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Warum wir als Kinder Gewalt in kirchlichen Einrichtungen so grausam empfanden

Regensburg Digital
August 28, 2016

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Prälat Paul Mai. Betroffene im Knabenseminar Obermünster beschreiben ihn als sadistischen Schläger. Wird es Konsequenzen des Bistums geben? Foto von 1985: Horst Hanske/ Bilddokumentation der Stadt Regensburg

Gastautor Alfred Gassner reagiert auf unseren Bericht über den prügelnden Prälaten Paul Mai. Gassner, Jahrgang 1939, war ein Kind mit vielen Kriegs- und Fluchterfahrungen, als er 1950 als Seminarschüler im Studienseminar St. Augustin in Weiden wurde.

Aus einigen meiner sorgsam aufbewahrten Kindheitserinnerungen habe ich nach dem Lesen des Berichtes von Robert Werner eine vergilbte Broschüre ausgegraben, die deutlich macht, wie weit Anspruch und Handlungsweise in der Seminarerziehung der römisch-katholischen Kirche in den 60er Jahren auseinanderfielen. In dem Text steht unter anderem, adressiert an meine strenggläubigen, aber wenig betuchten Eltern:

„Erstes Ziel der Erziehung ihres Kindes ist die Vermittlung eines christlichen Verantwortungsbewusstseins. Dieses soll ihr Kind lebenslang befähigen, ein christliches Leben zu führen und für die Ideale des katholischen Glaubens einzutreten.“

Eine heute noch einleuchtende Ermunterung meiner Eltern, ihr Kind dieser renommierten Erziehungseinrichtung trotz knapper Finanzen in die Hand zu geben. Es geht mir hier nicht um die nachträgliche Hinrichtung einer insgesamt durchaus lobenswerten Bildungseinrichtung, die seinerzeit zudem für Kinder aus ländlichen Gegenden die einzige Chance darstellte, eine höhere Schule zu besuchen. Dafür empfinde ich immer noch grundsätzliche Dankbarkeit. Aber die erlebte Seminarrealität entsprach auch seinerzeit schon nicht allen christlichen Idealen und hat mich zu einer Person gemacht, die nicht jede Lehre ungeprüft akzeptiert.

Präfekten als „Aufseher“

Wie überall in römisch-katholischen Instituten gab es (nicht nur, aber eben auch) Präfekten, die ihr Amt als „Aufseher/ Wärter“ missverstanden. Ihr gefürchtetes Regime beruhte wohl auf einer gedanklichen Selbstermächtigung, in besonders elitärer Weise der kirchlichen Lehre von einem christkatholischen Leben dienen zu müssen.

Jene Personen, die heute schwerer Straftaten beschuldigt werden, waren in ihrer äußeren Erscheinung einerseits die frömmsten Priester (die man nie ohne Brevier sah), gleichzeitig aber auch grausame Personen, denen man am besten aus dem Weg ging. Als Kaderschmiede, die nur den kategorischen Erziehungsimperativ kannten, waren sie ihren nachsichtigeren Kollegen in der Karriere immer voraus, denn Widerstand gab es bei ihnen nicht und das allein zählte in der Hierarchie über ihnen. Lebenstüchtig im Sinne ihrer privaten Ideologie wurde man nicht durch pädagogische Lenkung, sondern nur durch Strenge, Aushalten von Bloßstellungen und Strafexekutionen vor versammelter Schülerschaft, die damit ihrerseits vor weiteren Disziplinlosigkeiten abgeschreckt werden sollte.

Auf Herkunft, Vorgeschichte, familiäre Sonderbelastung oder, wie in meinem Falle, auf frühkindliche Kriegs- und Fluchterfahrungen, wurde keine Rücksicht genommen. Wurden bestimmte Vorfälle den Eltern bekannt und gab es Beschwerden, hieß es, man habe im „wohlverstandenen Interesse des Kindes“ gehandelt. Gerechterweise muss man dieser Erziehergeneration in der Rückschau wohl strafmildernd zugestehen, dass auch sie Geschädigte des Zweiten Weltkrieges waren. Wenn Blinde Blinde führen, fallen eben alle in die Grube.

Die gefährliche Musterausrede von Prälat Mai

In diese Kategorie machtbewusster Präfekten gehört wohl auch die schillernde Persönlichkeit von Dr. Paul Mai. An seiner im Beitrag geschilderten Vita fällt mir zuerst auf, dass er einräumt, auch er habe in der eigenen Seminarzeit in Straubing Prügelstrafen erdulden müssen. Aus dieser Erfahrung leitet er aber in unzulässiger Weise heute noch das Recht ab, als Erzieher andere Schutzbefohlene auch im Zweifelsfalle schlagen oder demütigen zu dürfen. Wäre er heute wieder Erzieher, würde er also vermutlich auch wieder so handeln. Eine gefährliche Musterausrede, die Prügelstrafen generell rechtsfrei machen würde. Wenn alle, die selbst geschlagen wurden, daraus ein freies Recht auf Gewaltanwendung ableiten würden, wo kämen wir da hin.

In die gleiche Richtung zielt seine Einlassung, in den 60er Jahren seien Demütigungen und Bloßstellungen von Kindern überall üblich gewesen und von den Betroffenen deswegen auch nicht mehr als verletzend empfunden worden. Das ist eine Lüge!

Kinder und Jugendliche hatten schon immer ein feines Gespür für Gerechtigkeit und fehlende Achtsamkeit ihrer Erzieher. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich unangemessene Strafen als tief beleidigend und Verletzung meiner Persönlichkeit empfunden habe. Grund: Während Präfekten bei Kindern auf strengste Regelbeachtung bestanden, erlaubten sie sich ungerechte Übergriffe am laufenden Band. Ich gestehe: Deswegen haben ich sie vielfach auch verachtet.

Das Elternhaus war weitaus humaner

Wir wussten vom Elternhaus her, wann eine Körperstrafe oder Rüge berechtigt war und wann nicht. Das Elternhaus war weitaus humaner. Vor der Exekution einer Strafe gab es im Seminar kein rechtliches Gehör und jeder Versuch einer Begründung seiner Handlungsweise wirkte strafverschärfend. Mein Empfinden von Ungerechtigkeiten war auch deswegen besonders schmerzhaft, weil ich im Seminar den gewohnten Schutz des Elternhauses entbehren musste. Wochenendheimfahrten nur einmal monatlich für wenige Stunden, kurze Stadtgänge für begrenzte Zeit und nur mit Erlaubnis. Mutter, Vater oder Geschwister weit weg. Freunde im Haus durften sich nicht solidarisieren, niemand konnte helfen. Das Gefühl der doppelten Verstoßung durch Elternhaus und Seminar gehört für mich noch heute zu den grausamsten Erinnerungen an meine Schulzeit. Und diese Prägungen blieben zeitlebens im Unterbewusstsein aufbewahrt.

Paul Mai und Erich Mielke

Trotzdem, Dr. Paul Mai scheint dies nicht zu beeindrucken. Kein bisschen Reue oder Einsicht bei ihm. Trickreich will er seine Opfer zu Tätern zu machen und sich mit Verniedlichungen moralisch reinwaschen. Hätten sich die „Lauser“ seinerzeit doch nur anständig benommen, wäre ihnen nichts passiert. Erich Mielke hat am 13.11.1989 vor der Volkskammer der DDR ähnlich mit dem Satz argumentiert:

„Ich habe euch doch alle geliebt.“

Diese fade Ausrede: „Ich habe es doch nur gut mit euch gemeint“ sollten wir dem gelernten Historiker Dr. Paul Mai aber nicht durchgehen lassen. Denn zu den unverzichtbaren Freiheitsrechten von Kindern gehörte schon immer auch das Recht, gegen Regeln verstoßen zu dürfen, ohne selbst verstoßen zu werden. Dieses spezielle Kindergrundrecht hat er aber offensichtlich noch immer nicht begriffen.




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