiedenheit und die Befreiung von allen Deadlines haben "Spotlight" über die Jahre sichtlich eingelullt. Sie lassen es ruhig angehen. Wenn ein Skandal heute noch nicht fertig aufgedeckt ist, dann eben morgen.

Die Gemütlichkeit wird allerdings gestört, als ein neuer Chefredakteur das Regiment beim "Globe" übernimmt. Die Geschäftsführung hat einen harten Hund gesucht, der den träge gewordenen "Globe" mal wieder ein bisschen auf Vordermann bringt, und war mit Marty Baron fündig geworden, einem Außenseiter: kein Stallgeruch, als Karrierist verschrien, mürrisch, knurrig, unverheiratet, Jude und, was das Verdächtigste an ihm ist, ohne jegliches Interesse an Baseball. Für einen Journalisten und für einen Chef gleichermaßen ist Baron geradezu unglaubwürdig wortkarg. Sein durchschnittliches Tagesredepensum würde locker in einen Twitter-Post passen.

Darf man die Kirche verdächtigen?

Als eine seiner ersten Amtshandlungen bestellt Baron den Investigativ-Chef Robby ein. Warum "Spotlight" eigentlich nie in den Skandal um einen katholischen Priester in Boston eingestiegen sei, der über Jahrzehnte hinweg 80 Kinder missbraucht hatte? Robby versteht nicht recht. Der Fall ist abgeschlossen, der Priester verurteilt. Was gibt es da noch zu recherchieren?

Baron vermutet, ein Vorgang dieser Größenordnung müsse in der Kirchenhierarchie bekannt gewesen sein, wer weiß, vielleicht habe sogar der mächtige Kardinal von Boston persönlich davon gewusst.

Die "Spotlight"-Reporter machen sich an die Arbeit, bemühen sich um Akteneinsicht bei der Erzdiözese Boston, leiern den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer an, treffen einen Opferanwalt. Aber die rechte Begeisterung will sich anfangs nicht einstellen. Die Journalisten sind es gewohnt, korrupten Politikern oder skrupellosen Geschäftsleuten hinterherzuschnüffeln. Darf man einen Kardinal verdächtigen? Noch dazu in Boston, einer katholischen Hochburg in den USA?

Einmal fragt ein altgedienter "Globe"-Journalist den neuen Chefredakteur, was sie denn nur damit gewinnen wollten mit der Kirchenjagd? 53 Prozent ihrer Abonnenten seien doch katholisch. Baron nuschelt zurück: "Ich denke, die wird unsere Story besonders interessieren."

Viele Comic-Stars, aber kein Superheld

Der großartige "Spotlight"-Cast ist ganz offensichtlich in der Mittagspause einer gut besuchten Comic Convention zusammengestellt worden. Michael Keaton war nicht nur 2015 ein Comedy-"Birdman", sondern hat vor mehr als zwanzig Jahren schon mal Batman gespielt. Liev Schreiber, der den harten neuen Chefredakteur spielt, war bei "X-Men Origins" dabei, Mark Ruffalo, einer der "Spotlight"-Reporter, ist der Hulk der "Avengers"-Reihe, und selbst John Slattery recherchiert ein bisschen mit, der Vater von Robert Downey jr. in "Iron Man".

Und doch ist im ganzen "Spotlight" kein einziger Superheld zu sehen. Actionszenen gibt es keine, und die Guten sind, neben einer hübschen, etwas zu betroffen dreinblickenden Journalistin (Rachel McAdams), ein paar Männer in den besten Jahren, in Schlabberhemden und ausgebeulten Anzughosen. Übermenschliche Kräfte haben sie nicht, sie haben ja nicht mal besonders gute Kontakte. Anstatt brisante Umschläge im Halbdunkel einer Tiefgarage entgegenzunehmen, leihen die Reporter Bistumsstatistiken in der Stadtbibliothek aus.

Journalisten am Telefon, Journalisten in Vorzimmern, Journalisten auf der Besuchertribüne eines Gerichtssaals. Wie Regisseur Tom McCarthy aus dieser Büroklammerparade ein echtes Drama gemacht hat, wird sein ewiges Geheimnis bleiben; kein Wunder, dass er für den Regie-Oscar nominiert ist.

Der Link zum Kardinal

Von Hintergrundgespräch zu Hintergrundgespräch sehen die "Spotlight"-Leute klarer: Der verurteilte pädophile Priester von damals war kein Einzelfall. Es gab Dutzende wie ihn. Einen davon, einen alten grauen Mann, längst pensioniert, bringt die Reporterin sogar zum Reden, an der Haustür.

Er habe kein schlechtes Gewissen, sagt der alte Priester. Weil die Jungen sich nie gewehrt hätten. "Das waren doch keine Vergewaltigungen. Ich kann das beurteilen, ich wurde als Kind selbst vergewaltigt."

Irgendwann bietet sich auch die Chance, eine direkte Verbindung zum Kardinal herzustellen. Aber die wahre, die wirklich erschütternde Erkenntnis der Journalisten, ihre eigentliche Story besteht darin, wie leicht man der Kirche ihre monströse Vertuschungsaktion gemacht hat.

Alle schwiegen. Auch normale Gläubige, auch Juristen, auch Politiker, auch Journalisten. Aus Angst vor Gegenwind? Aus falscher Rücksicht auf die Kirche? Sicher auch. Aber viele sagten einfach deshalb nichts, weil sie, sobald es entsprechende Hinweise oder Gerüchte gab, an ihren eigenen Pfarrer denken mussten. Den Mann, den sie hin und wieder im Gottesdienst sahen oder der ihre Kinder getauft hatte.

Vielleicht verheimlichten sie gar nichts. Vielleicht konnten sie es einfach nicht glauben.




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