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"Es Werden Sogar Kinder Vor Der Kamera Umgebracht"

Welt
May 17, 2016

http://www.welt.de/politik/deutschland/article155424564/Es-werden-sogar-Kinder-vor-der-Kamera-umgebracht.html

Die Welt: Herr Rorig, Sie sind seit Ende 2011 Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung. Warum braucht es einen Job wie Ihren?

Johannes-Wilhelm Rorig: Mein Amt braucht es, um dafur zu sorgen, dass die Empfehlungen des Runden Tisches "Sexueller Missbrauch", der von 2010 bis 2011 getagt hat, Realitat werden. Dabei geht es vor allem um verbesserten Schutz fur Kinder. Ich muss die Verantwortlichen immer wieder daran erinnern und fragen: Tut ihr wirklich genug angesichts des tausendfachen Missbrauchs von Kindern in Deutschland jedes Jahr?

Die Welt: Nach der Aufdeckung verschiedener Missbrauchsskandale in kirchlichen Einrichtungen und Internatsschulen kochte die offentliche Erregung hoch. Jetzt redet keiner mehr von dem Thema. Warum?

Johannes-Wilhelm Rorig spricht von "unvorstellbaren Grausamkeiten, die Menschen Kindern antun". Die Zahl der betroffenen Kinder in Deutschland schatzt er auf eine Million

Rorig: Es gibt bei sexueller Gewalt an Kindern in jedem Menschen den Wunsch zu verdrangen – sich nicht vorstellen zu wollen, was hinter dem Wort sexueller Kindesmissbrauch tatsachlich an schrecklichem Leid stattfindet. Die Politik denkt wohl, dass das kein Gewinnerthema ist und mochte es immer wieder gerne schnell abraumen.

Das gro?e politische Problem ist, das wir an vielen Stellen nicht die notige Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit haben.

Die Welt: Sie haben kurzlich mit schockierenden Zahlen aufgewartet. Eine Million Kinder seien Opfer sexuellen Missbrauchs. Ist das nicht extrem hochgegriffen?

Rorig: Wir arbeiten tatsachlich in einem gro?en Dunkelfeld. Nicht alle Falle sexuellen Kindesmissbrauchs werden der Polizei gemeldet. Aber wir haben eine Grundzahlenlage, mit der wir operieren konnen. Sowohl die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation als auch eine von uns in Auftrag gegebene Haufigkeitsstudie kommen zu dem gleichen Ergebnis. Wir haben jedes Jahr 60 bis 100.000 Falle. Auf 18 Jahrgange hochgerechnet mussen wir davon ausgehen, dass eine Million betroffener Kinder in Deutschland leben.

Die Welt: Wo fangt Missbrauch an? Und wo hort er auf?

Rorig: Missbrauch fangt mit sexuellen Grenzverletzungen an: Verbale Belastigung, Grapschen, das Andeuten sexueller Handlungen. Dann gibt es sexuelle Ubergriffe, wo bereits ein korperlicher Kontakt stattfindet. Und die schlimmste Stufe des Missbrauchs ist die Vergewaltigung. Dazwischen gibt es viele Auspragungen.

Durch die digitalen Medien haben wir auch neue Formen sexueller Gewalt – wenn Kinder etwa gezwungen werden, Nacktfotos von sich ins Netz zu stellen. Nicht alle Missbrauchsopfer sind Vergewaltigungsopfer. Aber wir kennen auch Falle, in denen sogar Babys vergewaltigt werden.

Die Welt: Gibt es kriminelle Netzwerke, die gezielt auf Kindesmissbrauch spezialisiert sind? Welche Dimension hat dieses Problem?

Rorig: Ja. Wir sprechen hier uber organisierte Kriminalitat. Das geht bis hin zu schwerster Folter an Kindern und Jugendlichen. Es werden sogar Kinder vor der Kamera umgebracht. Das sind unvorstellbare Grausamkeiten, die Menschen Kindern antun.

"Spotlight" beleuchtet sexuellen Missbrauch durch Priester

Ich habe vor einem Jahr einen Betroffenenrat berufen, deren 15 Mitglieder mich in meiner Arbeit unterstutzen. Darunter sind auch Opfer organisierter sexueller Gewalt, also Menschen, die als Kinder und Jugendliche gezielt und mit gro?er Brutalitat zu sexuellen Handlungen mit Einzelnen und in Gruppen erzogen wurden.

Und wir mussten leider auch lernen, dass Menschenhandler in Tschechien fur 4000 Euro Babys von Prostituierten kaufen konnen. Diese unregistrierten Kinder laufen vollkommen unterhalb des Radarschirms der Kinder- und Jugendhilfe. Niemand hat sie je gesehen. Sie werden einzig zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gro?gezogen.

Die Welt: Gibt es irgendwelche Vorstellungen, in welcher Gro?enordnung so etwas stattfindet?

Rorig: Es ist noch nie ein solcher Fall vor einem deutschen Gericht entschieden worden. Experten bestatigen uns, dass es Teil des Vorgehens dieser kriminellen Strukturen ist, es nie zu einem Prozess kommen zu lassen. Denken Sie an den Fall Dutroux in Belgien: Wie viele Zeuginnen und Zeugen ums Leben gekommen sind, bevor sie aussagen konnten. Das waren uber 20 Menschen. Kinder, die in solchen schrecklichen Konstellationen leben mussen, leben in verschiedenen Welten.

Sie leiden meist unter einer so extremen Personlichkeitsabspaltung, dass die Aussagen nicht gerichtlich verwertbar sind. Wir sind mit Experten, die Opfer aus organisierter ritueller Gewalt begleiten, im Gesprach, wie wir einen sicheren Ausstieg fur diese Uberlebenden schaffen konnen – das muss mehr sein als ein Zeugenschutzprogramm.

Die Welt: Sie haben in den vergangenen Jahren viele Geschichten von Betroffenen gehort. Welche Folgen hat sexueller Missbrauch fur die Opfer?

Rorig: Das hangt davon ab, wo und wie lange der Missbrauch stattgefunden hat und ob das Opfer Hilfe erhalten hat. Wenn etwa ein Junge uber Jahre von seinem Vater missbraucht wurde und die Mutter womoglich weggeguckt hat, dann ist dieser Junge nicht mehr in der Lage, Vertrauen zu schopfen in die Menschen, die die Basis seiner Personlichkeitsentwicklung sind. Das ist das Schlimme an familiarem Missbrauch: dass das so existenzielle Vertrauen missbraucht und zerstort wird.

Wenn hingegen ein 13-jahriges Madchen vom Sportlehrer begrapscht wird, sich schnell offenbart und der Fall offen thematisiert wird, dann konnen die Folgen weniger gravierend sein. Es gibt aber typische Folgen des sexuellen Missbrauchs: Beziehungs- und Bindungsprobleme, Essstorungen, Alkohol- und Drogenprobleme, Depressionen, Autoaggressivitat, auch Selbstmord.

Meine Zielsetzung ist, dass Politik und Gesellschaft das Investment in Pravention und Hilfen erheblich erhoht. Der Bereich ist straflich unterfinanziert

Die Welt: Warum wird Missbrauch so oft vertuscht? Gibt es wirklich ein Kartell des Schweigens? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Rorig: Ein gro?es Problem sind die Mitwisser, die eine Ahnung davon haben, dass etwas falsch lauft, aber nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen – und deshalb schweigen. Das betrifft vor allem die Vorfalle im familiaren Bereich. Und auch die Opfer selbst sind oft in einer Schockstarre. Sie kapseln das Geschehen in sich ab. Sie fuhlen sich so beschmutzt und beschamt, dass sie nicht daruber reden konnen. Oder schweigen auch, weil sie beispielsweise ihre Mutter schutzen und nicht traurig machen .

Die Welt: Ist die Gesellschaft durch das Aufdecken der Skandale nicht schon viel sensibler geworden?

Rorig: Das denke ich schon. Das Tabu, gar nicht daruber zu sprechen, ist aufgebrochen. Aber es ist nicht vom Tisch. Es wird umso gro?er, je naher es in den personlichen Bereich rutscht. Dort setzen wir mit unserem Praventionsvorschlagen an. Schutz vor sexueller Gewalt muss Alltag werden. Es muss so normal sein wie der Zebrastreifen vor der Schule.

Mit der Initiative "Kein Raum fur Missbrauch" unterstutzen wir Kitas, Sportvereine, Gemeinden oder Schulen, nicht zu Tatorten zu werden. Vor allem aber wollen wir, dass sie zu Schutz- und Kompetenzzentren werden. 80 Prozent aller sexuellen Ubergriffe spielen sich innerhalb der Familie oder im sozialen Umfeld ab, durch Gleichaltrige und zunehmend auch durch die digitalen Medien.

Es ist wichtig, dass die Kinder in der Schule und Kita auf Menschen treffen, die ihre Signale erkennen und wissen, was sie im Verdachtsfall tun konnen. Ich habe jetzt die Zusage von fast allen Bundeslandern, dass sie unsere Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" unterstutzen. Dazu haben wir umfangreiches Material fur alle Schulen erstellt, um sie bei der Einfuhrung wirkungsvoller Schutzma?nahmen zu unterstutzen. Ab nachstem Schuljahr wollen wir damit alle 30.000 Schulen in Deutschland erreichen.

Die Welt: Sie haben jetzt eine Aufarbeitungskommission ins Leben gerufen, die durch die Lande reist und Geschichten von Opfern einsammelt. Warum ist das so wichtig?

Rorig: Die Aufarbeitungskommission nimmt als erstes Gremium weltweit auch den Missbrauch im familiaren Umfeld in den Blick. Dafur bin ich dankbar, denn diese Opfer hatten bisher keine Institution neben den Ermittlungsbehorden, an die sie sich wenden konnten. Betroffene brauchen eine unabhangige staatliche Instanz, der sie sich anvertrauen konnen.

Die Kommission wird aber auch Missbrauch in Institutionen in den Blick nehmen. Uber die Anhorungen durch eine Kommission, so haben es uns Betroffene immer wieder gesagt, kann das ihnen in der Kindheit angetane Leid anerkannt werden. Das gibt Betroffenen auch Genugtuung.

Die Welt: Was wollen Sie politisch erreichen?

Rorig: Durch die Berichte von Betroffenen und Zeitzeugen und die Empfehlungen und Veroffentlichungen hoffen wir, einen wacheren Blick fur das Ausma? und die Folgen von Missbrauch zu erzeugen. Meine Zielsetzung ist, dass Politik und Gesellschaft das Investment in Pravention und Hilfen erheblich erhoht. Der Bereich ist straflich unterfinanziert. Die Fachberatungsstellen leben fast alle von Spenden. Die wenigsten haben eine kommunale Grundfinanzierung. Da mussen die Finanzminister die Schatulle noch mal aufmachen. Es muss frisches Geld ins System.

Die Welt: Frisches Geld braucht auch der Fonds Sexueller Missbrauch in der Familie. 100 Millionen sollte er enthalten, nur 58 Millionen kamen zusammen und die sind fast ausgeschopft, obwohl fast taglich neue Antrage kommen. Was lauft da falsch?

Rorig: Der Bund hat es bis heute leider nicht geschafft, dass 14 Lander ihre Verantwortung ubernehmen. Nur Bayern und Mecklenburg-Vorpommern haben bisher eingezahlt. Der Fonds ist zwar jetzt erst einmal unbegrenzt verlangert worden – aber ohne weiteres Geld im Fonds bringt die Verlangerung nichts. Zur Not muss der Bund fur die anderen Lander einspringen, um das 100-Millionen-Euro-Versprechen der drei Bundesministerinnen am Runden Tisch gegenuber Missbrauchsopfern nicht zu brechen.

Die Welt: Und was ist mit den erganzenden Hilfen fur in Institutionen Betroffene?

Rorig: Das entwickelt sich zur Farce. Auch hier fehlen noch sechs Lander und die Antragsfrist soll bereits Ende August wieder enden – bevor das Hilfesystem uberhaupt richtig gestartet ist. Auch hier muss die Antragsfrist ausgesetzt werden. Ansonsten wurde die Politik unter Beweis stellen, dass sie die Dimension von Missbrauch und seiner schweren und schwersten Folgen nicht verstanden hat.

 

 

 

 

 




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