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Unter Kinderschandern

Schwaebische
May 20, 2016

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LOKALES

20.05.2016 (Aktualisiert 09:33 Uhr)Philipp Richter

Unter Kinderschandern

Missbrauch im Zeltlager Wilhelmsdorf

Wilhelmsdorf sz In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden Kinder in den Heimen der Brudergemeinde in Korntal und Wilhelmsdorf missbraucht, der Aufarbeitungsprozess ist allerdings ins Stocken geraten.

Es war vor funf Jahren, als Detlev Zander nachts aufwachte, weil er im Schlaf eingenasst hatte. 50 Jahre alt war er zu diesem Zeitpunkt. Erholsamen und ruhigen Schlaf hatte er nicht mehr. Seine Alptraume katapultierten ihn zuruck in seine Kindheit – zuruck in die 1960er-Jahre, die er im Kinderheim der Evangelischen Brudergemeinde in Korntal bei Stuttgart verbracht hatte. Alles kam wieder hoch: Misshandlungen und Vergewaltigung. Plotzlich bekamen die schwarz-wei?en Bilder, die Detlev Zander in seinem Gedachtnis tief vergraben hatte, wieder Farbe. Bilder, wie er damals vom Hausmeister im Heizungskeller missbraucht wurde, wie er von einer Erzieherin windelweich geschlagen wurde, so sehr, dass sein rechter Wangenknochen brach. „Das wurde nie arztlich behandelt. Quasi ein Andenken an fruher“, sagt er ruhig und deutet auf sein schielendes Auge.

Heute hat Detlev Zander keine Angst mehr wie damals im Heim, sondern er kampft fur die Rechte aller, die damals in den Kinderheimen der Evangelischen Brudergemeinde in Korntal und in Wilhelmsdorf Schlage, sexuellen Missbrauch und andere Arten der Misshandlung erfahren haben. „Ich sehe mich nicht als Opfer. Das war ich fruher einmal. Denn ein Opfer ist wehrlos, ich sehe mich heute als Betroffener“, sagt der 55-Jahrige. 2013 machte er seine Geschichte offentlich, klagte auf Wiedergutmachung. Und bis heute kampft er, denn seine Klage, die bis zum Oberlandesgericht in Stuttgart kam, wurde mit Verweis auf die Verjahrung der Taten abgewiesen. Kein Grund aufzugeben, meint Zander. 50000 Euro fordert er fur das, was er erlitten hat. Das Angebot von bis zu 5000 Euro fur die Betroffenen lehnt Zander ab.

Rund 300 Betroffene haben sich laut den Angaben von Detlev Zander mittlerweile bei dem von ihm gegrundeten „Netzwerk Betroffenenforum“ gemeldet, die in den Kinderheimen in Korntal und Wilhelmsdorf in den 1960er- bis in die 1970er-Jahre misshandelt und/oder missbraucht wurden. Etwa 40 bis 50 betrafen das Kinderheim in Wilhelmsdorf. Dort gab es auch ein Ferienlager der Korntaler, wo sich Falle zugetragen haben sollen. Eine offizielle Zahl seitens der Brudergemeinde gibt es jedoch nicht. Der Vorwurf der Brudergemeinde: Die Opfervertreter wurden nur Zahlen nennen, aber keine dezidierten Berichte liefern. Allerdings hat sich die Brudergemeinde bereits als „Taterorganisation“ bekannt. „Es gab Falle von sexuellen Missbrauch und schwarze Padagogik in Korntal wie auch in Wilhelmsdorf“, sagt der Pressesprecher der Brudergemeinde, Manuel Liesenfeld. Man nehme die Vorwurfe „sehr ernst“. Ein Aufarbeitungsprozess begann, der heute allerdings stockt.

Seitdem blicken die nationalen Medien auf die geschichtstrachtige Brudergemeinde. Ihr hat der Ort Wilhelmsdorf im Landkreis Ravensburg seine Existenz zu verdanken. 1824 grundeten Siedler der Evangelischen Brudergemeinde im Lengenweiler Moos den Ort Wilhelmsdorf, der nach dem damaligen Herrscher benannt wurde, der die Erlaubnis zur Grundung dieser pietistischen Siedlung in Oberschwaben gegeben hat: dem wurttembergischen Konig Wilhelm. Wahrzeichen der Gemeinde ist der Betsaal der Brudergemeinde Wilhelmsdorf, im Mittelpunkt des Ortes. Bis heute pragen die Pietisten, besonders streng glaubige Protestanten, das Gemeindeleben.

Furchtbare Dinge

Zur Diakonie der Brudergemeinde gehoren in Wilhelmsdorf wie in Korntal auch jeweils die Kinderheime Hoffmannhaus. Laut den Darstellungen von Detlev Zander haben sich dort furchtbare Dinge zugetragen. Seine Vorwurfe wiegen schwer: Zander schildert seine Kindheit, die er im Hoffmannhaus Korntal verbracht hat, voll von Psychoterror, Misshandlungen, Demutigungen, Sadismus seitens der Erzieher und immer wieder sexueller Missbrauch. „Wenn es Fleisch gab, wollten wir Kinder es oft nicht essen und haben es unter der Eckbank versteckt. Als die Erzieherin das Essen fand, mussten wir es essen. Viele mussten erbrechen und dann zwang sie uns, unser eigenes Erbrochenes zu essen“, erzahlt Zander. Die Erzieherin, die er noch heute „Tante“ nennt, soll Kinder, die nachts im Schlaf epileptische Anfalle hatten, aus dem Bett gezogen und am Boden geschlagen haben. Als kleines Kind nasste er nachts oft ein, eine Erzieherin hatte ihn und die anderen Jungen mit sadistischen Strafen an den Genitalien bestraft.

Der Hausmeister wiederum hatte eine Vorliebe fur Buben. Immer wieder holte er sich die Jungs in den Heizungskeller und verging sich an ihnen. Auch Detlev Zanders Freund Michael, der damals mit funf Jahren junger war als er. „Ich habe mich dann immer vor ihn gestellt und habe es dann mehr abgekriegt. Er hat immer gesagt: ,Wenn du was sagst, schlag ich dich tot’“, erzahlt Zander. Er soll die Kinder auch betrunken und somit gefugig gemacht haben. Als sich der kleine Detlev einmal traute, etwas zu sagen, entgegnete ihm die „Tante“: „Erzahlt keinen Quatsch!“ und scheuerte ihm eine. Heute geht man davon aus, dass die Vorwurfe gegen den Hausmeister mit gro?er Wahrscheinlichkeit zutreffen. „Wir haben ubereinstimmende Berichte von verschiedenen Heimkindern“, sagt Pressesprecher Liesenfeld. Der Hausmeister ist heute bereits tot.

Aufwuhlende Vergangenheit

Ortstermin Wilhelmsdorf: Auch dort soll es im Kinderheim Missbrauch gegeben haben. Die Brudergemeinde sagt: „Wilhelmsdorf war keine Ausnahme“, so Manuel Liesenfeld. Eigentlich war die „Schwabische Zeitung“ mit zwei ehemaligen Heimkindern aus dem Wilhelmsdorfer Hoffmannhaus verabredet, aber sie erscheinen nicht. „Nichts Ungewohnliches“, sagt Zander, „das passiert immer wieder, dass welche kurz vor knapp absagen oder nicht kommen. Das muss man verstehen. Es wuhlt sie auf, noch einmal uber die Vergangenheit zu reden – und das vor Fremden.“ Aber Martina Poferl ist gekommen. Sie ist ein anderes ehemaliges Heimkind, aus Korntal. Sie hat – wie alle Kinder aus Korntal – die Sommerferien in Wilhelmsdorf im Ferienlager verbracht.

Viel ist durch die regionalen und nationalen Medien uber die Falle in Korntal gegangen. Wilhelmsdorf wurde aber immer nur am Rande erwahnt, wenn uberhaupt. „Mir ist immer schlecht geworden, als wir im Tross nach Wilhelmsdorf fuhren“, erzahlt sie, „weil die Tater mitreisten.“ Auch sie wurde regelma?ig vergewaltigt. Das Personal begleitete die Kinder in die Idylle unweit des Lengenweiler Sees – auch der Hausmeister, der auch dort die Buben regelma?ig in die Schaferwagen neben den Zelten und in die Hutte am Wegesrand holte. Die Schaferwagen gibt es nicht mehr, die hat die Brudergemeinde wegraumen lassen, doch die Hutte, die die Kinder mithelfen mussten zu bauen, steht noch. „Wie fruher“, sagt Zander und deutet auf die Birken. „Die musste ich mit den anderen pflanzen. Sie stehen noch immer.“ Erholung sei es nie gewesen, sagt Zander und wiederholt immer wieder, wahrend er heftig an seiner Zigarette zieht: „Die Tater waren ja dabei.“ Wie aus Korntal auch existieren aus Wilhelmsdorf Nacktbilder von Kindern. „Wer die Fotos machte und was mit denen passierte, wissen wir nicht“, sagt Poferl.

Unglaubiges Staunen

Auf dem Weg Richtung Lengenweiler See beobachtet ihn ein Mann. Er kennt ihn aus seiner Kindheit und verbrachte seine Ferien im Lager. Hans Bernhard*, ein Wilhelmsdorfer und Mitglied der Brudergemeinde, der nicht mit Namen in der Zeitung stehen will, erinnert sich an eine gute Zeit und kann die Missbrauchsvorwurfe einfach nicht glauben. „Detlev, du, sag mal, isch des alles wohr, was es do hoi?t?“ „Ja, Hans! Alles.“

Als Kind ging Hans Bernhard ins Ferienlager an den See, auch seine Schwester war als Kind mit dabei, die es liebte, mit den Pferden zu spielen. „Wei?t du, wir hatten immer eine schone Zeit da.“ Viele ehemalige Heimkinder hatten auch eine gute Zeit, das gibt auch Zander zu. Die Tater hatten sich aber gezielt Kinder ausgesucht, die keine Eltern mehr hatten. Hans Bernhards Schwester fugt fassungslos hinzu: „Auch der Muller*, war immer gut zu uns.“ Wolfgang Muller war der Heimleiter und soll die Kinder verdroschen haben. Zander berichtet der Wilhelmsdorferin von dem, was ihm im Ferienlager widerfahren ist. Ihr schie?en Tranen in die Augen.

Prugel uber das ubliche Ma?

Die Situation wird deutlich. Viele wussten nicht, was sich zutrug, manche konnen und wollen es nicht glauben. Schlie?lich geschah all das unter der Obhut der Kirche. Deswegen bekommen Martina Poferl und auch Detlev Zander von Alteren oder Gleichaltrigen zu horen: „Wir haben als Kinder auch mal einen auf den Hintern bekommen.“ Poferl wehrt sich dann: „Es geht hier nicht um einen Schlag auf den Hintern oder um Tatzen, es geht hier um Missbrauch und Misshandlungen. Das kann man nicht vergleichen.“ Auch die Brudergemeinde sagt heute: Die Falle ubersteigen das Ma? der damals ublichen Prugelstrafen an Schulen deutlich.

Von der Kirche allerdings will Detlev Zander heute nichts mehr wissen. „Mit Pietismus und Gott kann ich nichts anfangen“, sagt er und schuttelt den Kopf. Seinem Buch, das er uber sein Erlebtes schrieb, gab er den Titel: „Und Gott schaut weg“. Denn die ehemaligen Kinder litten nicht nur damals, sie leiden noch heute, sind in Therapie. Das machen Zander und Poferl klar. Manche sind Alkoholiker geworden, sind arbeitsunfahig, bindungsunfahig geworden, Beziehungen und Ehen scheiterten.

Detlev Zander hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Den ersten machte er mit 14. Sein damaliger Freund Michael, den er im Heizungskeller verteidigt hatte, nahm sich mit 21 Jahren das Leben.

*Name von der Redaktion geandert.

 

 

 

 

 




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