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Sisyphos vor dem Aktenberg

By Tim Slagman
NZZ
February 24, 2016

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Redaktions- und Krisensitzung des Investigativ-Teams «Spotlight» der Zeitung «Boston Globe».

[with video]

Nur ein einziges Mal platzt jemandem der Kragen: «Es ging um Kinder, und Sie haben es einfach zugelassen», brüllt Michael Rezendes seinem Boss entgegen, dem Leiter des Investigativ-Ressorts «Spotlight» beim «Boston Globe». Dessen Team gewann 2003 den Pulitzerpreis für seine Recherchen zu Fällen von sexuellem Missbrauch in den Institutionen der katholischen Kirche – Dutzende von Vergehen alleine in der Erzdiözese Boston, die jahrelang systematisch vertuscht wurden. Rezendes' Wutanfall ist also absolut verständlich, womöglich sogar notwendig, und dennoch eine bemerkenswerte Anomalie in dem Film von Tom McCarthy, der die Geschichte dieser Enthüllung nacherzählt.

Ein Schauspielerfilm

McCarthy, der gemeinsam mit Josh Singer auch das Drehbuch verfasst hat, mag keine Heldengeschichten, kein Skandalpathos. Er hat 2003 in seinem Langfilmdebüt «Station Agent» den «Game of Thrones»-Star Peter Dinklage entdeckt. Doch McCarthy hat kein Interesse am Epischen, an der grossen Geste. Der Regisseur, der auch als Schauspieler arbeitet und in der legendären Krimiserie «The Wire» ausgerechnet einen betrügerischen Reporter gespielt hat, macht Filme für Schauspielkollegen – und für Antihelden.

Seine Darsteller animiert er dabei häufig zu Performances, die quer zu deren Rollenbiografien liegen. Mark Ruffalo, der zornige Rezendes, gehört zu den grossen Sanften des amerikanischen Kinos. Hier lädt er sich eine Gespanntheit, eine unterschwellige Aggression auf den krumm gehaltenen Rücken, die selten bei ihm zu sehen war, und verdiente sich so eine der sechs Oscar-Nominierungen des Films – auch seine Kollegin Rachel McAdams und Regisseur und Autor McCarthy sind in ihren jeweiligen Kategorien im Rennen. Liev Schreiber hingegen wurde übersehen: Ihm hat McCarthy das markig Militärische, das ihn in vielen Genrefilmen ausgezeichnet hat, ganz ausgetrieben. Als neuer Chefredakteur jüdischen Glaubens, der das Investigativ-Ressort des «Globe» erst auf die Kirchen-Story stösst, versteckt er wachen Geist und raubtierhaften Instinkt – den Ruf eines knallharten Sanierers bringt dieser Marty Baron mit nach Boston.

Es musste also erst ein Aussenseiter kommen, um die verkrusteten Verhältnisse in dieser Stadt aufzuwühlen. McCarthy stammt aus einer streng katholischen Familie und besuchte das jesuitische Boston College, beteuert aber, sein Film sei Ergebnis intensiver Recherche und kein autobiografisch gefärbter Erfahrungsbericht. Masanobu Takayanagi, der 1996 aus Japan in die USA einwanderte, filmt für ihn ein Boston, das sich nur selten der Pracht neuenglischer Alleen hingibt, sondern das in Dialogen und Redaktionsbüros entsteht: Es wird viel geredet in «Spotlight». Um juristische Winkelzüge geht es da etwa, die der Kirche scheinbar erlauben, belastende Dokumente unter Verschluss zu halten. Bei der Aussicht, die Diözese verklagen zu müssen, verfallen altgediente Redaktoren des «Globe» in Schnappatmung – Baron tut es natürlich trotzdem. Genauso geht es um die berüchtigte Verschiebetaktik, mit der straffällig gewordene Priester in neue Gemeinden versetzt und dem Zugriff des Gesetzes entzogen wurden – ein tiefes Abtauchen in die Papierberge der Kirchenbürokratie bedeutet dies für die Journalisten.

McCarthy vertraut auf die Sprengkraft seines Stoffs, die keiner künstlichen Dramatisierung bedarf. Dabei ist es leicht zu übersehen, dass er eigentlich einen Historienfilm der Zeitungsbranche gedreht hat: 2001 begannen die Recherchen in der Sache, als sich noch kaum ein Verleger einen Internetauftritt leistete und journalistische Ermittlungen wesentlich aus dem Sichten von Akten bestanden. Beinahe geht es dem «Spotlight»-Team durch die Lappen, dass das Thema tatsächlich schon Jahre zuvor auf den Redaktionstischen gelegen hatte. Die Sache verlief damals im Sande – fehlbar sind in diesem Film auch die Ankläger, aus deren Perspektive McCarthy erzählt. Damit unterscheidet sich seine Arbeit deutlich von Filmen wie «Doubt» (2008) oder der deutschen Produktion «Verfehlung» (2015), die sexuellen Missbrauch als innerkirchliche Zerreissprobe thematisierten.

So interessiert sich McCarthy wenig für das so komplizierte wie einzigartige Selbstverständnis der Kirche zwischen göttlichem und weltlichem Auftrag. Nur in wenigen Szenen kommen die Opfer zu Wort, was aber in der Tat eher Auftrag eines Dokumentarfilms wie Alex Gibneys «Mea Maxima Culpa» (2012) wäre als der einer fiktionalisierten Produktion. Die filmischen Vorbilder von McCarthy sind anderswo zu suchen, in all den Geschichten von unbeugsamen Journalisten, die versuchen, die Mächtigen mit der Wahrheit zu Fall zu bringen – eine erzählerische Konstellation, für die Alan J. Pakulas Watergate-Klassiker «All the President's Men» aus dem Jahr 1976 immer noch die bedeutendste Referenz ist.

Nüchtern, ohne Pathos

Das mythologische Element des heldenhaften Wahrheitssuchers ist McCarthy allerdings egal: Im Kellerbüro wird weiter gewühlt, doch dass der Kampf gegen das anbrechende Zeitalter der schnellen Klicks ein vergeblicher sein wird, mag nur eine melancholische Projektion des Zuschauers von heute sein. Umgekehrt verbietet sich McCarthy, die kurzen Momente des Glücks zu feiern, die seine schreibenden Sisyphosse empfinden in einer Geschichte, die mit grosser Nüchternheit vom Leid erzählt.




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