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An Einem Verfluchten Ort

By Till Fahnders
Frankfurter Allgemeine
September 25, 2016

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kindesmissbrauch-im-australischen-ballarat-14449943.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Wider das Schweigen: An Kirchen in Ballarat erinnern Burger mit bunten Bandern an Opfer.

Das australische Stadtchen Ballarat ist auf Gold gebaut. Abenteurer, die auf der Suche nach schnellem Reichtum gekommen waren, hatten die Ortschaft Mitte des 19. Jahrhunderts gegrundet. Die gewaltigen Vorkommen im Buschland nordlich von Melbourne fuhrten damals zu einem fiebrigen Goldrausch. Bis heute zeugen die verschnorkelten Fassaden aus der Zeit der britischen Konigin Viktoria von diesem Reichtum. Ein bewaffneter Aufstand in Ballarat im Jahr 1854, mit dem Goldsucher sich mehr Rechte sichern wollten, wird sogar als Ursprung der australischen Demokratie gesehen. Man ist hier stolz auf diese Geschichte.

Jedoch liegt ein anderer Teil ihrer Vergangenheit wie ein dunkler Schatten uber der ehemaligen Goldgrabersiedlung im Bundesstaat Victoria. In Ballarat fand einer der schlimmsten sexuellen Missbrauchsskandale in der Geschichte Australiens und der katholischen Kirche statt. Uber Jahre hinweg hatten sich Priester, Monche, Ordensleute, Lehrer und von der Kirche beschaftigte Laien an Minderjahrigen vergangen.

Kirche und Behorden vertuschten das ungeheure Ausma? des Missbrauchs. Die Beschuldigten kamen nicht vor Gericht, sondern wurden meist nur an andere Orte versetzt. Den Opfern wurde nicht geglaubt, oder sie wurden unter Druck gesetzt. Eine ganze Generation von Kindern war betroffen, Kinder, die heute Erwachsene sind.

Eines dieser Opfer hat sich als Treffpunkt ein Restaurant ausgesucht, das direkt am Bahnhof von Ballarat liegt. Es tragt den Namen „The Provincial“ und ist in einem Gebaude aus dem Jahre 1909 mit Turmchen auf dem Dach untergebracht. An einem der tischtuchbedeckten Tische sitzt ein kraftiger Mann mit wei?em T-Shirt, Glatze und Ohrring. Andrew Collins ist im Alter von sieben bis 14 Jahren von vier verschiedenen Tatern missbraucht worden.

Es waren ein Lehrer, ein Monch, ein Priester und ein Mitglied des Laienordens Christian Brothers. Sie haben ihn unabhangig voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten anal vergewaltigt, mit dem Finger penetriert oder betatscht. Einer seiner Peiniger setzte ihn zudem uber Monate hinweg psychisch unter Druck. „Das war das schwerste Jahr meines Lebens“, sagt Andrew Collins, der heute 47 Jahre alt ist.

„Wie wir heute sehen, arbeiten Padophile zusammen“

Seine Stimme ist sanfter, als man es angesichts seiner Statur erwartet. Jahrelang hatte er seine Geschichte weitgehend fur sich behalten, rebellierte stattdessen gegen die Autoritaten. Nicht einmal seine Eltern hatten ihm geglaubt. „Sie sagten: Unsinn! Ein Mann Gottes wurde so etwas nie tun“, berichtet Collins. Auch ein Lehrer tat seine Anschuldigungen ab. Doch mittlerweile kann er uber seine Erfahrungen reden, auch wenn es weh tut und er danach manchmal tagelang nicht mehr aus dem Bett kommt.

Als ehemaliges Opfer von Missbrauchsfallen ist Andrew Collins heute Sprecher einer der Opfergruppen, die sich in Ballarat zusammengefunden haben.

„Wenn es um Kindesmissbrauch geht, war Ballarat einer der schlimmsten Platze auf der Welt“, sagt Collins. „Es gibt kaum eine Schule hier, an der nicht mindestens ein Padophiler war. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren durfte jedes Kind in Ballarat in irgendeiner Phase einem begegnet sein. So viele waren es. Wer damals nicht missbraucht wurde, der hat Gluck gehabt“, sagt er. Eine Besonderheit sei, dass viele Opfer hier nicht nur von einem Tater angegangen wurden. „In Ballarat wurden die meisten Opfer von mehreren Tatern missbraucht. Manchmal, so wie in meinem Fall, kamen sie sowohl aus der katholischen Kirche als auch von au?erhalb“, sagt der Australier.

Andrew Collins vermutet, dass padophile Priester und Laien untereinander Informationen austauschten. „Wie wir heute sehen, arbeiten Padophile zusammen. Heutzutage tauschen sie sich uber das Internet aus. Fruher trafen sie sich personlich“, sagt Collins. In seiner Selbsthilfegruppe hatten er und die anderen Opfer nach und nach immer mehr Verbindungen zwischen den verschiedenen Tatern in Ballarat entdeckt. Einige, die sich in Schulen, Waisenhausern und kirchlichen Institutionen an Kindern vergangen haben, hatten sogar gezielt um Versetzung nach Ballarat gebeten. „Sie mussen gewusst haben, dass in Ballarat ein Ort war, an dem Menschen ungestraft Kinder missbrauchten“, sagt Collins.

Ausma? des Missbrauchs war erst durch Kommission bekannt geworden

Der Australier ist heute Sprecher einer der Opfergruppen, die sich in Ballarat zusammengefunden haben. Um die Kultur des Schweigens zu brechen, hat er im vergangenen Jahr zum ersten Mal vor der Kommission ausgesagt, die von der Regierung mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfalle in der katholischen Kirche und anderen Institutionen beauftragt wurde. Eine ahnliche Kommission hatte schon in Irland die dortigen Missbrauchsfalle aufgearbeitet.

Die australische Kommission hat schon mehr als 6000 private und viele offentliche Sitzungen mit Opfern abgehalten. Sie ist das Forum, in dem sich Australien der Geschichte des Kindesmissbrauchs im eigenen Land stellt, in Erganzung zu der juristischen Aufarbeitung.

Erst durch die Untersuchungen der Kommission war das ganze Ausma? des Missbrauchsskandals in Ballarat uberhaupt bekanntgeworden. Ihr sei es zu danken, dass sich nun mehr Opfer trauten, aufzustehen und uber den Missbrauch zu sprechen, sagt Collins. International bekanntgeworden ist die Kommission, als sie im Februar dieses Jahres den australischen Kurienkardinal George Pell per Videolink im Vatikan befragte.

Der fruhere Erzbischof George Pell bestreitet, dass er uber Jahre von den Missbrauchsfallen gewusst, aber nicht der Polizei gemeldet hat.

Der fruhere Erzbischof von Sydney und Melbourne stammt aus Ballarat und war dort eine Zeitlang als Priester tatig. Er gehorte einst zu einem Kreis von Geistlichen, die den damaligen Bischof bei der Versetzung auffalliger Priester beraten hatten. Da Pell als Verantwortlicher fur die Finanzen des Heiligen Stuhls und des Vatikans in der katholischen Kirche uber erhebliche Macht verfugt, bekam der Fall mehr Aufmerksamkeit als je zuvor.

Viele Menschen tun sich schwer, das Leid der Opfer anzuerkennen

Pell bestreitet, dass er uber Jahre von den Missbrauchsfallen gewusst, aber nicht der Polizei gemeldet hat. Collins war mit anderen aus seiner Opfergruppe extra nach Rom gereist, um die Anhorung am Ort zu verfolgen. Die Aussagen des Kardinals enttauschten ihn. So sprach Pell nur von einem „katastrophalen Zufall“, der zu der Haufung von Missbrauchsfallen in Ballarat gefuhrt habe. Dennoch sei es eine wichtige Erfahrung gewesen, die Missbrauchsgeschichte an diesem fur die Kirche so wichtigen Ort zu thematisieren.

Auch in Ballarat selbst tun sich immer noch viele Menschen schwer damit, das Leid der Opfer anzuerkennen. Seit seiner Aussage vor der Missbrauchskommission habe seine Familie den Kontakt zu ihm vollstandig abgebrochen, sagt Collins. Sie hatten ihm vorgeworfen, er habe Schande uber sie und die katholische Kirche gebracht. „Sie sind sehr religios“, sagt er.

Die Abwendung seiner Familie ist fur ihn besonders schmerzhaft. Collins hat schon mehrere Therapien hinter sich. Dabei hat er alles andere als die Ausstrahlung eines gebrochenen Mannes. „Ich habe heute Tage, an denen ich alles tun konnte. Aber an manchen Tagen leide ich unter Depressionen. Ich wei?, dass es vorbeigeht, und erlaube mir selbst die Auszeit. Das Problem ist, dass ich nicht vorher wei?, wann solche Tage kommen“, sagt er. Jahrelang habe er sich in Arbeit gesturzt, teilweise habe er zwei Jobs gleichzeitig gehabt. Das war seine Methode, mit der Vergangenheit umzugehen. „Ich war ein Workaholic.“ Bis es eines Tages zum psychischen Zusammenbruch kam.

Bunte Bander sollen dem Schweigen etwas entgegensetzen

Einen Grund fur den schwierigen Umgang mit dem Missbrauch in Ballarat sieht er in der speziellen Atmosphare seiner Heimatstadt. „Ballarat erinnert mich an eine Stadt der funfziger Jahre. Es ist sehr traditionell. Man konnte auch sagen provinziell. Der Sohn eines Polizisten wird auch Polizist und dessen Sohn auch und so weiter“, sagt Collins.

Die Kirche bekomme immer noch eine Menge Respekt und verfuge uber Macht, die sie anderswo vielleicht nicht mehr habe. Und so ist von der Missbrauchsgeschichte auch in den historischen Stadtfuhrungen durch Ballarat keine Rede. Sie wird auch nicht in den Broschuren thematisiert und spiegelt sich nicht in der Pracht der mit Tausenden Baumen gesaumten „Avenue der Helden“, die den Gefallenen des Ersten Weltkriegs gewidmet ist.

Nur ein Zeichen gibt es, das sich an diversen Orten des Missbrauchs findet. Es sind unzahlige bunte Schleifen, die Menschen als Mahnung an die Zaune und Tore katholischer Kirchen, von Schulen und Gemeindeeinrichtungen gebunden haben. Die bunten Bander, die lautlos im Wind flattern, sollen dem Schweigen etwas entgegensetzen. Es werde aber noch viele Jahre dauern, bis sich wirklich etwas andert, glaubt Andrew Collins.

Dutzende fruhere Opfer hatten sich in den vergangenen Jahren das Leben genommen. Auch er hat drei Suizidversuche hinter sich. Die Selbstmordgedanken kehrten wieder, als einer der Tater, die ihn missbraucht haben, vor wenigen Tagen festgenommen wurde. Er soll kommende Woche endlich vor Gericht kommen. Ein anderer seiner vier Peiniger wurde bereits verurteilt, zwei sind gestorben, bevor sie angeklagt werden konnten.

In Goldgraberzeiten habe es kaum Frauen in Ballarat gegeben

Die Suizidgedanken seien eine der langfristigen Auswirkungen des Missbrauchs, der sich tief in die Psyche des Ortes eingebrannt habe, wie Collins glaubt. „Warum hat ein kleines Stadtchen wie Ballarat so hohe Raten an Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Gewalt und Kriminalitat? All die Misshandlungen, die hier stattgefunden haben, haben einen Effekt. All die Selbstmorde, Toten, all das breitet sich langsam in der Gemeinde aus“, sagt er.

Als der Ort noch ein Goldgraberstadtchen war, hatten vor allem Manner in den Minen gearbeitet, Frauen habe es kaum gegeben, sagt Collins. Gewalt war weit verbreitet. Auch sonst sei Ballarat gewisserma?en ein verfluchter Ort. In den Minenschachten unter der Stadt lagen noch die Uberreste vieler ums Leben gekommener Goldsucher. „Man sagt, in Ballarat spukt es“, sagt Andrew Collins.

Diese Dinge haben mit dem Kindesmissbrauch zwar wenig zu tun. Doch dass es sich bei der extremen Haufung von Fallen in Ballarat nur um einen Zufall handeln konnte, ist schwer zu glauben. Auf Antworten werden Andrew Collins und die anderen Opfer aber wohl noch warten mussen, bis die australische Kommission Ende des kommenden Jahres ihren Bericht vorlegt. Fast 300 Menschen aus ganz Australien melden sich jede Woche bei der Kommission. Sie hat Zehntausende Anrufe, E-Mails und Briefe bekommen.

Die Aufmerksamkeit hat dazu gefuhrt, dass selbst gegen den Kurienkardinal Pell mittlerweile Vorwurfe laut wurden. Ein paar Manner behaupten, als Jungen unsittlich von ihm beruhrt worden zu sein. Die Polizei soll Ermittlungen aufgenommen haben. Aber Collins mahnt zur Vorsicht. Bis das Gegenteil erwiesen sei, gelte die Unschuldsvermutung. Auch gegenuber dem Kurienkardinal aus Ballarat.

 

 

 

 

 




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