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Der Wahre Lohn Unserer Arbeit

Zeit
March 19, 2016

http://www.zeit.de/2016/11/spotlight-film-missbrauch-katholische-kirche-oscar

Bevor der Film einen Oscar bekam, wurde ich gefragt: Gibt es etwas, was Sie darin vermissen? Eine wahre Begebenheit, die nicht vorkommt, aber sich in Ihr Gedachtnis eingebrannt hat? Ich bekenne, es gibt eine Szene, die im Film fehlt. Der Zorn, den ich damals empfand, wird noch lange brauchen, um zu verloschen.

Es geschah am 4. November 2002, bei einer Rede der Harvard-Professorin Mary Ann Glendon. Die Juristin sagte auf einer Konferenz vor Katholiken: "Ein Pulitzerpreis fur die Reporter vom Boston Globe ware wie ein Friedensnobelpreis fur Osama bin Laden." Damit machte Glendon unsere monatelange Recherche uber sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester nieder. Ich war damals Chefredakteur des Boston Globe und hatte unser Investigativteam massiv gedrangt, die Vertuschung einer ganzen Serie von Missbrauchsfallen in der Erzdiozese Boston aufzudecken. Das gelang den Kollegen auch, und wir bekamen dafur einen Pulitzerpreis fur den Dienst an der Offentlichkeit. Der Angriff der Professorin ging also ins Leere, aber er sagte viel uber jene Unkultur der Verleugnung und Vertuschung, die die ganze katholische Kirche vergiftete – lange bevor wir begannen zu recherchieren und auch noch lange danach.

Unsere Recherche wurde vor 14 Jahren im Boston Globe gedruckt. Spater machten Thomas McCarthy und Josh Singer daruber einen Film, der den Namen unseres Investigativteams tragt: Spotlight. Er handelt von einem Missbrauchsskandal, der letztlich weltweiten Ausma?es hat. Bis heute ist die katholische Kirche in Erklarungsnot, warum sie schwere Untaten im gro?en Ma?stab vertuschte – und ob die seither angestrengten Reformen ausreichend sind.

Ja, dass Spotlight jetzt einen gro?en Preis gewonnen hat, freut mich. Ich stehe in der Schuld all derer, die in diesem ergreifenden Film zeigen, wie guter Journalismus funktioniert und warum wir ihn weiterhin brauchen. Aber es gibt noch einen anderen Lohn unserer Arbeit.

Der wahre Lohn besteht in der moglichen Wirkung des Films: Kunftige Zeitungsbesitzer, Herausgeber und Chefredakteure konnten sich wieder der investigativen Recherche verpflichtet fuhlen. Eine misstrauische Offentlichkeit konnte erkennen, dass wir immer noch eine starke Presse brauchen. Wir alle konnten mehr Bereitschaft zeigen, jenen Menschen zuzuhoren, die keine Macht und keine Stimme haben – vor allem den Opfern von Missbrauch.

Mir personlich hat die Verfilmung von Spotlight schon jetzt einen unerwarteten Sieg beschert. In E-Mails, Tweets und Facebook-Posts berichten mir Kollegen, sie fuhlten sich in ihrer Arbeit bestarkt. Einer schrieb: "Eure Enthullungsgeschichte ist eine wunderbare Mahnung, warum wir einst Journalisten werden wollten und warum wir trotz allem noch dabei sind." Ein Reporter einer uberregionalen Zeitung erzahlte mir, er habe seine ganze Familie in den Film geschleppt: "Plotzlich finden meine Kinder ihren Vater cool." In Kalifornien mietete ein Verleger ein Kino, um der Belegschaft seiner Zeitung den Film vorzufuhren. Ein anderer Verleger versprach mir auf Facebook: "Ihr Spotlight-Team gibt mir neuen Auftrieb, nach Geschaftsmodellen zu suchen, mit denen wir auch kunftig solche kritische Arbeit finanzieren."

Naturlich befreit solches Lob uns nicht von dem Druck, der auf unserer Arbeit lastet. Im Gesprach mit den Missbrauchsopfern spurten wir ihn besonders schmerzlich. Die Wahrheit ist: Meine ersten Monate als Chefredakteur beim Boston Globe waren schwer. Ich hatte in der ganzen Zeitung nur zwei entfernte Bekannte. Au?erdem wusste ich, dass vier erfahrene Kollegen den Job abgelehnt hatten, den ich nun bekam. Ich wollte ein Erneuerer sein, aber erst mal war ich ein Au?enseiter.

Vielleicht hat mir das geholfen, den machtigsten Kirchenmann Bostons anzugreifen. Im Film bietet mir Kardinal Bernard Law seine Freundschaft an, und ich ziehe es vor, unabhangig zu bleiben. Spater wurde Law als der Verantwortliche fur die Vertuschung der Missbrauchsverbrechen seines Amtes enthoben. Noch so eine Frage wird mir deshalb jetzt dauernd gestellt, und ich will sie beantworten: Ja, Kardinal Law schenkte mir den Katechismus, ehe ich seine Residenz verlie?. Das Buch im Film ist dasselbe Buch, das er mir damals uberreichte. Ansonsten wurde die Filmszene etwas ausgeschmuckt. Hauptsachlich redeten wir beide um den hei?en Brei herum und versuchten, das eigentliche Thema zu vermeiden: die bereits laufenden Recherchen des Globe.

Spotlight ist ein Spielfilm, keine Dokumentation. Aber er gibt getreu, wenn auch in Kurzform wieder, wie sich unsere Recherche bei Opfern, Tatern, Tateranwalten und Vertuschern entfaltete. Wir erhofften uns nicht viel, als wir der Verfilmung zustimmten, meine Kollegen Walter Robinson, Michael Rezendes, Sasha Pfeiffer, Matt Carroll, Ben Bradley jr. und ich. Wir dachten nur, die Geschichte sei es wert, erzahlt zu werden. Was mein eigenes Portrat betrifft, so will ich mich nicht beschweren, schon weil der geniale Liev Schreiber mich spielt. Trotzdem habe ich mich gefreut, als eine Freundin auf ein paar meiner nebensachlichen Qualitaten hinwies, die im Film fehlen: "Martys Figur schafft es im ganzen Film kaum einmal zu lacheln. Im echten Leben gibt er aber stets ein dankbares Publikum fur Witze ab."

Wie gesagt, mein Anfang beim Globe war einsam. Ich wusste nicht, was sie im Newsroom uber mich sprachen. Und dass es interne Widerstande gegen die Missbrauchsrecherche gab, obwohl sie mir so wichtig war, erfuhr ich erst aus dem Film.

Was bleibt? Die Arbeit des Globe hat sich allen Anfeindungen zum Trotz als fair und korrekt herausgestellt. Und als uberfallig. Die Jury des Pulitzerpreises bestatigte uns 2003 Mut, die systematische Geheimhaltung des Missbrauchs durchbrochen zu haben – und so die katholische Kirche verandert.

Spater bekam ich einen Brief von Pater Thomas P. Doyle, der in Amerika lange einen einsamen Kampf fur die Missbrauchsopfer fuhrte. Er schrieb: "Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester und die Vertuschung waren das Schlimmste, was in der katholischen Kirche seit Jahrhunderten passiert ist. Manner der Kirche verletzten jene, die sie beschutzen sollten. Kinder wurden betrogen. Ihre Familien wurden betrogen. Die Offentlichkeit wurde betrogen.

Dieser Albtraum ware immer weitergegangen – ohne Sie und Ihre Mannschaft. Als einer, der seit Jahren um Gerechtigkeit fur die Opfer und Uberlebenden kampft, will ich Ihnen mit jeder Faser meines Seins danken. Ich versichere Ihnen: Was Sie fur die Opfer, die Kirche und die Gesellschaft getan haben, ist kaum zu ermessen. Die Folgen werden noch lange Widerhall finden."

Pater Doyles Brief lag auf meinem Schreibtisch beim Boston Globe, bis ich vor drei Jahren zur Washington Post wechselte. Er erinnerte mich daran, warum ich Journalist wurde und bleibe. Damals gab es noch keinen Film, keinen Oscar. Aber ich fuhlte mich durch diesen Brief belohnt. So ein Lohn reicht fur ein Leben.

Aus dem Englischen von Evelyn Finger

 

 

 

 

 




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