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Kirchliche Missbrauchsstudie: Priester, 39, psychisch labil, sucht Zwölfjährigen

By Annette Langer
Spiegel
June 28, 2016

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/katholische-kirche-zwischenbericht-missbrauchsforschung-a-1100092.html

Missbrauch durch katholischer

Es war still geworden um die katholischen Missbrauchsaufklärer. Jetzt legen sie einen Zwischenbericht vor - er zeigt, wie skrupellos und gewaltbereit sich Sexualstraftäter im Pfarrhaus gebärden. Anfang Juli 2014 startete die katholische Kirche ein Forschungsprojekt zu Missbrauch in den eigenen Reihen. Vier Jahre nach dem großen Missbrauchsskandal in Deutschland sollte es endlich losgehen mit der Aufklärung. Kriminologen, Psychiater, Soziologen und Strafrechtler sind seitdem aufgerufen, bis Ende 2017 Licht ins Dunkel zu bringen.

Jetzt legte die Bischofskonferenz einen Zwischenbericht vor - eine Metaanalyse von Daten, die in neun Ländern, darunter den USA, Irland und natürlich auch Deutschland erhoben wurden.

Gegenstand der Analyse waren aber nicht etwa kircheninterne, lang verschlossene Informationen, sondern 40 allgemein zugängliche internationale Studien über Missbrauch in der katholischen Kirche sowie 13 weltlichen Institutionen.

Skepsis ist angebracht, denn: In vier von zehn Studien zu kircheninternem Missbrauch wurden Befragungsmethoden eingesetzt, die sozialwissenschaftlich nicht anerkannt sind. Auch die Zahl der strukturierten klinischen Interviews ist verschwindend gering. Psychiatrisch-psychologische Erhebungen wurden in nur zehn Prozent der Untersuchungen durchgeführt.

Schon die Entstehungsgeschichte des kirchlichen Forschungsprojekts ließ Zweifel am Willen zur Aufklärung laut werden. Die Bischofskonferenz hatte den Auftrag zunächst an das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen gegeben, es dem damaligen Leiter Christian Pfeiffer aber dann wieder entzogen.

Pfeiffer kritisierte die Arbeitsweise der Kirchenvertreter, sprach von Kontrolle, Zensur und mutwilliger Aktenvernichtung, um eine Aufklärung zu behindern. Bischof Stephan Ackermann, Missbrauchsbeauftragter der Bischofskonferenz, bestreitet dies. Es habe keine "Aktenvernichtung in größerem Stil" gegeben.

Doch Pfeiffer bezweifelt noch heute, ob es den beteiligten Wissenschaftlern gelingen kann, aussagekräftige Daten aus den Archiven aller Diözesen zu beschaffen. "Dieser Zwischenbericht ist doch nur ein Vorspiel", kritisiert er. "Die Macher wollen professionelle Tüchtigkeit demonstrieren. Es ist eine Fleißarbeit, die keine der zentrale Fragen beantwortet."

Tatsächlich liefert die Analyse keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Sie ermöglicht aber eine Einordnung des kirchlichen Tätertyps und seiner Opfer.

Die Täter

Der Sexualstraftäter in der katholischen Kirche ist den Erhebungen zufolge Gemeindepfarrer oder Priester, im Durchschnitt 39 Jahre alt, und auf der Suche nach männlichen Opfern.

Er ist psychisch labil, wenn nicht gestört: 29,6 Prozent der Täter wurde eine emotionale oder sexuelle Unreife bescheinigt, 21,6 Prozent litten an einer Persönlichkeitsstörung. Mehr als 17 Prozent wurden von Psychiatern oder Psychologen als pädophil eingeordnet. Sollte sich diese Zahl in weiteren Studien bestätigen, wäre das deutlich mehr als der geschätzte Bevölkerungsdurchschnitt von etwa zwei bis vier Prozent der Männer - aber der übliche Durchschnitt in der Gruppe der Sexualstraftäter.

Der kirchliche Missbrauchstäter geht mehrheitlich planvoll vor - er macht dem Opfer Geschenke, verspricht Belohnungen (46,1 Prozent) oder droht ihm (35,9 Prozent). Und viel zu oft wendet er Gewalt an (6,5 Prozent).

Auffällig ist die hohe Zahl der sogenannten Hands-on-Delikte. Dabei handelt es sich um konkrete, physische Übergriffe, schwerwiegende Straftaten wie Vergewaltigung oder erzwungenen Oralverkehr. Sie machen in der Kirche 75,5 Prozent der Sexualstraftaten aus.

"Dieser große Anteil an Gewalt ist verstörend", sagt Harald Dreßing vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Liegt es an den hierarchischen Strukturen in der Kirche, den Machtspielen, der unterdrückten Sexualität? "Der Klerikalismus und die asymmetrischen Beziehungen spielen sicherlich eine Rolle, aber wir müssen die Ursachen noch genauer untersuchen."

Sein Kollege Dieter Dölling vom Kriminologischen Institut der Universität Heidelberg ist ebenfalls an der Studie beteiligt. Ihn treibt um, dass knapp 44 Prozent der Straftäter sich mehr als ein Opfer suchen - im Durchschnitt sind es 5,4 Opfer pro Täter. "Das passiert, wenn das Opfer aus verständlicher Furcht heraus keine Anzeige erstattet. Dann machen die Täter weiter. Diese Mechanismen müssen viel früher durchbrochen werden."

Der jüngste Täter war demnach gerade mal 15 Jahre alt, der älteste 90. Frauen werden ebenso zu Tätern wie Männer, allerdings in erheblich geringerem Umfang: Sie machen nur 7,2 Prozent der insgesamt 10.009 innerkirchlichen Täter aus. Klare Aussagen zur sexuellen Orientierung der Täter sind nicht möglich - nur zwei der untersuchten Studien haben danach gefragt. Von den 89 Tätern gaben 34,8 Prozent an, homosexuell zu sein.

Die Opfer

Anders als bei Missbrauchsfällen in Schulen und anderen Institutionen vergehen sich Geistliche in erster Linie an Jungen. Von den erfassten 15.849 Opfern waren 78,6 Prozent Jungen und junge Männer zwischen 0 und 25 Jahren. Das Durchschnittsalter lag bei zwölf Jahren.

Knapp ein Viertel der Übergriffe ereignet sich in der Täterwohnung oder dem Pfarrhaus. Die häufigsten Übergriffe waren das Betatschen des Opfers über oder unter der Kleidung, gefolgt von analer oder vaginaler Penetration.

Die Opfer, auch das ist seit Langem traurige Gewissheit, leiden viele Jahre und oft lebenslang an den Folgen des Missbrauchs. Die Mehrzahl von ihnen kämpft mit Albträumen, Panikattacken und einem gestörten Sexualverhalten. Aber auch psychosomatisch hinterlässt der Missbrauch Spuren: Viele klagen über Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Erstickungsanfälle und Asthma.

"Aus Interviews mit Betroffenen wissen wir, dass Opfer von Priestern mehr leiden als Menschen, die außerhalb der Kirche missbraucht wurden", sagt der Kriminologe Pfeiffer. "Als Gläubigen fällt ihnen Abgrenzung und Auflehnung gegen den Täter schwer, der für sie ja ein Vertreter Gottes auf Erden ist. Der Priester spielt eine Machtrolle in dem sehr intimen Sektor des Glaubens - das ist etwas ganz anderes als etwa ein Lehrer."

Um ein genaueres Bild für Deutschland zu bekommen, wollen die beauftragten Wissenschaftler neun Diözesen exemplarisch unter die Lupe nehmen: Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, Magdeburg, Paderborn, Speyer und Trier. Es gehe um "Erkenntnisse, welche Strukturen Missbrauch begünstigt haben", sagt Bischof Ackermann. Aber offenbar nicht um konkrete Namen oder gar Strafverfolgung.

Es ist diese Haltung, die Opferverbände an dem gesamten Forschungsprojekt zweifeln lassen. "Es ist für die Betroffenen absolut inakzeptabel, dass Bischöfe und kirchliche Vorgesetzte, die Missbrauchstaten unter der Decke gehalten und Täter geschützt haben, nicht genannt werden sollen", sagt Matthias Katsch für den "Eckigen Tisch", dem Verband der Betroffenen aus Jesuiten-Einrichtungen wie dem Canisius-Kolleg.

Katsch will, dass die Namen der Kirchenmänner, die versagt haben, genannt werden. Dies sei ebenso wichtig wie eine ehrliche Diskussion über die innere Struktur der Kirche - und eine angemessene Entschädigung für die Opfer. "Bisher wendet die Kirche mehr Geld für Anwälte und PR auf als für Missbrauchsopfer."




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